lausebande-04-2020
kommt, geht die Post im Gehirn beim selbständigen Lesen erst so richtig ab. Welche Entwicklungsimpul- se Lesen verleiht, untersucht die Hirnforschung als recht junge Forschungsdisziplin. Sie lieferte ab Mit- te der 90er Jahre erste Ergebnisse zu den erstaunli- chen Vorgängen beim Lesen im Gehirn. Seitdem ist klar, dass Lesen DER zentrale referentielle Prozess zur Entwicklung des Gehirns ist. Einfach gesagt: Wer früh viel liest, dessen Gehirn wird leistungsfähiger als das von Nichtlesern. Die Prozesse beim Lesen im Gehirn lassen sich wie folgt erklären: Beim Lesen werden optische Reize in Form von Buchstaben von Sinneszellen im Auge in Informationen umgewan- delt, die an Nervenzellen in das Gehirn weitergege- ben werden. Eine moderne Erkenntnis der Hirnfor- schung ist dabei, dass bereits diese Informationen im Gehirn räumlich verteilt werden, also von ver- schiedenen Regionen des Gehirns mit unterschied- lichen Kompetenzen verarbeitet werden. Durch „Zu- sammenarbeit“ dieser räumlich getrennten Kompe- tenzen entsteht dann beim Lesen die Wahrnehmung unterschiedlicher Buchstaben und Wörter. Aber da- mit nicht genug: Lesen integriert darüber hinaus im Gehirn ebenfalls räumlich verteilte Aktivitäten ganz unterschiedlicher Qualität. So laufen Informations- aufnahme, Speicherung und emotionale Bewertung des Gelesenen parallel ab. Lesen integriert dabei die Aktivitäten der linken Gehirnhälfte, die für die abs- trakte Orientierung nach außen, also die Konzentra- tion auf Texte, Informationsaufnahme und Informa- tionsstrukturierung zuständig ist mit den Aktivitä- ten der rechten Gehirnhälfte, die eigene, innere Bil- der erzeugt und die Fantasie bestimmt. Erstere macht aus den Strichen in einem Buch also die Informati- on, dass wir z.B. Peter Pan lesen, während letztere uns im Geist über London und Nimmerland fliegen lässt. Lesen sorgt damit für einen regen Austausch unter diesen lokalen Kompetenzen im Gehirn. Dies bedarf äußerst komplexer Strukturen, die wiederum vor allem durch das Lesen (und die Sprachentwick- lung) beeinflusst werden. „Kindern, die viel lesen, fällt die Schule leicht.“ Eine Erkenntnis, die viele überraschen dürfte: Die notwendigen Strukturen für diese komplexen Vor- gänge sind im kindlichen Gehirn nicht genetisch be- dingt, sondern lediglich ermöglicht. Das bedeutet, dass im Gehirn unzählige netzartige Verbindun- sitz beteiligen sich inzwischen viele Arztpraxen an dem Programm, man findet sie unter www.lesestart. de über die Landkarte im Bereich „Ärzte“ verzeich- net. Seit Herbst 2011 erhalten Eltern einjähriger Kin- der bei den kooperierenden Arztpraxen im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung U6 ein kostenloses Lese- start-Set, das u.a. ein Bilderbuch für einjährige Kin- der, eine Elternbroschüre mit vielen Tipps zum Vor- lesen im Familienalltag und einen kleinen Stoffbeu- tel enthält. Lesestart 2 beinhaltet ein Set, das sich in Kooperation mit Bibliotheken an Eltern dreijähriger Kinder richtet und diese mit dem zentralen Ort des Lesens und Vorlesens zusammenbringt. Lesestart 3 richtet sich an Familien zur Einschulung, das über- reichte Set motiviert Kinder zum Selber-Lesen und Eltern, ihr Kind in der Schlüsselphase des Lesen-Ler- nens besonders zu unterstützen. Die Sets werden bei allen Kinderärzten flächendeckend ausgegeben. Un- sere Empfehlung ist allerdings das Netzwerk Gesun- de Kinder, das die Lesestart-Sets über seine Patin- nen in die Familien bringt und jungen Familien mit vielen Tipps über das Lesen hinaus zur Seite steht. Mehr dazu: www.lesestart.de www.netzwerk-gesunde-kinder.de Vorlesefalle Einschulung Die Studien der Stiftung Lesen belegen einen großen Denkfehler: In vielen Familien gibt es zur Einschu- lung einen deutlichen Abwärts-Knick im Vorlesever- halten. In dem Gefühl, dass sich nun die Schule um die Lese- und Sprachentwicklung der Kinder küm- mert, vernachlässigen viele Eltern ihre Vorlese-Ri- tuale und lesen immer weniger vor. Aber ausgerech- net in diesem Alter, in dem Kinder Schritt für Schritt das Selber-Lesen entdecken, ist das Vorlesen zu Hau- se und das Gespräch mit den Eltern äußerst wich- tig. Eine Studie der Stiftung Lesen ergab, dass nach der Einschulung 33% der Kinder, denen nicht vorge- lesen wird, sich explizit Vorlesestunden wünschen. Nach der Einschulung steigt die Nachfrage der Kin- der nach Vorlesen sogar, aber von den Eltern wird durchschnittlich deutlich weniger vorgelesen! Lesen fördert die Gehirnstruktur Während beim Vorlesen in den ersten Kinderjah- ren vor allem der Interaktion mit den Eltern und der Sprachentwicklung eine besondere Bedeutung zu- » Seite 91 :: Spezial
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