lausebande-09-2024

Titelthema ‹ 59 Längeres gemeinsames Lernen schafft mehr Gerechtigkeit Es ist ein wirklich dickes Brett, das zu bohren sich keiner wagt: Kinder in Deutschland sollten nicht schon nach der Grundschule getrennt werden. Was dafür spricht und warum einige Eltern trotzdem dagegen sind, erläutert der Bildungs- und Sozialforscher Prof. Dr. Marcel Helbig vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe. Die Erkenntnis, dass Bildungserfolg in Deutschland stark vom Elternhaus abhängt, ist nicht neu, sondern wird seit mehr als 20 Jahren immer wieder durch Studien belegt. Wenn das Problem bekannt ist, warum hat man trotzdem das Gefühl, dass sich nichts ändert? Es ist leider nicht nur so, dass sich im System relativ wenig ändert, sondern es gibt zudem eher noch Fehlentwicklungen, durch diese Ungleichheiten weiter verstärkt werden. Nehmen wir das Beispiel Lehrkräftemangel: Wo fehlen denn besonders viele? An den Oberschulen und in Schulen in sozial schwieriger Lage. Dort ist auch der Anteil an Seiteneinsteigern besonders hoch. Wenn wir auf die Studienanfängerzahlen schauen, dann wird sich das Problem in den nächsten Jahren noch verstärken. Gerade im Bereich der nichtgymnasialen Schulen ist die Zahl der Studienanfänger besonders gering. Es ist keine Sternstunde der Kultusministerkonferenz, dass es nicht schon vor Jahren gelungen ist, eine gemeinsame Lehrerbildungsinitiative zu starten. Im Gegenteil: Jetzt starten mehrere Bundesländer ihre eigenen Imagekampagnen zur Lehrkräftegewinnung, um Lehrkräfte aus anderen Bundesländern für sich zu gewinnen. Ein zweites großes Problem ist die lückenhafte Datenlage: Wir wissen teilweise viel zu wenig über Schulen. Das liegt an fehlenden Daten und an der fehlenden Transparenz. Nehmen wir die jüngste IQB-Bildungsstudie: Wir wissen nicht, ob der festgestellte Kompetenzrückgang alle Schulen und Regionen betrifft oder nur solche in ländlichen Räumen oder nur solche in Problemvierteln oder solche, wo der Lehrkräftemangel besonders stark ist. Ich kann also aus den Daten keine strukturellen Schlüsse ziehen. Vielleicht ist das auch von der Politik nicht gewollt, weil das Schwachstellen im System aufzeigen würde. Müssen wir vielleicht schon vor der Einschulung ansetzen, also in der frühkindlichen Bildung? Die Studien zeigen in der Tat: Das Kind ist schon beim Schuleingang in den Brunnen gefallen. Die Schere bei den Kompetenzen der Kinder ist schon in der 1. Klasse weitgehend geöffnet. Es gibt Kinder, die können zum Beginn der ersten Klasse schon ein wenig rechnen und schreiben, andere kennen weder Zahlen noch Buchstaben. Danach scheinen es die Schulen zumindest zu schaffen, dass sich die Schere nicht weiter öffnet. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Stellschrauben, um die Chancengerechtigkeit in Deutschland zu verbessern? Da die Unterschiede schon vor der Schule beginnen, braucht es einen qualitativen Ausbau der frühkindlichen Bildung. Die Betreuungsquoten bei Kindern ab drei Jahren sind mittlerweile recht hoch – auch in den westdeutschen Bundesländern. Aber wenn wir genau schauen, welche Kinder trotzdem nicht die Kita besuchen, dann sind es oft diejenigen, denen ein Kitabesuch gerade guttun würde. Es geht also um vergleichsweise wenig Kinder, aber die sind besonders benachteiligt. Hier könnte ein verpflichtender Kitabesuch, beispielsweise ab drei Jahren, helfen. Was empfehlen Sie den Schulen? An den Grundschulen fällt auf, dass bei gleichen Kompetenzen Kinder aus unteren Schichten schlechter benotet werden. Wir wissen noch nicht abschließend, woran das liegt. Mögliche Ursachen sind Leistungsanforderungen wie Referate oder Buchvorstellungen, für die es die

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