Viele Mütter gehen weit über die Grenzen ihrer Belastbarkeit
Das Müttergenesungswerk setzt sich seit 1950 für die Gesunderhaltung von Müttern ein und berät jährlich tausende Frauen zu Kurmaßnahmen. Wir sprachen mit Geschäftsführerin Anne Schilling darüber, warum Mütter eine Kur erst beantragen, wenn es schon fast zu spät ist und wie es ihnen gelingen kann, wieder mehr auf sich selbst achtzugeben.
Aus Ihrer Erfahrung – was sind die häufigsten Gründe, warum Mütter eine Mutter-Kind-Kur beantragen?
Von den etwa 50.000 Frauen, die über eine Klinik im Müttergenesungswerkes eine Kur machen, leiden mehr als 80 Prozent an Erschöpfungszuständen bis zum Burnout, d.h. an Schlafstörung, depressiver Verstimmung, Rückenschmerzen, Unruhe, Gereiztheit. Wenn eine Mutter das Gefühl hat: ,Ich kann nicht mehr.‘ Wenn sie mit dem vierten Infekt in diesem Jahr kämpft oder nachts nicht mehr durchschlafen kann, dann empfehlen wir dringend, über eine Kur nachzudenken und über eine kostenfreie Beratung in einer unserer rund 1.300 Beratungsstellen im MGW-Verbund.
Nun klingt es aber eher so, dass die Frauen meist erst über eine Kur nachdenken, wenn es schon fast zu spät ist…
Der Gesundheitszustand der Mütter zeigt eindeutig, dass Mütter relativ spät Hilfe suchen. Sie versuchen möglichst lange zu funktionieren, stellen die Bedürfnisse der Kinder bzw. der Familie und Umfeld über ihre eigenen Bedürfnisse. Ihre eigene Erschöpfung, den Gedanken an eine Kur, gestehen sie sich spät ein. Oft brechen Mütter, die in die Beratung kommen, in Tränen aus, wenn sie gefragt werden, wie es ihnen geht. Das zeigt, dass sie weit über ihre Grenzen gegangen sind.
Wie ließe sich erreichen, dass die Frauen eher Hilfe in Anspruch nehmen?
Das wichtigste ist sicher Aufklärung und Information. Viele Frauen wissen, dass es Mutter-Kind-Kuren gibt, sehr viel weniger wissen, dass es auch reine Mütter-Kuren ohne Kind gibt. Oft glauben die Frauen auch, sie hätten nur bei einer schweren Erkrankung wie Krebs oder bei einem Bandscheibenvorfall Anspruch auf eine Kur. Das stimmt aber nicht, Kuren für Mütter sind in der Mehrzahl Vorsorgemaßnahmen.
Eine solche Kur dauert in der Regel drei Wochen – reicht das aus, um die Probleme zu kurieren, die sich vielleicht über Jahre angesammelt haben?
Das reicht natürlich nicht aus. Allerdings sind die Kurmaßnahmen im MGW ganzheitlich angelegt. Es geht nicht nur um die Rückenschmerzen oder Kopfschmerzen, sondern auch um die Lebenssituation als Mutter. Die Kuren sind dreidimensional: Medizinische Anwendungen gehören dazu, aber auch physiotherapeutische Angebote und psychosoziale Therapien. Eine Kur ist auch Hilfe zur Selbsthilfe. Sie soll die Kraftreserven der Mütter freilegen. Die Mütter gehen mit vielen Impulsen nach Hause. Bei der Umsetzung in den Alltag unterstützen auch die Beratungsstellen im MGW-Verbund. Das ist unsere „Therapeutische Kette“.
Was können Mütter denn konkret tun, um nach der Heimreise noch möglichst lange von der Kur zu profitieren?
Das wichtigste ist, dass die Mütter nach der Kur sorgsamer mit sich selbst umgehen. Sie können nur dann stark sein, wenn sie die Fürsorge für sich selbst stärken. Für viele Frauen verändern die drei Wochen in der Kur den Blick auf die eigene Situation und Gesundheit. Ein Beispiel: Alle Mütter wissen, dass es anderen Mütter genauso geht wie ihnen. Aber erst wenn sie sich und die anderen während der Kur gemeinsam erleben und sich austauschen, glauben sie es auch. Das und die Therapien helfen ihnen, die eigene Messlatte zu verändern. Es gibt viele Stellschrauben, an denen sie danach drehen können. Das kann ein freier Abend pro Woche sein, das kann eine neue Arbeitsteilung innerhalb der Familie sein. Darüber hinaus bieten wir Nachsorge am Wohnort an, das fängt mit einem Beratungsgespräch an, kann aber auch die Vermittlung in eine Selbsthilfegruppe oder einen Sportkurs sein.
Gibt es klassische Mütter, die eine Mutter-Kind-Kur in Anspruch nehmen?
Nein, grundsätzlich kommen Mütter aus allen sozialen Schichten zu Kurmaßnahmen, insofern spiegeln wir die Gesellschaft wider. Denn die Belastungen im Alltag sind bei allen gleich, unabhängig von der persönlichen Situation. Gleichwohl sind Alleinerziehende und Mütter von drei oder mehr Kindern überproportional häufig vertreten.
Haben Sie allgemeine Empfehlungen, wann man eher mit Kind und wann eher ohne Kind zur Kur fahren sollte oder lässt sich das nicht pauschal sagen?
Das hängt sehr von der individuellen Situation, der Gesundheit und den Wünschen der Mütter ab. Wir ermutigen Frauen sich zu überlegen: Was würde mir wirklich gut tun? Eine Mütterkur ohne Kind oder eine Mutter-Kind-Kur? Frauen haben teilweise das Gefühl, sich rechtfertigen müssen, wenn sie ohne Kinder zur Kur fahren, vor allem wenn diese noch kleiner sind. Mutter-Kind-Kuren sind gesellschaftlich und im persönlichen Umfeld leichter umzusetzen. Sie machen auch über 90 Prozent der Kuren aus. Wir wissen, dass es manchmal einfach an der Frage scheitert, wer sich in dieser Zeit um die Kinder kümmert. Aber auch dazu suchen unsere Beratungsstellen mit den Müttern gemeinsam nach Lösungen.
Die Ablehnungsquote lag 2015 bei elf Prozent – welche Möglichkeiten haben Mütter, wenn ihre Kur abgelehnt wird?
Wie hoch sind die Erfolgsaussichten bei einem Widerspruch? Elf Prozent sind eine gute Quote. Vor fünf Jahren lag diese Zahl noch bei 35 Prozent. Gleichwohl sind die elf Prozent immer noch zu hoch: Wir raten den Müttern dringend, bei einer Ablehnung in Widerspruch zu gehen. Die Erfolgsquote bei einem Widerspruch liegt bei etwa 60 Prozent. Das heißt zugleich, dass von den Krankenkassen über zu viele Anträge falsch entschieden wird.
Gibt es vergleichbare Angebote wie die Mutter-Kind-Kur auch in anderen Staaten?
Nein, Mutter-Kind-Kuren und Mütterkuren gibt es in dieser Form, mit dem gesetzlichen Anspruch und der Finanzierung nur in Deutschland. Das finden Sie nirgendwo sonst auf der Welt und darum beneiden uns viele Nachbarn auch. Das macht uns natürlich auch ein wenig stolz, denn das ist vor allem der Arbeit des Müttergenesungswerks zu verdanken.
Das Müttergenesungswerk gibt es seit 1950 – wie haben sich Ihre Arbeit in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
1950 hatten Mütter keinen Anspruch auf Kurmaßnahmen – deshalb wurde die Stiftung mit dem Ziel Gesundheit von Müttern von Elly Heuss-Knapp gegründet. Belastungen von Müttern gab es bereits 1950 und die gibt es heute. Aber die Art der Belastungen, die Rolle und das Bild der Frau haben sich weiterentwickelt. Die Gleichberechtigung der Frauen hat vieles verändert, aber die Erwartungen und Ansprüche an Mütter sind kontinuierlich gestiegen und damit auch die Belastungen. Aber es gibt auch Erfolge: Das Müttergenesungswerk hat 40 Jahre dafür gekämpft, dass es in Deutschland einen gesetzlichen Anspruch auf Kuren für Mütter gibt: 1989 wurde dieser Anspruch ins Sozialgesetzbuch geschrieben und 2002 auf Väter ausgeweitet.
Sie haben viel erreicht, welche Wünsche haben Sie für die Zukunft?
Für Mütter wünschen wir uns mehr Gleichberechtigung in den Familien. Das Bild des neuen aktiven Vaters ist in der Gesellschaft angekommen, aber noch nicht, dass dazu z.B. auch gleichberechtigte Hausarbeit gehört. Wir brauchen aber auch noch mehr Unterstützung für Mütter – von allen Seiten. Das Müttergenesungswerk als gemeinnützige Stiftung wird sich weiterhin politisch und öffentlich für die Gesundheit von Müttern einsetzen – und auch für Väter und für pflegende Angehörige, die nun ebenfalls Kurmaßnahmen im MGW in Anspruch nehmen können.