56 › Titelthema Warum ist Artenvielfalt so wichtig? Unsere Natur bildet ein riesiges Artengefüge, in dem jedes Tier und jede Pflanze ein Bindeglied darstellt. Einige Tier- und Pflanzenarten stehen in direkter Verbindung zueinander, während andere eher indirekt voneinander beeinflusst werden. Und einige gelten als sogenannte „Schlüsselarten“, ohne die sich ein gesamtes Ökosystem verändern kann. Ein gutes Beispiel ist der Wolf, um den sich auch in der Lausitz viele Diskussionen drehen. Als Spitze an der Nahrungskette regelt er quasi die Population anderer Wildtiere, die sich ansonsten ungehindert vermehren und ausbreiten können. Pflanzenfresser können durch ungehinderte Vermehrung ganze Landschaften aus dem Gleichgewicht bringen – ein Beispiel lieferte der Yellowstone Nationalpark in den USA, in dem unzählige Versuche der Menschen zur Minderung der Pflanzenfresser scheiterten und erst die Wiederansiedlung von Wölfen das Ökosystem ins Gleichgewicht brachte. Schlüsselarten können andererseits auch sehr klein sein und am Anfang der Nahrungskette stehen. Ohne Insekten sinkt die Population an Vögeln und Kleintieren, deren Zahl sich wiederum auf Beutegreifer und Aasfresser auswirkt. In Weltmeeren ist winziges Plankton ein Ausgangspunkt für mehr oder weniger Artenvielfalt. In begrenzten Ökosystemen induziert das Verschwinden einer Art den Rückgang oder das Verschwinden teils vieler Arten. Der Wisent ist auch hier ein gutes Beispiel: Als großer Pflanzenfresser stutzt er in Wiesen- und Heidelandschaften Gräser, Kräuter und Sträucher und vertilgt so 30 bis 60 Kilogramm Pflanzenmasse pro Tag. Das Grün wächst umso dichter nach, er verbreitet Pollen und Samen unterschiedlichster Pflanzen in seinem zotteligen Fell und sorgt somit für deren Verbreitung – und erhält offene Landschaften, die für die Biodiversität unverzichtbar sind. Auch in Wäldern führt das Anknabbern von Trieben und Co. zu lichten Stellen, die Bodenpflanzen gute Bedingungen zum Gedeihen bieten und dadurch Nahrung und Lebensraum für viele Arten erzeugen. Der offene Lebensraum, den ein Wisent gestaltet, ist ein Schauplatz für ein erstaunlich wildes Treiben. Insekten und Kleintiere bis hin zu Hasen und Rehen leben vom schmackhaften Grün. In Tümpeln und Sandböden, die der Wisent mit seinen Schlamm- und Sandbädern erhält, machen es sich Urzeitkrebse und Wildbienen gemütlich. Die wohl größte Artenvielfalt spielt sich an einem sehr unerwarteten Ort ab – nämlich im Kot des Wisents. Insgesamt wurden bereits 35 verschiedene Dungkäfer-Arten in Wisentkot nachgewiesen, die sich in so manchem Haufen mit zu bis zu 9.000 Käfern zusammenfinden, Nahrung für andere Arten bilden und gleichzeitig den Dung zersetzen und wertvollen Humusboden schaffen. Treibt man dieses kleine Gedankenspiel immer weiter, landet man bei den unterschiedlichsten kleinen und großen Tieren sowie Pflanzen an Land, in der Luft und unter Wasser, denn irgendwie sind eben alle Arten auf unserem Planeten miteinander verbunden. Mit jeder ausgestorbenen Art – egal ob Tier oder Pflanze – verliert unsere Natur damit nicht nur an Vielfalt, sondern auch immer einen Baustein, der sie intakt hält. Doch inwiefern betrifft das uns Menschen? Auch wenn wir uns gerade im städtischen Raum immer weniger mit der Natur verbunden fühlen, ist sie in unserem Alltag doch immer präsent – auf unserem Esstisch, in unserem Medizinschränkchen und selbst in der Luft, die wir einatmen. Sauberes Wasser und frische Luft, Heilkräuter, unsere Nahrung und viele weitere, lebensnotwendige Rohstoffe beziehen wir aus der Natur. Dass wir uns auf all diese Ressourcen auch in Zukunft verlassen können, bedeutet jedoch, dass die Natur in einem intakten Zustand erhalten werden muss. Wie beim Klimawandel Kipppunkte befürchtet werden, ab denen bestimmte negative Entwicklungen sich selbst verstärken und unumkehrbar sind, kann auch der Artenschwund zu ähnlichen Entwicklungen führen, an deren Ende LebensBis zu 9.000 Dungkäfer tummeln sich in einem einzigen Kothaufen des Wisents und zersetzen ihn zu wertvollem Humusboden. Foto: Ingolf Koenig-Jablonski, Sielmann Stiftung
RkJQdWJsaXNoZXIy MTcxMjA2