Schach oder Schwimmen?

Datum: Donnerstag, 29. August 2019 16:14

Hobbys kommen und gehen

Warum Eltern die Freizeitbeschäftigungen ihrer Kinder am besten gelassen sehen, verrät Kindheitsforscher Prof. Sascha Neumann im Interview. Er begleitet die World-Vision-Kinderstudie, die seit 2007 Kinder zwischen 6 und 11 Jahren zu ihrem Wohlbefinden befragt. Wir sprachen mit ihm über die Ergebnisse.

Wie zufrieden sind Kinder in Deutschland mit ihrer Freizeit?

Erfreulicherweise sehr zufrieden. Zumindest geben 93 Prozent der Kinder unserer repräsentativen Studie hohe bis sehr hohe Werte an. Und dieser Wert ist über die letzten Jahre stabil, hat sogar leicht zugenommen. Methodisch könnte man noch einwenden, dass Befragungen von Kindern zur Zufriedenheit generell eher positiv ausfallen. Das liegt einfach daran, dass Kinder optimistischer auf ihr Leben blicken als Erwachsene. Allerdings gibt es auch einschränkende Befunde.

Welche zum Beispiel?

Zum einen nimmt die Zufriedenheit mit steigendem Alter ab, das lässt sich vor allem bei Mädchen feststellen. Je jünger die Kinder sind, umso zufriedener sind sie. Wir erklären uns das damit, dass der soziale Druck mit dem Lebensalter zunimmt: Wie wirke ich? Welcher Rolle muss ich gerecht werden? Welche Erwartungen werden an mich gestellt? Ein weiterer Erklärungsansatz ist, dass mit zunehmendem Alter der Leistungsdruck selbst im Freizeitbereich steigt. Bei Sechsjährigen ist es noch okay, wenn auf dem Fußballplatz alle dem Ball einfach hinterherrennen. Bei Zehnjährigen wird dagegen erwartet, dass sie ihre Position halten und auch in der Sommerpause trainieren. Mit zunehmendem Alter wird man einfach mit anderen Erwartungen konfrontiert, die einhergehen mit einer stärkeren Leistungsorientierung.

Was können Eltern tun, um nicht noch mehr Druck aufzubauen?

Kinder ändern sich. Hobbys kommen und gehen. Eltern reagieren dann oft mit dem Impuls zu sagen: Wir haben jetzt so viel Geld investiert, da solltest du das nicht einfach so aufgeben. Man muss aber der Entwicklungsdynamik der jungen Menschen folgen. Gleichzeitig sollte man Kinder nicht mit dem eigenen Drang zur Beschäftigung überfordern. Eltern denken oft, sie müssen viel fördern und möglichst viele Persönlichkeitsdimensionen ansprechen, weil vielleicht eine Begabung im Kind schlummert, die zu entdecken ist. Ich glaube, man sollte das stärker den Interessen und Neigungen der Kinder überlassen. Eine gewisse Gelassenheit auf Seiten der Eltern ist sicher hilfreich, um keinen Druck auf Kinder zu projizieren.

Hat denn auch die soziale Herkunft einen Einfluss auf das Freizeitverhalten von Kindern?

Der soziale Status wirkt sich klar auf die kindliche Zufriedenheit aus. Unter den Kindern, die von Armut betroffen sind, sind nur 49 Prozent mit ihrer Freizeit zufrieden, also nur noch die Hälfte. Kinder, die von Armut betroffen sind, d.h. deren Familien über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verfügen, sind nicht nur unzufriedener mit ihrer Freizeit. Sie haben weniger Freunde, eine geringere Zuversicht in ihren schulischen Erfolg, sind weniger häufig in Vereine eingebunden und beklagen häufiger fehlende Zuwendung durch die Eltern.

Was kann die Politik, die Gesellschaft dagegen machen?

Das ist in der Tat die große Herausforderung. Es gibt da verschiedene Ansätze. Man könnte den sozioökonomischen Status von Kindern von dem der Eltern entkoppeln, beispielsweise über eine Kindergrundsicherung. Auf lokaler Ebene könnte man in die Kinder investieren, indem man für vielfältige Freizeitangebote in jenen Wohngebieten sorgt, in denen viele sozial schwache Familien wohnen. Des Weiteren könnte man versuchen über Ganztagsangebote diese fehlenden Angebote auszugleichen. Da sollten Schulen dann mit Vereinen vor Ort kooperieren, um möglichst vielen Kindern einen Zugang zu Freizeitangeboten zu ermöglichen. Allerdings zeigen unsere Studien auch, dass der Arm der Ganztagsschule noch nicht lang genug ist, um insbesondere Kinder aus benachteiligten Familien noch besser zu erreichen. Zudem wünschen sich Kinder aus sozial schwachen Familien in Ganztagsangeboten eher eine Hausaufgabenbetreuung, während sich Mittelschichtskinder nicht-schulische Angebote wünschen. Wenn Kinder über Ganztagsangebote sprechen, wollen sie eines aber generell nicht: Noch mehr Unterricht!

Die Ganztagsangebote wurden in den vergangenen Jahren immer stärker ausgebaut. Wie wirkt sich das auf die Freizeit von Kindern aus?

Die Zahl der Kinder, die ein Ganztagsangebot in Anspruch nehmen, ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Aktuell nutzt jedes dritte Kind ein solches Angebot. Die Zunahme betrifft sowohl die Ganztagsschule als auch den Hort. Damit hat sich der Wert seit 2010 verdreifacht. Zugleich konnten wir feststellen, dass die Ganztagsangebote nicht in Konkurrenz zu außerschulischen Freizeitangeboten treten. Kinder, die in der Ganztagsschule sind, sind genauso oft in Vereinen wie Kinder aus Halbtagsschulen. Kinder, die Ganztagsangebote besuchen, geben zudem an, mehr Freunde zu haben. Das ist einerseits interessant, andererseits auch wenig überraschend. Denn die Schule ist der Ort, an dem in diesem Alter vorrangig Freundschaften geschlossen werden und je länger ich an der Schule verweile, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit dort Freunde zu finden. Begünstigt wird das nicht zuletzt durch die entzerrte Tagesstruktur der Ganztagsangebote.

Ist die Freizeit von Kindern heute stärker institutionalisiert als noch vor 30 Jahren?

Empirisch lässt sich der Vergleich zu den 1980 und 90er Jahren nicht ziehen, da uns dazu keine vergleichbaren Daten vorliegen. Wenn wir das aber mit den Daten der letzten zehn Jahre vergleichen, lässt sich eine Institutionalisierung der Freizeit oder eine sogenannte Terminkindheit nicht feststellen. Kindheit wird durchaus stärker institutionalisiert, aber mit dem Ausbau von Krippe, Kita und Ganztagsschule trifft das eher die Bildung und nicht direkt die Freizeit.

Also halten Sie Diskussionen unter dem Schlagwort Freizeitstress für übertrieben?

Freizeitstress gibt es in der Form bei Kindern nicht. Was wir aber festgestellt haben: Die Zufriedenheit wächst nicht mit der Zahl der Hobbys. Kinder, die nur in einem Verein sind oder nur ein Angebot nutzen, sind tendenziell zufriedener. Kinder haben offenbar ein Gespür dafür, dass es so etwas wie Freizeitstress geben kann. Vielleicht ist das eine interessante Botschaft für überambitionierte Eltern, dass sie Maß halten und nicht ihre eigenen Ansprüche auf die Kinder projizieren. Die Mitgliedschaft in gleich mehreren Vereinen ist nicht unbedingt zuträglich für die Zufriedenheit der Kinder.

Warum sind Hobbys für Kinder überhaupt wichtig?

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive sind Hobbys schon deshalb wichtig, weil sie Kindern ermöglichen außerhalb von Familie und Schule soziale Kontakte zu knüpfen. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, weil die Freizeit heute stark von Eltern organisiert und moderiert ist. Da Kinder heute vermehrt pädagogischen Einflüssen ausgesetzt sind, sollte man Freizeitbeschäftigungen auswählen, bei denen nicht nur Lernen und Leistung im Vordergrund stehen. Stattdessen sollte es darum gehen, eigene Vorlieben zu erkunden und sich mit dem zu beschäftigen, was einen interessiert. Dann können Kinder ihren jeweiligen Weg finden und etwas über sich selbst und ihre Begabungen erfahren – unabhängig von familiären und gesellschaftlichen Erwartungen.