Schul-Spezial Teil 1: "Alles PISA oder was?"

Datum: Freitag, 23. August 2013 12:02

 

Exkurs: Inklusion
Bei Inklusion gerade im Zusammenhang mit Schule haben die meisten Eltern die Integration behinderter Kinder in „normale“ Klassen im Hinterkopf. Dabei reicht Inklusion viel weiter. Inklusive Pädagogik bedeutet vielmehr, dass alle Kinder mit ihren unterschiedlichen Eigenschaften, von Lernschwächen über Verhaltensauffälligkeiten oder Behinderungen bis zu ganz normalen Leistungsunterschieden eine individuelle Förderung erfahren, mit der sie ihre ganz persönlichen Möglichkeiten so gut es geht entfalten können. Bildung und Erziehung erfolgen somit im Klassenverbund nicht im Gleichschritt, sondern gemeinsam, aber sehr individuell. Dabei geht es nicht um Integration, das beschreibt nur die Wiedereingliederung und ein „gemeinsam, aber nebeneinander“. Bei Inklusion passt sich die Struktur den individuellen Bedürfnissen an, die Schüler erleben die Vielfalt ihrer Klasse also als gemeinsames Ganzes. Im Ergebnis bezieht sich inklusive Pädagogik auf die gesamte Bandbreite der Heterogenität einer Klasse, und beinhaltet die besondere Förderung leistungsstarker oder leistungsschwacher Schüler genauso wie die behinderter oder verhaltensauffälliger. Instrumente dieser Pädagogik sind das individualisierte Lernen und die individuelle Förderung, die Lehrern allerdings mit vielen Methoden in der Ausbildung vermittelt werden müssen. Hier steht Deutschland leider noch am Anfang. Was für viele Eltern in unserem Bildungssystem nur schwer vorstellbar ist, dass Lehrer tatsächlich dieser Bandbreite gerecht werden können, ist durch entsprechende Ausbildung in anderen Ländern längst Realität. Vorbilder dieser Pädagogik sind z.B. Finnland und Kanada. Inklusion ist in Brandenburg an 84 Pilotschulen mit zusätzlichem Lehrpersonal in der Testphase. Laut Landeselternrat stehen erste gute Erfahrungen aber Pilotschulen gegenüber, die aufgrund der knappen Personallage Inklusion gar nicht umsetzen können. Große Probleme gibt es vor allem beim Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung (Verhaltensauffällige). Erst jetzt wurde Inklusion im Schulgesetz und der Lehrerausbildung verankert. Statt vorher die Kompetenzen zu schaffen, wird nun repariert. Die Bedenken vieler Betroffener sind noch immer sehr groß. Die Hortbetreuung Behinderter ist ebenfalls noch nicht gelöst. Kritiker äußern, dass man zuerst die richtigen Strukturen schaffen muss – mit der Fortbildung bestehender Lehrkräfte und zusätzlichem Personal sowie räumlicher und materieller Ausstattung – und erst dann mit der Inklusion beginnen kann. Das sehen viele in Brandenburg so nicht umgesetzt


Neue Bildungsländer
Wenn wir asiatische Staaten wie China, Südkorea, Singapur oder Hongkong mit einer ganz anderen Mentalität und einem anderen Leistungsdruck in der Schule außer Acht lassen, gehören die Bildungssysteme in Finnland, Kanada, Neuseeland oder Australien zu den weltweit leistungsstärksten. Viele fragen sich, warum man deren Erfolgsfaktoren in Deutschland oder Brandenburg nicht kopiert. Bei einem genauen Blick ist das nicht einfach, da jedes Land andere Voraussetzungen hat. So verfügt Finnland kaum über Migranten und hat nicht die erheblichen sozialen Unterschiede einer deutschen Bevölkerung, da ist Kanada ein besseres Beispiel. Dort finden wir auch ein föderales System vor, das ebenso in Australien erfolgreich Schule macht.
Was allen Bildungsgewinnern gemein ist, sind die Methoden der individuellen Förderung und ein langes gemeinsames Lernen. So wird in Finnland kein Kind zurückgelassen, jedes Kind ist wichtig und wird entsprechend seinen Möglichkeiten gefördert. Es gibt kein Sitzenbleiben wie in Deutschland, stattdessen setzt eine individuelle Förderung ein. Schon in finnischen Kitas herrschen ganz andere personelle und materielle Ausstattungen vor. Die öffentliche Schule genießt hohes Ansehen und großes Vertrauen. 1972 wurde in Finnland das Bildungssystem umgestellt. Seitdem lernen die Kinder bis zur 10. Klasse ohne Wechsel der Schulform gemeinsam und trotz des Ausgleichs sozialer Defizite ist die Abiturquote hoch und die Leistungsspitze sehr breit, Lust und Leistung passen hier zusammen. Für die Bildung der Kinder werden hohe Steuern akzeptiert. Schule wird nicht nur als Vorbereitung auf den Beruf und die Wirtschaft verstanden, sondern als Lebensschule und Bildung als Wert an sich. Schulen und Schüler bestimmen in hohem Maß selbst die Art und Intensität ihres Lernens. Auch hat der Lehrerberuf und die Schule als Lebensort in diesen Ländern einen viel höheren Status. Diese Qualität wird zudem mit geringem Verwaltungsaufwand durch eine starke Kommunalisierung umgesetzt, die Verantwortung bleibt vor Ort. Die Kommunen bekommen das Geld für die Schulen und entscheiden ohne Landesbürokratie, ob sie es in Schwerpunkte, Personal, Fortbildung oder Ausstattung stecken. Dass in Deutschland 16 Länderinstitute zur Qualitätsentwicklung arbeiten, dürfte in Finnland niemand verstehen. Ironie: PISA-Ergebnisse und der internationale Wettbewerb spielen ausgerechnet bei Europas Besten keine tragende Rolle in der Diskussion über Schule.
Früher bestimmten in deutschen Gemeinden der Bürgermeister, der Pfarrer und der Lehrer die Geschicke, heute gelten viele „Pauker“ eher als das notwendige Übel. Auch hier hat Deutschland viel Aufholbedarf. Die Wahl zum Lehrer des Jahres in einigen Bundesländern wie auch Brandenburg wird daran nichts ändern. Viel wichtiger scheint es, die Lehrer früh auf den Umgang mit der ebenso zunehmenden Vielfalt der Eltern vorzubereiten und wie für die Schüler auch hier die richtigen Methoden und die Unterstützung an die Hand zu geben. Denn auch das zeichnet die Bildungsgewinner aus: Die hochqualifizierten Lehrer arbeiten im Team mit Sozialarbeitern und Sonderpädagogen und die Schulen gehen sehr offen mit Ergebnissen um. Das reicht soweit, dass Eltern im Internet genau nachlesen können, wo die Schule im Vergleich zu anderen steht und was gut und was weniger gut läuft. Diese Transparenz sucht man bei deutschen Schulen vergebens.
Im Vergleich zu den Bildungsgewinnern macht sich Deutschlands Bürokratie als starkes Hindernis bemerkbar: 16 Systeme mit Landesinstituten, Schulaufsicht, Schulämtern etc. – selbst im Föderalismus kann man das Verschlanken und mehr Verantwortung an die Schulen und Kommunen vor Ort delegieren.

 


Frühkindliche Bildung
Der Besuch des Kindergartens bereits ab dem dritten Lebensjahr erhöht bei Kindern, deren Eltern höchstens über einen Hauptschulabschluss verfügen, die Wahrscheinlichkeit des späteren Besuchs eines Gymnasiums um 80 Prozent! In Deutschland verfügen 3 Prozent der Gruppenleiterinnen und 22 Prozent der vom Gruppendienst freigestellten Kitaleiterinnen über einen akademischen Abschluss. In Dänemark sind es 60 Prozent, in Schweden 50 Prozent, in Finnland bestimmt das Gesetz, dass jeder dritte Beschäftigte einer Kita den Bachelor- oder Masterabschluss hat. Allein diese wenigen Zahlen machen klar, wie wichtig schon die frühkindliche Bildung für den späteren Schulerfolg und wie gering die fachliche Qualität deutscher Kitas ist. Vor diesem Hintergrund ist das aktuelle Bestreben der Bundesregierung für flächendeckende Kitaplätze zwar der wichtigste Baustein für den Erfolg des Bildungssystems. In Brandenburg verfügen wir aber schon über ausreichend Kitaplätze, hier geht es vor allem um die Qualität. Viele Erzieher arbeiten zu Niedriglöhnen in Teilzeit oder beginnen als gering qualifizierte Quereinsteiger. Wer gerade den Kampf um Kitagebühren in Cottbus verfolgt hat, dem wird schnell klar, wie unbedeutend vielen Beteiligten die Qualität ist. Leider werden Kitas bei uns als Kosten- und nicht als Zukunftsfaktor gesehen. Hier steht Deutschland auch sein traditionelles Familienbild im Weg, in dem Kitas zur Betreuung und maximal zur Erziehung da sind, Bildung aber durch die Eltern abgesichert wird. In anderen Ländern verfügen Kitas über detailliert ausgearbeitete Bildungspläne und sind als Vorstufe auch fest mit dem Bildungssystem verbunden. In Deutschland fehlt ein bundeseinheitliches Verständnis dafür, wie Kinder in den Kitas gebildet, erzogen und betreut werden sollen. Verbindliche Bildungspläne und Raum- oder Personalstandards sind kaum vorhanden. Brandenburg verfügt zudem über den zweitschlechtesten Erzieherschlüssel im Bundesvergleich – ein entscheidendes Qualitätsmerkmal. Über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird politisch viel geredet, in den skandinavischen Ländern kann man sich aber anschauen, wie das mit ernsthaftem Willen auch umgesetzt werden kann. Die traditionelle deutsche Familienpolitik führt zu immensen Transferzahlungen an die Familie, z.B. über das Kindergeld, das Elterngeld, das Betreuungsgeld und verschiedene Steuermodelle, anstatt diese immensen Summen in eine vernünftige frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung sowie das Schulsystem zu stecken. Dadurch könnten Bildungsverlierer am ehesten verhindert werden – genau jene, die den Staat später Milliarden an Sozialleistungen kosten. Aber in Deutschland wird nach wie vor lieber repariert und hinterher Versäumtes teuer bezahlt, statt vorn in Kitas und Bildung zu investieren. Das haben viele andere Länder schon begriffen, aber wahrscheinlich lassen sich damit schwer Wahlen gewinnen: Transferleistungen an Familien und Wähler-Haushalte runter und Ausgaben für Kitas und Bildung steigern.