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Aktuelles :: Seite 6

präsentiert

Kinder brauchen Natur

Alexander Mitscherlich, Psychoanalytiker und ei-

ner der Wegbereiter der psychosomatischen Medi-

zin in Deutschland, drückte es so aus: „Der junge

Mensch braucht seinesgleichen - nämlich Tiere,

überhaupt Elementares: Wasser, Dreck, Gebüsche,

Spielraum. Man kann ihn auch ohne dies alles auf-

wachsen lassen, mit Stofftieren, Teppichen, auf

asphaltierten Straßen und Höfen. Er überlebt es,

doch man soll sich dann nicht wundern, wenn er

später bestimmte soziale Grundleistungen nicht

mehr erlernt.“ Wir Erwachsene sollten Kindern die

Möglichkeit geben, diese Erfahrungen machen zu

dürfen und nicht jeden ihrer Schritte angstvoll zu

beobachten oder gar zu unterbinden. Eher sollten

Erwachsene die Kinder darin bestärken, auf Bäume

zu klettern und ihnen das Gefühl vermitteln, die

Eltern sind als Beobachter dabei und greifen bei

Gefahr ein.

Das Konzept von Waldkindergärten bietet Kindern

hier eine Möglichkeit, sehr früh einen engen Bezug

zur Natur aufbauen zu können. Diese Begegnungen

mit der Natur fördern nicht nur die Sinne, sondern

auch das ökologische Denken unserer Kinder. Der

Ursprung der Waldkindergärten ist in Dänemark

zu finden. Mitte der 1950er Jahre wurde in Sölleröd

von Ella Flatau, die täglich mit ihren Kindern in den

Wald ging, der erste Waldkindergarten gegründet.

Als 1993 in Flensburg der erste staatlich anerkannte

und nach dänischem Modell gegründete Waldkin-

dergarten durch eine breite Öffentlichkeitsarbeit

bekannt wurde, zündete die Idee auch in Deutsch-

land. Ca. 250 Waldkindergärten gibt es momentan

in Deutschland. Bernd Neumeister schreibt: „Der

Wald als Spielraum hält für die Kinder vielfältige

Formen, Farben und Phänomene bereit, die zahl-

reiche Anreize für die Phantasie geben. Die Sinne

des Kindes – Sehen, Fühlen, Hören, Riechen und

Schmecken – sind im Wald ständig gefordert.“ Die

Kinder können sich dort frei bewegen und vielfäl-

tige Raumerfahrungen machen. Sie lernen so ihre

Möglichkeiten, aber auch die Grenzen ihrer Bewe-

gungsfähigkeiten kennen. Auch bietet der größere

Bewegungsraum im Wald gegenüber der Raumbe-

Wer kennt das folgende Beispiel nicht zu gut

aus dem eigenen, schnelllebigen Alltag mit

Kindern: Da bleibt das Kind stehen, um eine Ameise

zu sehen, die eine große Last zum Ameisenhaufen

schleppt. Ungeduldig wird das Kind zum Weiterge-

hen aufgefordert: „Jetzt komm‘ schon. Los geh‘ wei-

ter, was siehst du denn da schon wieder? Als wenn

du noch nie eine Ameise gesehen hättest!“ (Wir)

Erwachsenen sind laut Ingeborg Becker die größten

„Verhinderer“ solcher Wahrnehmungen. Dabei lie-

ben Kinder die Natur und brauchen sie auch. Durch

den Umgang in und mit der Natur öffnen sich die

Sinne und schult sich der Verstand. Kein Fernseh-

film könnte das ersetzen, was ein Kind etwa beim

Klettern erlebt: Augen, Hände und Füße müssen

gut kooperieren, um sicheren Tritt zu fassen an

der Rinde des Baumstamms, ein Ausrutschen ver-

wandelt Übermut in Vorsicht, das Einschätzen der

Tragfähigkeit eines Astes lehrt planendes Handeln.

Seine körperlichen Grenzen erfährt das Kind hier

ebenso wie das überwältigende Gefühl, ein Ziel

erreichen zu können. All diese Erfahrungen nisten

sich ein in der Psyche des Kindes, formen seine

Persönlichkeit (vgl. Elke Leger). Die Defizite bei den

Kindern entstehen durch eine künstliche Welt und

mit Spielzeug vollgestopfte Kinderzimmer. Exper-

ten beobachten seit Jahren die zunehmenden De-

fizite der Kinder: Sie sind ungelenkig und überge-

wichtig, und Erzieherinnen und Lehrer klagen über

wachsenden Egoismus ihrer Schützlinge. Wie aber

soll ein Kind seinen Bewegungsdrang ausleben,

wenn seine Umgebung fürs Stillsitzen gemacht ist,

im Auto, vor dem Fernseher, in der Wohnung? Sas-

kia Gerhard (DIE ZEIT Nr. 34/2015, 20. August 2015)

schreibt: „In der Natur finden Kinder mehr als nur

Freiheit. Sie ist Klassenzimmer und Entwicklungs-

raum.“ Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster sagt

sogar: „Natur ist für Kinder so essenziell wie Nah-

rung.“ Weiterhin betont Renz Polster: „Wer über

kindliche Entwicklung redet, muss auch über Natur

reden: Wie die Kleinen groß werden. Wie sie wider-

standsfähig werden. Wie sie ihre Kompetenzen für

ein erfolgreiches Leben ausbilden.“