„Viele Kinder bedeuten Herausforderung, aber auch Sinnstiftung“
Interview mit Dr. Elisabeth Müller, Vorsitzende des Verbandes kinderreicher Familien in Deutschland. Sie ist selbst mit vier Geschwistern aufgewachsen und heute Mutter von sechs Kindern im Alter von 11 bis 20 Jahren.
Der Verband kinderreicher Familien Deutschland e.V. ist im Jahr 2011 aus der Initiative engagierter kinderreicher Familien entstanden, vertritt 1,2 Millionen kinderreicher Familien in Deutschland und setzt sich in Politik, Wirtschaft und Medien für ihre Interessen ein. Der Verband versteht sich als Netzwerk von Mehrkindfamilien, die sich untereinander unterstützen und die Öffentlichkeit für ihre Anliegen erreichen wollen. Der Verband ist konfessionell ungebunden und überparteilich. Für die Mitgliedschaft erheben wir einen freiwilligen Mitgliedsbeitrag. Weitere Informationen unter: www.kinderreichefamilien.de
In Deutschland entscheiden sich nur wenige Familien für drei oder mehr Kinder. Woran liegt das?
Das hat viele Gründe. Finanzielle Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie eine fehlende Wertschätzung von Familien gerade mit vielen Kindern. Oft finden Paare einen Lebensentwurf mit vielen Kindern nicht so reizvoll, weil sie natürlich auch auf manches verzichten müssen. Uns als Verband kommt es aber gerade darauf an zu zeigen, wie schön und erfüllend, wie „reich“ der Alltag von kinderreichen Familien ist.
In anderen Ländern wie Schweden oder Frankreich scheinen kinderreiche Familien mehr verbreitet – was machen diese Länder anders?
In diesen Ländern erfahren Großfamilien eine ganz andere Wertschätzung. Sie werden dort nicht schief angesehen, sondern sind angesehen. Das zeigt sich schon im Alltag: Kinder haben freien Eintritt in Museen, sind in Restaurants gern gesehen. Auch in finanzieller Hinsicht kann man dort von einer Mehrkindpolitik sprechen. Großfamilien werden in Frankreich durch steuerliche Erleichterungen finanziell stärker entlastet als bei uns.
Was kann die Politik, die Wirtschaft, die Gesellschaft tun, damit Deutschland (groß)familienfreundlicher wird?
Ab dem dritten Kind steigen die Kosten für Familien deutlich. Meist braucht es ein größeres Auto, mehr Wohnraum. Die Mehrwertsteuer trifft vor allem große Familien. Die Politik muss die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen, damit sich dennoch mehr Familien für mehr als zwei Kinder entscheiden. Wir fordern höheres Kindergeld, den Einbau eines Kinderfaktors in die Rentenversicherung und ein Familiensplitting als Erweiterung des Ehegattensplittings in Form einer deutlichen Erhöhung des Steuerfreibetrags für Kinder, gestaffelt nach Kinderzahl. Jedes vierte Kind stammt aus einer kinderreichen Familie, sie finanzieren die künftige Rente, das wird aber bisher nicht ausreichend gewürdigt. Daher unterstützen wir auch die Initiative elternklagen.de, bei der Eltern derzeit dafür klagen, dass bei den Sozialabgaben auch ihre Erziehungsleistung anerkannt wird. Von der Wirtschaft wünschen wir uns mehr familienfreundliche Arbeitgeber, denn auch sie profitieren von zufriedenen Mitarbeitern. Neben der Politik und der Wirtschaft ist ganz entscheidend, dass wir die gesamte Gesellschaft mit ins Boot holen. Großfamilien sollten nicht als Sonderlinge abgetan, sondern in die Gesellschaft integriert werden.
Kinderreiche Familien haben ein schlechtes Image, gelten als bildungsfern, verantwortungslos, arbeitslos. Entspricht dieses Bild der Realität? Gibt es die typische kinderreiche Familie?
Nein, die gibt es eben nicht. Jede Großfamilie ist so individuell wie jede andere Familie auch. Das Bild von der Unterschichtfamilie stimmt so auch nicht: 83 Prozent der Mehrkindfamilien bestreiten ihr Einkommen selbst. Gleichwohl lebt jede vierte kinderreiche Familie im Armutsrisiko.
Muss man sich viele Kinder leisten können? Ist Kinderreichtum eine Geldfrage?
In der Tat belegen Statistiken und Umfragen, dass Eltern häufig aus finanziellen Gründen auf ein drittes oder viertes Kind verzichten. Neben den steigenden Kosten, fällt ab dem dritten Kind meist auch ein Einkommen für längere Zeit deutlich kleiner aus oder ganz weg. Das traut sich nicht jede Familie zu.
Was sind darüber hinaus die größten Schwierigkeiten für kinderreiche Familien hierzulande?
Neben finanziellen Aspekten beklagen diese Familien die fehlende Infrastruktur. Das fängt bei großen, bezahlbaren Wohnungen an und geht weiter bei Familienkarten für Museen oder Schwimmbäder, die nur zwei Kinder berücksichtigen. Insofern ist die fehlende gesellschaftliche Anerkennung des Lebensmodells „drei-plus“ die zweite große Hürde. Ich höre oft von Müttern aus unserem Verband, die ab der dritten Schwangerschaft gefragt werden, ob das geplant gewesen sei oder gar ob sie das Kind wirklich bekommen wollen. An dieser Stelle brauchen wir einen gesamtgesellschaftlichen Bewußtseinswandel.
Welchen Einfluss hat Kinderreichtum auf die Partnerschaft und welchen auf die Geschwister?
Wir wissen, dass Partnerschaften in kinderreichen Familien langfristig stabiler sind. Viele Kinder bedeuten für die Eltern Herausforderung aber zugleich auch Sinnstiftung. Was schwer, aber wichtig ist: Dass sich die Eltern Zeit nehmen, ihre Partnerschaft zu pflegen. Kinder mit vielen Geschwistern werden früher selbständig, sie entwickeln soziale Kompetenzen. Sie haben immer einen Spielpartner, sie stützen sich gegenseitig, fordern sich aber auch heraus, reiben sich aneinander. Geschwister prägen ein Leben lang.
Ihr persönliches Plädoyer: Warum sollten trotz aller Schwierigkeiten mehr Familien den Mut haben, sich für ein drittes oder viertes Kind zu entscheiden?
Ich habe die Mehrkindfamilie selbst erlebt – als Kind und jetzt als Mutter. Ich habe das stets als großen Schatz empfunden. Für mich sind Kinder Zukunft und Lebenssinn. 26 Prozent der 20 bis 30-Jährigen wünschen sich mehr als zwei Kinder. Aber nur ein Teil setzt diesen Wunsch tatsächlich um. Ich würde mir wünschen, dass mehr Eltern den Mut für das dritte und vierte Kind aufbringen. Nichtsdestotrotz muss jede Familien ihren individuellen Lebensentwurf finden, der zu ihr passt – ob nun mit einem Kind oder mit sieben.
Ihr Verband hat sich 2011 gegründet, ist also noch recht jung. Was konnten Sie in dieser Zeit erreichen? Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?
Wir sind mit zehn Familien gestartet und haben heute 17.000 Mitglieder, also Mütter, Väter, Kinder. Wir sind enorm gewachsen, haben 16 Landesverbände gegründet und uns untereinander aber auch mit Politik und Wirtschaft vernetzt. Wir konnten viele wichtige Projekte umsetzen und Initiativen anstoßen. Dazu gehören z.B. das FairFamiliy-Siegel, mit dem wir Unternehmen für besonders familienfreundliche Produkte und Dienstleistungen auszeichnen.. Zudem wurden kürzlich in die neue Landesbauordnung von Rheinland-Pfalz die Interessen kinderreicher Familien für große Wohnungen mit aufgenommen – auf unsere Initiative hin. Für die Zukunft planen wir den 2. Familienkongress, dieses Mal in Köln. Wir starten eine neue Initiative zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Und wir fordern die Öffnung des Bundesfreiwilligendienstes für kinderreiche Familien.
Warum sollten kinderreiche Familien Ihrem Verband beitreten? Was haben sie davon?
Wir fördern und vertreten die Belange dieser Familien. Wir bieten ihnen ein breites Netzwerk an, in dem sie sich austauschen und beraten lassen können. Über das familie3plus-Programm bieten Partnerfirmen exklusive Vergünstigen und Rabatte für Verbandsmitglieder an.