Titelthema :: Seite 13
Eltern sagen zwar übereinstimmend, dass ihnen
Erlebnisse an frischer Luft für ihre Kinder wichtig
sind, nur handeln immer weniger danach. Die fol-
genden Seiten liefern Motivation und verschiede-
ne Argumente, das Rad der Zeit mal wieder etwas
zurück zu drehen: Raus in den Matsch mit euch,
lasst die Kinder wieder unbehelligt toben, sich aus-
probieren, vollmoddern, ihren eigenen Weg in der
Natur gehen!
Natur und Bewegung:
Von Purzelbäumen und Baumvölkern
Heute haben immer mehr Kinder Probleme mit
Purzelbäumen – einen vernünftigen Radschlag
oder Handstand beherrschen inzwischen die we-
nigsten, in Kindergärten tut sich unser Nachwuchs
manchmal schon beim Armkreisen schwer. Statt
vor Energie zu strotzen, werden immer mehr Kin-
der zu Stubenhockern. Sind wir früher in und mit
der Natur groß geworden, fndet die Sozialisierung
der Kinder heute immer mehr in geschlossenen
Räumen statt, in einem Universum aus Playstati-
on, Yu-Gi-Oh! und dauerfimmernder Mattscheibe.
Besonders ehrgeizige Eltern planen die Freizeit
zwischen Musikunterricht, Kreativkursen und un-
zähligen Unternehmungen in vermeintlich tollen
Familienausfügen. Einfach nur ausgelassen toben
kommt im Leben der Kinder immer seltener vor.
Studien haben bewiesen, dass bei vielen Kin-
dern grundlegende motorische Fähigkeiten durch
das fehlende Spielen im Freien deutlich schlechter
ausgeprägt sind als bei früheren Generationen. So
trägt das Buddeln im Sand, das Graben nach Schät-
zen im Modder zur Beweglichkeit und besseren Ko-
ordination des Körpers bei. Das Klettern auf Bäume
lässt Kinder nicht nur ihre Grenzen ausloten, sie
erhalten Selbstbewusstsein, erlangen ein Körper-
gefühl. Neben Körpergefühl entwickeln Kinder
eine Intuition, lernen Situationen, Gefahren und
Chancen einzuschätzen. Etwas allein zu bewälti-
gen, bringt Erfolgserlebnisse, die für die kindliche
Psyche und die gesamte Entwicklung prägend sind.
Auch Misserfolge oder der Erfolg erst nach vielen
Versuchen, all das sind wesentliche Bestandteile
der Entwicklung eines Menschen, die heutigen
Als kleines Kind erlebte ich im geheimnis-
vollen „Draußen“ die ersten Abenteuer,
die mir nachhaltig in Erinnerung blie-
ben. Mit Kescher und Eimer gingen wir Knirpse
am sumpfgen Graben auf Jagd nach Stichlingen
und Kaulquappen, stromerten in den Gartenan-
lagen am Stadtrand herum, betreuten auf Wiesen
Schnecken-Familien und siedelten in deren Nach-
barschaft eine Regenwurm-Farm an, radelten in
späteren Jahren zu den Eisenbahngleisen, wo wir
auf nebenstehende Bäume kletterten, während
Züge unter unserem tosenden Beifall unser Klein-
geld platt fuhren. Ab und zu ging es sogar zur „ver-
botenen“ Müllkippe, auf die Suche nach verborge-
nen Schätzen. Erst wenn es dunkel wurde, ging es
nach Hause, nicht selten mit schmutzgezeichneten
Landkarten unserer Unternehmungen auf den Sa-
chen. Erfahrungen, die wir allein oder mit gleich-
gesinnten Abenteurern aus dem „kleinen Volk“
sammeln durften – von elterlichem Schutzwahn
keine Spur.
Heute wirkt das wie ein Blick in eine längst
vergangene Zeit. Viele Eltern lassen ihren Kindern
kaum noch freien Lauf in der Natur, unsere natür-
lichen Schutzinstinkte sind immer mehr zu einer
allumfassenden Abwehr eventuell vorstellbarer
Gefahren ausgewachsen. Natürlich haben auch In-
frastruktur und Verkehr unseren Lebensraum um-
gekrempelt, kaum ein verwildertes, frei zugängli-
ches Grundstück fndet sich in Stadträumen, selbst
in abgelegenen Orten knattern tiefergelegte Autos
über schmale Straßen. Neben elterlicher Fürsorge
ist es in den meisten Familien aber die bloße Faul-
heit der Eltern, die Unternehmungen in der Natur
kaum noch eine Rolle zukommen lässt. Immer
mehr Kinder werden fettleibiger, verlieren sogar
grundlegende motorische Fähigkeiten, büßen an
sozialen Kompetenzen ein und neigen verstärkt zu
Krankheitsbildern unserer „Drinnen“-Gesellschaft.
Wir haben in großem Maß das Bewusstsein für das
Bündnis von Kindern und Natur verloren. Viele
Redaktion: Jens Taschenberger (zwei helden) / Fotografe: Harry Müller und Ben Peters (codiarts)
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Erfahrungen, die wir allein
sammeln durften – von elterlichem
Schutzwahn keine Spur.