"Kitas sollten eine Süßigkeiten-freie Zone sein"
Kinder lieben Süßes – das weiß auch die Ernährungswissenschaftlerin Dr. Karin Bergmann. Sie ist Direktorin für Wissenschaft und Zukunftsstrategien bei der Stiftung Kindergesundheit, die an der Dr. von Haunerschen Kinderklinik in München angesiedelt ist. Was Kitas, Eltern und Politik für eine gesündere Ernährung unserer Kinder tun können, verrät sie im Interview.
Der Zuckerkonsum von Kindern aber auch Erwachsenen liegt häufig über den offiziellen Empfehlungen. Mit welchen Folgen? Die zu hohe Zuckerzufuhr ist ein Risikofaktor für Übergewicht und Adipositas. Eine zu hohe Zuckeraufnahme führt in Kombination mit anderen Lebensstil-Fehlern zu einem deutlich erhöhten Risiko für die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Kinder- und Jugendmedizin kann heute viele Krankheiten sehr wirksam behandeln. Aber viele der Erkrankungen der an unserer Klinik betreuten Kinder wären mit effektiver Prävention vermeidbar. Für uns täglich sichtbare Folgen falscher Ernährung sind individuelles Leid, und natürlich entstehen auch hohe Behandlungskosten. Durch eine Verminderung der Zuckeraufnahme auf die von der Weltgesundheitsorganisation angeratene Höchstmenge könnten wir in Deutschland geschätzte zwölf Milliarden Euro Kosten einsparen.
Vermutlich gehört zur Behandlung von Übergewicht auch eine Ernährungsumstellung. Wie schwer oder leicht fällt das den Kindern? Kinder lieben Süßigkeiten, ohne Frage. Die Umstellung erlernter Gewohnheiten ist oft schwer, zu Hause und auch mit professioneller Unterstützung. Zucker- und fettreiche Lebensmittel sind im Alltag der Familien meist leicht verfügbar und zugänglich. Die Stiftung Kindergesundheit setzt vor allem darauf, von vornherein gesundheitsfördernde Gewohnheiten zu fördern, um eine spätere aufwändige und schwierige Ernährungsumstellung gar nicht mehr zu brauchen.
Welche Rolle spielen die Eltern? Inwiefern können und müssen auch sie an einer erfolgreichen Behandlung mitwirken? Die Zucker- und Fettzufuhr zu begrenzen, ist ein echtes Familienprojekt. Eltern können am besten mitwirken, indem sie als Vorbild wirken und selbst gute Ernährungsgewohnheiten vorleben, mit begrenztem Verzehr an Zucker und an den sogenannten gesättigten Fetten aus tierischen Lebensmitteln. Es ist für alle Familienmitglieder von Nutzen, zuckerhaltige Getränke wie Limonade, Cola und Säfte aus dem Haushalt zu werfen und auf ungesüßte Getränke umzusteigen und sich zudem regelmäßig gemeinsam zu bewegen, z.B. durch Laufen oder Radfahren. Kinder lernen in der frühen Kindheit sehr stark dadurch, dass sie Erwachsene nachahmen. Eltern können als Vorbilder am besten helfen. Daher sind Eltern auch in den Präventionsprogrammen der Stiftung Kindergesundheit (www.kindergesundheit.de) eine sehr wichtige Zielgruppe.
Süßigkeiten gibt es nicht nur zu Hause. Welche Rolle spielen Kitas und Schulen bei gesunder Ernährung? Heute besuchen 93 % der Kinder im Alter zwischen 3 und 6 Jahren in Deutschland eine Kindertagesstätte. Es ist deshalb sehr wichtig, auch dort mit Süßigkeiten maßvoll umzugehen. Der Kindergarten darf an normalen Tagen eine „süßigkeitenfreie Zone” sein. Zuckerhaltige Getränke oder Kuchen sollten nur zu besonderen Gelegenheiten wie Festen oder Geburtstagen ihren Platz haben. Und genauso wie zu Hause sollen auch in der KiTa Süßigkeiten nicht als Belohnung oder Lockmittel eingesetzt werden. Auch praktische Informationen für Eltern zum Umgang mit Süßigkeiten können Kindergarten und Schule bieten. Über die Stiftung Kindergesundheit bieten wir wirksame Präventionspogramme wie TigerKids (www.tigerkids.de) für KiTas und DIE RAKUNS für Grundschulen an, mit denen Kinder gute und gesundheitsfördende Gewohnheiten erlernen und festigen. Mit diesen Prorgrammen sinkt der Verzehr von zuckerhaltigen Getränken und der Obst- und Gemüseverzehr steigt an.
Was ist aus Ihrer Sicht eher das Problem: klassische Süßigkeiten wie Schokoriegel, Gummibärchen und Eis oder versteckte Zucker in Limo, Saft, Ketchup, Fertigmüsli? Es kommt auf die Menge des individuellen Verzehrs solcher Lebensmittel an. Deshalb fällt die Antwort hier von Kind zu Kind unterschiedlich aus. Für das Kind ist immer das Lebensmittel das größte Problem, das in seiner Ernährung am meisten Zucker und gesättigtes Fett enthält. Das heißt: Was bei Phillip die Gummibärchen sind, kann bei Laura das zuckerreiche Fertig-Müsli sein. Eine aktuelle Studie zeigt, dass Süßwaren für etwa ein Drittel der Zufuhr freier Zucker verantwortlich sind. Die restlichen zwei Drittel stammen aus anderen Lebensmitteln wie vor allem Fruchtsaft, Limonade und anderen Produkten. Will man im Alltag den Zuckerkonsum reduzieren, ist es am effektivsten, nach den persönlichen „Zuckerbomben“ zu suchen und dort anzusetzen. Zudem sind in den Produktgruppen die Spannbreiten an enthaltenem Zucker groß. So variiert nach aktuellen Auswertungen z.B. der Zuckergehalt in Frühstücksflocken und Müsliprodukten für Kinder zwischen 15 g und 43 g Zucker pro 100g und liegt damit deutlich höher als in vergleichbaren Produkten für Erwachsense. Es ist also wichtig, auf die Packungsangaben zu schauen und die besseren Produkte auszuwählen.
Kinderkekse werden damit angepriesen, dass sie nicht mit Zucker, sondern mit Agavendicksaft gesüßt sind. Gibt es guten und schlechten Zucker? Bei Zuckerarten in den Kategorien „gut” und „schlecht” zu denken, macht keinen Sinn. Für negative Folgen auf den Stoffwechsel eines Kindes ist es letztlich egal, ob der Zucker aus Agavendicksaft, Honig, braunem oder weißen Zucker kommt. Für Familien ist es oft schwer, den Zucker in Produkten zu bewerten, weil etwa 50 verschiedene Begriffe für die Zugabe von Zucker auf Lebensmitteln angebeben werden. Der Gesetzgeber hat jedoch in der Lebensmittelinformationsverordnung festgelegt, dass die Kohlenhydrate (Stärke und Zucker) pro 100 g oder pro 100 ml auf der Packung angeben werden müssen. Die Angabe „davon Zucker” bezieht sich auf alle Zucker zusammen. So kann man Lebensmittel hinsichtlich ihres Zuckergehaltes untereinander vergleichen.
Zudem reduziert die Industrie derzeit teilweise freiwillig den Zucker in vielen Produkten. Reicht das oder bräuchte es weitere Maßnahmen? Die von der Bundesregierung angestoßene freiwillige Reduktionsstrategie zur Verminderung der Gehalte von Zucker, gesättigten Fetten und Salz in Fertigprodukten reicht nicht aus. Allein dadurch werden wir der hohen Krankheitslast durch Übergewicht und Adipositas nicht wirksam entgegenwirken können. Aus Sicht der Stiftung Kindergesundheit ist es dringend erforderlich, dass alle verarbeiteten Lebensmittel mit einer einfachen Farbkennzeichnung auf der Vorderseite der Verpackung versehen werden, die auf dem Gehalt an Zucker, gesättigtem Fett, Salz und Kalorien beruht. Die Stiftung Kindergesundheit unterstützt deshalb den in Frankreich, Belgien, Spanien und Luxemburg schon eingeführten Nutri-Score, mit dem Familien auf den ersten Blick erkennen können, welches der vielen Kindermüslis besser zusammengesetzt ist. Auch die kinderärztlichen Fachgesellschaften, die Deutsche Adipositasgesellschaft und die Deutsche Diabetes Gesellschaft sprechen sich für die generelle Einführung des Nutri-Score auch in Deutschland aus. Bis zur Einführung können sich Familien helfen, in dem sie die kostenlose App „Open Food Facts” auf ihr Handy laden. Damit kann man im Supermarkt den Barcode der Produkte scannen und sieht sofort den Nutri-Score.