Foto: Klaus Schwarten
„Die Schulen sind für die Digitalisierung nicht hinreichend vorbereitet“
Für eine stärkere Digitalisierung der Bildung braucht es mehr Offenheit von Eltern und Lehrern, sagt Prof. Dr. Michael Kerres, Professor für Mediendidaktik. Er leitet das Learning Lab der Universität Duisburg-Essen, das Innovationen für die Digitalisierung der Bildung erprobt und erforscht. Im Interview erklärt, warum Deutschland beim Thema international hinterherhinkt und warum Digitalisierung kein Allheilmittel ist.
Im Dezember sind die Schulen zum zweiten Mal geschlossen worden. Wie ist Ihr Eindruck? Sind Schüler, Eltern und Lehrer dieses Mal besser auf den Fernunterricht eingestellt?
Ich habe nicht den Eindruck, dass es innerhalb der kurzen Zeit zu tatsächlich grundlegenden Veränderungen gekommen ist. Wir müssen bedenken: Hier geht es nicht einfach um Geld und um die Beschaffung von Technik. Es geht vielmehr um die Erprobung und Entwicklung neuer Handlungsroutinen im pädagogischen Alltag, das dauert.
Man hat den Eindruck, dass digitales Lernen an vielen Schulen nur während der Schließungen eine Rolle spielt – täuscht der Eindruck?
Das Bild ist sehr uneinheitlich, es gibt sehr wohl Lehrkräfte und Schulen, die sich in dem Thema sehr engagieren. Die systematischen Bemühungen auf Landesebene sind allerdings tatsächlich nicht immer überzeugend und hinreichend gewesen.
Wo steht Deutschland beim Thema digitale Medienkompetenz von der Kita bis zum Schulabschluss im internationalen Vergleich?
Auch vor Corona war bekannt: Deutschland gehört im internationalen Vergleich der Industrieländer weltweit zu den Schlusslichtern der Digitalisierung im Schulbereich. Variablen sind dabei etwa: Anteil der Lehrkräfte mit einer dienstlichen E-Mail-Adresse oder Anteil der Schulen, die schulweit eine offiziell bereitgestellte Plattform nutzen und schließlich Anzahl der Stunden mit einer zugelassenen Software für Videokonferenzen. Überall zeigt sich ein klares Bild, dass die Schulen nicht hinreichend vorbereitet waren für die Digitalisierung.
Woran liegt es, dass Deutschland nicht besser dasteht?
In Deutschland ist die Skepsis gegenüber der Digitaltechnik in der Bildung und anderen Bereichen des öffentlichen Lebens tief verankert, da kommen Bedenken von Lehrenden oder Eltern zusammen und führen dazu, dass das Thema dann praktisch nicht vorwärtskommt. Dabei ist das Digitale keineswegs immer gut oder immer die bessere Lösung – alleine, wir müssen es in der Praxis erproben, um hierzu klarere Antworten zu erhalten.
Welche Rolle spielt der Föderalismus – ist er eher hinderlich oder förderlich?
Ich sehe das weder positiv noch negativ: Es wäre ja nicht falsch, wenn unterschiedliche Wege in den Ländern ausprobiert werden und man die besten Lösungen im Unterricht dann länderübergreifend nutzt.
Welche Lösungen sieht die Wissenschaft für mehr digitale Medienkompetenz in Bildungseinrichtungen?
Der beste Weg erscheint mir, mehr experimentell mit digitalen Medien im Unterricht Dinge zu erproben, und dabei mit Schülern und Eltern zu sprechen, was gut funktioniert, wo Grenzen sind, was weniger zielführend ist. Erproben, Erfahrungen machen, darüber sprechen.
Genau das erforschen Sie am Learning Lab. Gibt es bereits erste Erkenntnisse, welche Potenziale die Digitalisierung für Lehre und Lernen an der Schule bietet? Gibt es Methoden/ Konzepte/ Werkzeuge, die besonders geeignet sind?
Ja, dazu liegen mittlerweile umfangreiche Erkenntnisse vor. Digitale Medien sind ja nicht nur Übermittler von Informationen, wie das Schulbuch, sondern sie ermöglichen das aktive Umgehen und Bearbeiten von Informationen, auch mit anderen zusammen. Digitale Medien werden dann zu Werkzeugen, die bei der Auseinandersetzung mit den Inhalten beitragen können. Je nach Fach kann das ganz unterschiedlich aussehen, aber für alle Fächer gibt es spannende Ansätze.
Deutschland hat den Digitalpakt auf den Weg gebracht, die technische Ausstattung der Schulen hat sich dadurch deutlich verbessert. Reicht das?
Die Geräte alleine ändern noch nicht das Lehren und Lernen. Hier wird noch einige Zeit vergehen, bis die sinnvolle Integration in Unterricht erfolgen wird.
Wo sollte digitale Bildung und die Vermittlung von Medienkompetenz aus wissenschaftlicher Sicht ansetzen? Bereits in der Kita, spätestens in der Grundschule oder erst ab der weiterführenden Schule?
Die Antwort darauf gibt das Leben und nicht die Wissenschaft: Also dort, wo die digitalen Medien von den Menschen im Alltag genutzt werden, dort sollten wir auch über die Medien-Inhalte, die Werkzeuge und ihre Bedeutung für uns sprechen. Ehrlich gesagt wird der Begriff „digitale Bildung“ in der Wissenschaft stark problematisiert. Es gibt ja auch keine analoge Bildung. Es gibt auch keine Buchkompetenz. Es gibt einzig und alleine Bildung: Die Welt verstehen, die eigene Persönlichkeit entwickeln und sich mit anderen zu verständigen – diese klassischen Ziele von Bildung gilt es „einfach“ mit den neuen Mitteln umzusetzen. Hier kommen also durchaus sehr traditionelle Werte zum Tragen. Insofern ist der Schritt im Hinblick auf die inhaltlichen Forderungen an die Bildung vielleicht weniger revolutionär als man von der Technik her denken könnte.
Was können Eltern für mehr digitale Medienkompetenz ihrer Kinder tun, wie können sie mögliche Defizite in der schulischen Bildung ausgleichen?
Das wichtigste ist neugierig zu sein, was die eigenen Kinder da eigentlich so tun im Internet. Sich zum Beispiel zeigen lassen, wie das Lieblingsspiel funktioniert. Dazu gehört aber auch, die eigenen Sorgen zu äußern und darüber ins Gespräch zu kommen. Am Ende würde ich sagen: Eigentlich müssen Eltern nichts besonderes tun, man könnte es auch „erziehen“ nennen.