Die Fächer Mathematik und Deutsch sind für Viertklässler aus Brandenburg problematisch. Foto: BrianAJackson, istock
Teil 1: die Ursachen des Lehrermangels
Im Herbst 2022 rückten die erschreckenden Ergebnisse des IQB-Bildungstrends in den Fokus der bundesweiten Medien. In dieser Untersuchung kamen Bildungswissenschaftler zu dem Ergebnis, dass die Leistungen der Viertklässler sich in Mathe und Deutsch dramatisch verschlechterten, ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler schon mit einfachen Aufgaben Probleme hat. Brandenburg stach besonders hervor: So zählen die Ergebnisse unseres Bundeslandes nicht nur generell zu den schwächsten, auch der Trend ging am stärksten abwärts.
Seitdem ringen viele Seiten um Lösungen – von der Politik über Bildungswissenschaftler, Lehrer- und Pädagogenverbände bis hin zu Eltern- und Schülervertretern. Allmählich wird klar: Die Ergebnisse des Bildungstrends sind ein Vorgeschmack auf das, was noch kommt – die wohl größte Bildungskrise des bisherigen Jahrtausends. Wir blicken in „Die große Le(e)hre“ in mehreren Teilen auf den IQB-Bildungstrend und einen der Hauptgründe für nachlassende Schülerleistungen: den Lehrermangel.
Der Lehrermangel in Zahlen
- Die Kultusministerien meldeten laut einer Umfrage des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) vom 25. Januar 2023 genau 12.341 unbesetzte Stellen.
- Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, nannte die Zahlen geschönt – seiner Einschätzung nach seien es zwischen 32.000 und 40.000.
- Die Situation hat sich im Vergleich zum Vorjahr deutlich verschärft und äußerte sich schon zum Schuljahresbeginn im Unterrichtsausfall und dem Zusammenstreichen von Angeboten.
- In Brandenburg sind mittlerweile 15,4 Prozent aller Lehrkräfte Seiteneinsteiger. Unter den unbefristet Eingestellten machten sie 2022/23 über 30 Prozent aus, bei den befristeten70 Prozent.
- Sachsen meldete zum aktuellen Schuljahr 1.500 offene Lehrerstellen, beworben haben sich lediglich 890 vollständig ausgebildete Lehrkräfte. Lücken gibt es vor allem in Ostsachsen.
Rückblick: der IQB-Bildungstrend
Mit den IQB-Bildungstrends wird regelmäßig überprüft, inwieweit Schülerinnen und Schüler in Deutschland die mit den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) definierten Kompetenzziele erreichen. Im Primarbereich werden die Studien seit dem Jahr 2011 am Ende der 4. Jahrgangsstufe in den Fächern Deutsch und Mathematik durchgeführt. Die neusten Ergebnisse verdeutlichen über alle Bundesländer hinweg eine Leistungsverschlechterung im Vergleich zum 2016er-Test – wobei es speziell in Brandenburg am meisten bergab ging. Sachsen zählt wiederum zu den besten Ländern und musste nur einen leichten Negativtrend verzeichnen.
IQB – ein kleiner Ausschnitt: Mindeststandard erreicht oder übertroffen (li.) oder nicht erreicht (re.)
Eine Ansammlung von Balken verdeutlicht die Misere: Auf diesem Ausschnitt aus dem IQB-Bildungstrend sieht man links die Anteile an Viertklässlern, die den Mindeststandard erreicht oder übertroffen haben – im Verhältnis zum deutschlandweiten Durchschnitt. Rechts wird wiederum verdeutlicht, wo der Standard nicht erreicht wird. Während Bayern besonders gut dasteht, schnitten Berlin, Brandenburg und Bremen von allen Bundesländern am schlechtesten ab.
Schaut man sich die Entwicklung von 2016 bis 2021 an, dann müssen sämtliche Bundesländer in fast allen Bereichen Federn lassen. Tatsächlich konnte über alle Testreihen hinweg nur ein Ergebnis zulegen: die Bremer Mathematikkenntnisse. Diese befinden sich jedoch im Ländervergleich trotzdem auf den hintersten Plätzen. In Brandenburg ist die Entwicklung derweil besonders dramatisch – nirgendwo ging es so steil bergab wie hierzulande. Würde man den Vergleich zu 2011 ziehen, bekäme man sowohl deutschlandweit als auch in Brandenburg ein ähnliches Ergebnis.
Warum schnitt Brandenburg so schlecht ab?
In einer bitteren Analyse machte Bildungsexperte Hans-Jürgen Kuhn in einer Anhörung des Bildungsausschusses im Januar verschiedene Ursachen dafür aus. So hätte ein 2018 von Ministerin Britta Ernst initiierter Fünf-Punkte-Plan für einen besseren Deutsch-Unterricht keine nennenswerten Wirkungen erzielt. Zudem hätten die Schulen ein geringes Interesse an den Auswertungen der Tests und möglicher Rückschlüsse. Auch zweifelte er die Motivation der Lehrkräfte mancherorts an.
Ursache Nummer 1: Überlastung
Mit seiner Anmerkung zur Motivation von Lehrkräften traf Hans-Jürgen Kuhn einen Nerv. Einige Lehrer brachen eine Lanze für ihre Zunft – so eine ostbrandenburgische Lehrerin gegenüber der Lausitzer Rundschau. Ihr zufolge seien es Engagement und Findungsreichtum der Lehrkräfte, die das Schulsystem überhaupt vor dem Umsturz bewahren würden. Sächsische Lehrkräfte machten 2022 bei einer Befragung der Gewerkschaft für Bildung und Erziehung Sachsen (GEW) darauf aufmerksam, dass ein Großteil ihrer Zunft sogar an einer Überlastung leiden würde.
„Die tatsächliche Arbeitszeit steht in keinem Verhältnis mehr zur Arbeitszeit im Arbeitsvertrag.“
„Ich arbeite gern als Lehrerin, sehe mich aber der immensen Arbeitszeit bei minimaler Arbeitszeit nicht gewachsen, zumal ich alleinerziehende Mutter bin.“
„An eine Vollzeitstelle ist aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zu denken, dabei war dies immer mein Wunsch.“
Wortmeldungen von sächsischen Grundschul- und Gymnasiallehrern in der Studie „Arbeitszeit Lehrkräfte Sachsen“ (2022)
Knapp 1.500 Lehrkräfte von 300 sächsischen Schulen nahmen 2022 an dieser umfangreichen Befragung der GEW Sachsen teil – das Ziel der Umfrage: Ermitteln, wie lange Lehrer tatsächlich arbeiten. Das Ergebnis: Über die Hälfte leistet bereits Mehrarbeit, im Schnitt drei Stunden pro Woche.
Grundschule
- Soll-Arbeitszeit: 46:48
- Ist-Arbeitszeit: 49:04
- Mehrarbeit: 2:16
Oberschule
- Soll-Arbeitszeit: 46:48
- Ist-Arbeitszeit: 49:04
- Mehrarbeit: 2:16
Gymnasium
- Soll-Arbeitszeit: 46:48
- Ist-Arbeitszeit: 51:06
- Mehrarbeit: 4:18
Jahresarbeitszeit umgerechnet auf Schulwochen, Ausgleich von Mehrarbeit und Arbeit in Schulferien normenkonform berücksichtigt. Quelle: GEW Sachsen
Gut ein Drittel überschreitet sogar die Grenze von 48 Stunden/Woche. Als Konsequenz überlegt die große Mehrheit der älteren Lehrer, früher in den Ruhestand zu gehen. Eine Oberschul-Lehrkraft beklagt, dass zu viele Extra-Aufgaben auf Lehrkräfte abgewälzt werden – und das eigentliche Unterrichten einen eher geringen Teil der Arbeitszeit ausmacht. Tatsächlich besteht die Arbeitszeit der Untersuchung zur Folge nicht einmal zur Hälfte aus Unterrichtszeit.
ToDos einer Lehrkraft – mehr als „nur“ Unterrichten
- Unterrichtsvorbereitung
- Korrekturen
- Vergleichsarbeiten, Evaluationen, Wettbewerbe
- Lernstandsdokumentationen
- Eltern- und Schülerkommunikation – persönlich sowie über Schulportale
- Betreuung und Aufsicht an Ganztagsschulen
- Inklusionsaufgaben (bspw. Förderpläne)
- Erhöhter Aufwand bei Flucht- und Migrationshintergrund
- Service und Administration bei der Nutzung digitaler Medien
- Öffentlichkeitsarbeit und Schulveranstaltungen
- Aktivitäten zur Berufsorientierung
- Digitale Unterrichtsformen und das Erlernen dieser
Weiteren Studien zufolge ist auch das Schuften an Wochenenden keine Seltenheit: Mehr als zwei Drittel der Lehrkräfte arbeiten an mindestens 80 Prozent aller Wochenenden, jede zweite an den meisten Sonntagen, ein kleiner Teil auch regelmäßig nachts.
Liegt eine Ursache für die aktuelle Bildungskatastrophe also darin, dass Lehrer zu viel arbeiten müssen beziehungsweise zu viel außerhalb des Klassenzimmers zu erledigen haben? Und wie sehen die Arbeitszeiten in Brandenburg aus?
Arbeitszeit und Unterrichtszeit
Dafür ein kurzer Exkurs in die Arbeitsverträge von Lehrkräften: Die sind nicht wie sonst üblich als Wochenarbeitszeit festgelegt. Stattdessen haben sie eine bestimmte Anzahl an Unterrichtsstunden in der Woche zu leisten. Diese variiert je nach Bundesland z.B. in der Grundschule zwischen 27 und 28,5 Stunden. An Gymnasien rangieren sie zwischen 22 und 27, an Gesamtschulen und anderen Schularten der Sekundarstufen zwischen 24 und 28 Stunden.
Brandenburg und Sachsen setzen im bundesweiten Vergleich zusammen mit den anderen ostdeutschen Bundesländern am niedrigsten an. Dennoch arbeiten Lehrkräfte laut der Erhebung der GEW Sachsen weit mehr als 40 Stunden pro Woche. Auch hierzulande stehen zahlreiche Aufgaben neben dem Unterrichten auf der Agenda – zum Nachteil der Schülerinnen und Schüler.
Teilzeit zum Selbstschutz
Wir halten fest: Es gibt wohl nur wenige Berufe mit einer so hohen Arbeitsbelastung wie bei einer Lehrkraft. Folgerichtig gehen Daten des Statistischen Bundesamtes zufolge besonders viele Beschäftigte in Teilzeit: Ganze 40,6 Prozent reduzieren ihre Stunden. Über alle Wirtschaftsbereiche hinweg sind es nur 29,9 Prozent. Lehrerinnen entscheiden sich häufiger dafür (48,2 Prozent) als männliche Lehrer (20,1 Prozent).
Zwischen den Ländern gibt es derweil erhebliche Unterschiede: Während in Bremen und Hamburg die Teilzeitkräfte in der Überzahl sind und Sachsen mit einem 60-zu-40-Verhältnis etwa den Bundesdurchschnitt erreicht, steht Brandenburg mit einer Teilzeitquote von rund 25 Prozent vergleichsweise gut da. Gehen viele Lehrkräfte in Teilzeit, dann braucht man mehr Personal, um das Unterrichtspensum zu erfüllen – ganz einfache Mathematik. Doch auch an dem „Mehr“ an Nachwuchs hapert es.
Ursache Nummer 2: Überalterung
Mit rund 4.600 Lehramtsstudierenden ist die Universität Potsdam derzeit die einzige lehrerbildende Hochschule im Land Brandenburg. Im Hinblick auf bis zu zwölf Semester sowie eine gewisse Abbrecherquote lässt sich leicht feststellen, dass der landeseigene Bedarf von jährlich aktuell 1.800 Absolvierenden nicht durch die Uni Potsdam gedeckt werden kann. Zudem war die Zahl der Neuimmatrikulierungen in der Vergangenheit rückläufig: So starteten in 2020/21 (Wintersemester) 951 Studierende, 2021/22 nur noch 808. Im selben Jahr brachte es die Uni gerade mal auf 328 Absolventinnen und Absolventen. Interessant: Die Uni Potsdam arbeitet trotzdem mit Zulassungsbeschränkungen in Form eines Numerus Clausus – je nach späterem Unterrichtsfach von 1,5 (Geographie) bis 2,5 (Englisch).
Zu wenig Lehrernachwuchs ist natürlich nicht nur ein Brandenburger Problem. Deutschlandweit knickt die Zahl der Studienanfänger fürs Lehramt ein – während die Seiteneinsteigerquoten steigen. In Sachen Absolventenzahlen erreichte Berlin mit rund 900 nicht einmal die Hälfte der anvisierten jährlichen 2000.
Immerhin: Nach jahrelangen Fehlkalkulationen steuert Brandenburg jetzt nach und siedelt ein Studium fürs Grundschullehramt am BTU-Standort in Senftenberg an. Hierzu sind jedoch viele Details noch offen, auch wird sich dieses neue Element der Nachwuchsgewinnung erst entfalten, wenn die ersten Studis ihr Studium Ende der 2020er-Jahre abgeschlossen haben. Um den heutigen Lehrermangel zu bekämpfen, hätte man dieses Studium demzufolge schon 2017, besser noch früher in die Wege leiten müssen.
Auf einen Nachwuchs kommen zwei Rentner
Dem momentan geringen Nachwuchsaufkommen stehen viele ältere Lehrkräfte gegenüber, die in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen. Über 3.000 brandenburgische Lehrer sind 60 Jahre oder älter, in Sachsen mehr als 5.500. Demgegenüber stehen rund 1.200 junge Kräfte in Brandenburg bzw. 2.100 sächsische Lehrer. Die Fehlkalkulationen der Vergangenheit werden hier nochmals deutlich.
Ursache Nummer 3: Überfüllung
Knapp eine Million mehr Schüler bis 2035: Wie die Kulturministerkonferenz im September 2022 ermittelte, wird sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler bis 2035 gegenüber 2021 von knapp 10,8 Mio. um 921.900 (8,6 Prozent) auf 11,7 Mio. erhöhen.
In den ostdeutschen Flächenländern sei zunächst ein moderater Anstieg zu erwarten: Betrug die Schülerzahl im Jahr 2021 hier noch knapp 1,48 Mio., wird sie bis zum Jahr 2027 auf 1,55 Mio. stetig, wenn auch geringfügig, ansteigen, um dann im Jahr 2035 auf 1,45 Mio. zu sinken. Die westdeutschen Flächenländer haben einen stärkeren Anstieg zu bewältigen: von knapp 8,5 Mio. im Jahr 2021 auf gut 9,3 Mio. im Jahr 2035 (plus 10,2 Prozent). Auch in den Stadtstaaten ist die Entwicklung erheblich – hier wird von 2021 bis 2035 mit einem Wachstum von 11,7 Prozent gerechnet.
Welche Entwicklung die Schülerzahlen in Brandenburg und Sachsen nehmen werden, lässt sich insbesondere in der sich dynamisch entwickelnden Region Lausitz kaum vorhersagen. Das grundsätzlich begrüßenswerte Wachstum unserer Region erfordert einen starken Zuzug, um die Tausenden entstehenden Arbeitsplätze zu besetzen – auch dadurch steigt mit höher werdender Schülerinnen- und Schülerzahl der Lehrkräftebedarf. Ebenso steht ein Fragezeichen dahinter, wie sich die zu integrierenden ukrainischen Flüchtlingskinder auf die Rechnung auswirken.
Fazit: Besser Vor- als Nachsorge!
Kaum ein Schuljahr war von so vielen schlechten Nachrichten begleitet, wie das bisherige – dabei dachte man in den Vorjahren, dass die Coronakrise das größte anzunehmende Übel wäre. Doch wenn an den Stundentafeln oder in Lehrerzimmern eine große Leere herrscht, spielt es auch keine Rolle mehr, ob der Unterricht in Präsenz oder digital stattgefunden hätte. Die nachlassenden Schülerleistungen sind dabei nur eine Folge jahrelanger Fehlkalkulationen: Lehrer sind heute im Durchschnitt zu alt und zu wenig – nicht nur in Brandenburg, sondern fast in ganz Deutschland. Jeder, der heute neu in dieses Berufsfeld einsteigt, lässt sich auf eine riesige Herausforderung ein und sollte entsprechend respektiert werden.
In der nächsten Ausgabe: Der SOS-Atlas
„Die große Le(e)hre – Teil 1“ ist der Auftakt für eine langfristige Auseinandersetzung mit dem deutschen Bildungssystem im Allgemeinen und dem Lehrermangel im Speziellen. Unser Teil 1 liefert die Grundlage für den zweiten Teil in der nächsten Ausgabe: Ideen, Maßnahmen, Strategien. Wie reagiert Brandenburg auf den Lehrermangel? Was machen andere Bundesländer – und andere Staaten? Wir tragen alle Überlegungen und Reaktionen zusammen und projizieren sie auf die Region Lausitz. Möchten Sie auch zu Wort kommen? Melden Sie sich gern bei uns:
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Die Lehrerbedarfsrechnung ging in Brandenburg und Sachsen in der Vergangenheit nicht auf – was ist geplant, um dagegenzusteuern? Mehr dazu in der nächsten Ausgabe der lausebande. Foto: AtnoYdur, istock