Studien legen nahe: Brandenburger Kitakinder werden es künftig schwieriger haben als Kids aus anderen Bundesländern. Foto: Siarhei SHUNTSIKAU, istock
Über ein Bundesland, das Familien und vor allem Kinder völlig aus dem Blick verloren hat.
Maßstäbe in der Kindertagesbetreuung setzen, die sich auf Augenhöhe mit anderen Bundesländern befinden – das sollte bei uns Standard sein. Zumindest aus Sicht von rund 10.000 Unterstützenden der Petition „Ein Bekenntnis. Eine Reform. Eine Lösung. #KitaIstVielMehr“. Tatsächlich ist das Kitasystem hierzulande allenfalls mangelhaft. Erst vor einem Jahr stellte die Bertelsmann Stiftung im Länderreport fest, dass die Betreuung von 90 Prozent der Kinder nicht einmal kindgerecht ist – von individueller Förderung ganz zu schweigen. Ähnliche Fazits ziehen auch andere Bildungsstudien.
Fachkräftemangel auf Kosten der Kinder
Der Kern des Problems liegt darin, dass es zu wenige Erzieherinnen und Erzieher gibt. Diese müssen sich um verhältnismäßig viele Kinder kümmern, denn aufgrund der vielen Brandenburger Familien mit zwei arbeitenden Elternteilen ist die Betreuungsquote im Land sehr hoch.
Immerhin: Seit dem 1. August 2022 finanziert Brandenburg landesweit 470 zusätzliche Erzieherstellen. Realisiert werden diese Erfahrungsberichten zufolge hauptsächlich dadurch, dass frühere Teilzeitbeschäftigte ins Vollzeitmodell wechseln. Dadurch verbessert sich der Betreuungsschlüssel im Land leicht, liegt aber immer noch deutlich hinter den Empfehlungen der Bertelsmann Stiftung.
*Sachsen genehmigt zusätzlich eine Leitungskraft je 10 Angestellte
Leider gehen die theoretischen Zahlen oftmals an der Realität vorbei, denn bei dem vorgegebenen Brandenburger Schlüssel wird nicht berücksichtigt, ob Erzieherinnen und Erzieher sich mit Leitungstätigkeiten beschäftigen müssen, krank werden oder in den Urlaub gehen. Die tatsächlichen Betreuungsquoten sind im Alltag daher deutlich schlechter. Doch was bedeuten die Defizite in Zahlen – wie viele zusätzliche Kindergärtner bräuchte es im Land?
Aus Zwei mach Drei
Das „Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule“ – wie der Länderreport ebenfalls eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung – ermittelte 2021 die Fachkräftebedarfe anhand verschiedener Szenarien:
1. Szenario „Weiter so“
Szenario II im Fachkräfte-Radar: Die Teilhabequoten, also der Prozentsatz an Kita-besuchenden Kindern, folgen dem Trend des vergangenen Jahrzehnts. Ebenso bleibt der Personalschlüssel gleich (2021: 1 zu 5 in der Krippe und 1 zu 10 im Kita-Alter) und auch an der Leitungszeit wird nichts verbessert.
2. Szenario „Richtiger Weg“
Szenario III im Fachkräfte-Radar: Der Personalschlüssel gleicht sich dem westdeutschen Niveau an, erreicht jedoch noch nicht die wissenschaftlichen Empfehlungen. Die Teilhabequoten und Leitungszeiten bleiben unverändert.
3. Szenario „Idealzustand“
Szenario VI im Fachkräfte-Radar: Die Personalschlüssel und auch die eingeplanten Leitungszeiten für Kita-Führungskräfte erreichen die von der Bertelsmann-Stiftung empfohlenen Werte.
Möchte Brandenburg in Sachen kindgerechter Bildung der Jüngsten in der Kita für andere Vorbild sein, bräuchte es 11.000 zusätzliche Erzieher. Quelle: Fachkräfte-Radar KiTa der Bertelsmann-Stiftung, 2021
11.000 zusätzliche Erzieher notwendig
Alles in allem wären in Brandenburg 11.000 zusätzliche Einstellungen nötig, würde man die wissenschaftlich empfohlenen Standards schon heute erreichen wollen. Hinzu kommen die jährlich auftretenden Rentenabgänge. Aktuell arbeiten über alle Aufgaben hinweg rund 28.000 Menschen in Brandenburger Kindertagesstätten. Es bedarf nur eines kleinen Überschlags, um zu erkennen, dass die 470 zusätzlichen Stellen seit dem 1. August 2022 nur ein Tropfen auf den heißen Stein waren. Vielmehr müsste man annähernd aus jedem Zweier- ein Dreierteam machen, um den Idealzustand zu erreichen. Doch leider wird der Personalaufwuchs weiterhin nicht angepackt – so geht es 2023 und 2024 in kleinen Schritten mit rund 500 Neueinstellungen weiter.
Wegzug und Altersstruktur
Zwei unbekannte Werte, die vom Fachkräfteradar nicht realitätsnah kalkuliert werden konnten, waren diese beiden Fragen: Wie viele Erzieherinnen und Erzieher gehen bis 2030 in Rente? Und: Wie viele Nachwuchskräfte verbleiben nach ihrer pädagogischen Ausbildung im Bundesland?
Zur Altersstruktur von Erzieherinnen und Erziehern fehlen aktuelle Untersuchungen. Die letzte derartige Statistik, der „Fachkräftebericht KiTa Brandenburg“ aus dem Jahr 2017, stellte fest, welche drei Altersgruppen am stärksten vertreten waren: 45 bis 50, 50 bis 55 und 55 bis 60. Zusammen mit den über 60-Jährigen machten sie mehr als die Hälfte der Beschäftigten aus. Ein Großteil des in unserer Region vergleichsweise überalterten Personals geht demnach bis 2030 in Rente.
Allerdings folgte gleich darauf die Gruppe der 25- bis 30-Jährigen, die immerhin fast ein Sechstel ausmachten. Sie dürften heute mit nunmehr 30 bis 35 Jahren neben den Kräften, die mittlerweile über 60 sind, die dominanten Altersgruppen sein. Einen positiven Einfluss auf den künftigen Personalschlüssel sah die Bertelsmann-Stiftung 2021 pikanterweise in der demografischen Entwicklung des Landes. Stichwort Geburtenrückgang: So soll es 2030 rund 10.000 Kinder im Krippen- und Kitaalter weniger geben als zehn Jahre zuvor. Das blendet leider sowohl die aktuelle Flüchtlingssituation als auch den notwendigen Zuzug von Familien für den Lausitzer Wandel aus.
Mit dem Thema Altersstruktur sprechen wir dabei ein Thema an, das flächendeckend auch andere Berufsfelder betrifft. In einem regionalen Bildungsmonitoring stellte das Netzwerkbüro „Bildung in der Lausitz“ einen erschreckenden Fakt fest: Auf derzeit über 200.000 Menschen im Alter von 55 bis 64 Jahren treffen in der Region zwischen Königs Wusterhausen und Zittau nur gut 80.000 15- bis 24-Jährige. Es gilt also, in den nächsten Jahren über alle Branchen hinweg eine Rentenlücke von mindestens 120.000 Arbeitsplätzen zu füllen – vorausgesetzt, es rücken tatsächlich alle jungen Menschen innerhalb der Region nach und ziehen nicht weg. Die Bedarfslücke, die die Babyboomer-Generation hinterlässt, ist also nicht nur ein Kita-, sondern ein generelles Problem, das im Grunde nur durch Zuzug zu lösen ist.
Die Fächer Mathematik und Deutsch sind für Viertklässler aus Brandenburg problematisch. Foto: BrianAJackson, istock
Die große Le(e)hre – Brandenburg schneidet im aktuellen Bildungstrend schlecht ab
Frühkindliche Bildung legt den Grundstein dafür, dass Kinder sich in der späteren Schule gut schlagen – und auf lange Sicht einen erfüllenden Platz in der Gesellschaft finden. Das ist spätestens seit PISA Konsens. Rächt sich die nie erreichte kindgerechte Betreuung der Jüngsten nun in geringeren Kompetenzen der Grundschüler? Diese Schlussfolgerung lässt der aktuelle IQB-Bildungstrend zu. In diesem kommen Bildungswissenschaftler zu dem Ergebnis, dass Brandenburger Viertklässler bei Mathe und Deutsch deutlich im bundesweiten Vergleich hinterherhängen. Im Vergleich zur letzten Erhebung 2016 gab es in Brandenburg sogar die größte Verschlechterung. Der Kompetenzunterschied im Vergleich zu Ländern mit den höchsten Werten wie Bayern liegt in der Orthografie bei zwei Dritteln eines Schuljahres, in der Mathematik sogar bei drei Vierteln.
„Ein verlorenes Schuljahr kostet 10 Prozent des späteren Lebens-Erwerbseinkommens.“
… aus dem lausebande-Pladoyer „Von der Corona - in die Bildungskrise“, Mai 2022
Bildungsministerin Britta Ernst stellte daraufhin Ende Oktober einen „12-Punkte-Plan“ vor, der einen neuen Rahmenlehrplan mit mehr Mathe- und Deutschunterricht sowie häufigere Lehrerfortbildungen vorsieht. Kritik an dem Plan äußerte die bildungspolitische Sprecherin der Linken, Kathrin Danneberg. Sie wies unter anderem darauf hin, dass Schulleitungen in unserem Land mit Bürokratie zugeschüttet und Schulen personell unterbesetzt seien.
Tatsächlich kämpfen auch die Lehrerzimmer mit einem hohen Fachkräftebedarf, wenn man die durch Rentenabgänger und Aussteiger verursachten Lücken schließen und gleichzeitig an der Bildungsqualität schrauben möchte. In Brandenburg geht man dieses Problem mit Quereinsteigern an, die unter den zum aktuellen Schuljahresbeginn befristet neu Eingestellten über 70 Prozent ausmachten. Trotzdem fehlen noch weitere Lehrkräfte, sodass der Ausfall von Unterrichtsstunden oder das Streichen weiterführender Bildungsangebote auf der Tagesordnung stehen. Der Bildungsrückstand, den Kinder in Brandenburg erleiden und der sie im schlimmsten Fall ein Leben lang einschränkt, ist ein strukturelles Problem ohne Lösung. Kein Wunder, dass das Brandenburger Abitur anderswo nach wie vor als Abschluss zweiter Klasse angesehen wird. Bildungsministerin und Kanzlergattin Britta Ernst sollte endlich mehr Kompetenz weichen.
Die Lausitzer Bildungslandschaft wächst
Lausitzer Strukturwandelprojekte stellen normalerweise einen Grund zur Freude dar, doch mit Blick auf ganze 15 Projekte mit Bildungsbezug könnte die Sorge entstehen, dass der Fachkräftekampf innerhalb des Bildungssystems kannibalische Züge annehmen könnte.
Lausitzer Strukturwandelprojekte mit Bildungsbezug
- Cottbus: Universitätsmedizin (IUC)
- Cottbus: Wohnheim für Bau-Azubis
- Cottbus: Wasserwirtschaftliches Bildungszentrum
- Forst: Pflegeschule
- Forst: Aufwertung des Textilmuseums
- Neuhausen: Aufbau eines Mobility Campus
- Weißwasser: Umbau der Volkshochschule
- Weißwasser: Aufbau eines Ausbildungs- und Forschungsstandortes
- Hoyerswerda: Aufbau eines Smart Mobility Lab
- Schloss und Festung Senftenberg: Erweiterung
- Großräschen: Innovatives Lernzentrum Lausitz
- Schwarzheide: Neues Ausbildungspensionat mit Wohnheim
- Schwarzheide: Ausbildungsstätte für naturwissenschaftlich-technische Berufe
- Lauchhammer: Bildungs- und Erlebniszentrum für Kunstguss und Industriekultur
- Elsterwerda: Bildungszentrum Elbe-Elster
Fazit
Mit dem Wachstum der Lausitz steigt der Bedarf an Familieninfrastruktur: Wohnungen und Eigenheime, Kita- und Schulplätze, Erzieher und Lehrer. Wie soll das gelingen, wenn die Kindergartenbetreuung schon heute nicht kindgerecht ist und zahlreiche Lehrerstellen mit Quereinsteigern besetzt werden müssen? Mit bevorstehenden Strukturwandelprojekten dürften auch mehr Berufsschullehrer gefragt sein. Das Land muss sich daher auf den Weg machen, mehr als nur den Status Quo aufrechtzuerhalten. Lösungsmöglichkeiten könnten sein, die Erzieherausbildung zu fördern und etwaige Schulgelder abzuschaffen – oder auch ein Lehramtsstudium in der Lausitz zu forcieren.
Jede Stimme zählt: #KitaIstVielMehr
Machen Sie mit: Noch bis zum 16. November kann jedermann diese Petition per digitaler Unterschrift unterstützen.
Der Aufruf fordert:
- … die Aufwertung der Kita als Bildungsort und die entsprechende Ausstattung in Raum und Personal.
- … die Aufwertung der Erzieher*innen und Anerkennung ihrer Leistung.
- … kostenfreien Zugang zu bester Bildung.
Im Zuge der ebenfalls geforderten Kitarechtsreform sollen die finanziellen und strukturellen Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die Forderungen zu ermöglichen. Die Petition geht noch weiter und verlangt die Etablierung eines Ehrenkodexes, der die frühkindliche Bildung über alle Parteien hinweg als Kernaufgabe der Gesellschaft versteht. Zur Petition: