Sie haben Mobbing als Lehrer einst selbst nicht bemerkt – was hat Sie eigentlich veranlasst, sich so intensiv mit dem Thema zu beschäftigen?
Das war eine sehr persönliche Begegnung. Ich hatte vor gut 20 Jahren lange Zeit eine Deutschklasse, mit der ich meines Erachtens glänzend klar kam. Da war eine Schülerin dabei, die mir wegen schlechter Leistungen und Eigenbrötlertum auffiel. Ich fand Sie auch persönlich ein bisschen komisch. Sie war eigentlich gut, hatte dann aber einen plötzlichen und sehr krassen Notenabfall und ist deshalb sitzengeblieben, freiwillig, wie ich später erfuhr. Ich hatte dieselbe Schülerin später wieder, im Fach Erziehungswissenschaften. Auf einer Klassenfahrt brach Sie wegen einer vermeintlichen Kleinigkeit in Tränen aus und bekam sich nicht mehr ein. Auf meine Nachfrage erzählte sie mir ihre Geschichte und dass sie wegen teils weit zurückreichenden Mobbingfällen psychologisch behandelt werden musste. Dieser Fall betrafen auch meinen damaligen Unterricht. Die Schülerin hatte mir dann verschiedene Begebenheiten aus meinem Unterricht erzählt, in denen ich wie ein Idiot reagiert und das Mobbing nicht wahrgenommen habe. Das wollte ich ändern – und hatte zum Glück einen sehr kompetenten Kollegen, mit dem wir eine Anti-Mobbing-Gruppe aufbauten. Ich hatte zufällig parallel Sozialwissenschaften nachstudiert, da begegnete mir Fachliteratur zu Mobbing in Betrieben. Es gab damals ja kaum Veröffentlichungen über Mobbing in der Schule. So konnte ich das zusammen bringen. Ich habe durch mein eigenes Versagen und die glücklicher Weise sehr offene Ansprache einer Schülerin gemerkt, dass in meinem Unterricht etwas schief gelaufen ist. Das ist jetzt über 20 Jahre her und seitdem arbeite ich gegen Mobbing.
Wie gehen Sie persönlich mit den schweren Schicksalen der Opfer um?
Es gibt immer wieder Sachen, die einen fassungslos machen. Es ist in vielen Fällen sehr schwer, das sachlich und vernünftig anzugehen. In einem Fall war es kurz vor einem gewaltsamen Ende, das ich mit viel Glück gerade so verhindern konnte. Manchmal bin auch ich ratlos oder sehr tief betroffen. Es gibt Tage, an denen ich nach Hause komme und meine Ruhe brauche. Das geht mir immer noch sehr nahe, auch wenn ich das jetzt über 20 Jahre mache. Sie würden staunen, zu welchen Boshaftigkeiten Mitmenschen in der Lage sind. Ich habe mich nicht abgehärtet und vielleicht ist das auch gut so. Auf der anderen Seite ist es ein gutes Gefühl, wenn man Opfern geholfen und das auch wirklich hinbekommen hat.
Kann man sagen, ab welchem Alter Mobbing beginnt?
Es beginnt in Kindergärten. Eine Studie aus der Schweiz von Alsaker beschreibt, dass es dort hauptsächlich ein Täterproblem ist. Das wurde bei Beobachtungen festgestellt. Kinder ärgern einander, das passiert sehr häufig. Plötzlich fängt ein Kind an zu weinen, dann erschrecken sich die meisten Kinder und entschuldigen sich oder machen es nicht wieder. Es gibt aber auch Kinder, die merken, dass sie Wirksamkeit erzielen und sie fühlen sich plötzlich wichtig und bedeutend. Diese Kinder setzen ihr aggressives Verhalten fort. Sie nehmen verstärkt die Verhaltensweisen auf, die sie für sich als Erfolg erleben. Für diese Kinder ist es ein Erfolg, ein anderes Kind zu quälen, weil sie so heftige Reaktionen erzielen. Das beginnt schon im Alter von wenigen Jahren. Der Höhepunkt kommt dann aber in der Pubertät.
Kinder sind ehrlich und sagen oft direkt ihre Meinung, auch wenn sie schlecht ist. Wo endet eine kindliche Meinung und beginnt Mobbing?
Kindliche Meinungen, Ärgern und selbst ein körperlicher Übergriff haben nichts mit Mobbing zu tun, wenn sie nur einmal oder wenige Male erfolgen. Auch ein Gerangel erfolgt eher auf Augenhöhe. Hier liegt der Unterschied. Mobbing ist immer machtbasiert, von oben nach unten. Mobbing ist eine dauerhafte Gewaltform, die wieder und wieder passiert. Mobbing passiert auch nicht zufällig. Sie führt dazu, dass die Opfer ihre Rolle als Opfer verinnerlichen. Sie sehen gar keinen Sinn mehr darin, sich zu wehren, weil ihre Bemühungen ohne Erfolg blieben, sie haben Angst, fühlen sich abgelehnt und gehasst. Die Täter verinnerlichen, dass sie mobben können, es ihnen Spaß macht und dass es für sie auch funktioniert. Sagt man einem gut erzogenen Kind „Deine Mutter ist eine Nutte“, dann erschreckt es, ist fassungslos und kann sich gar nicht dagegen wehren. Andere Kinder können das sagen – auch das ist eine Machtbeziehung.
Nichts prägt ein Menschenleben so sehr wie die Jahre der Kindheit und Jugend – wie wirkt sich Mobbing auf einen Heranwachsenden aus?
Jeder Mensch ist in seinem Selbstbild und Selbstwertgefühl davon abhängig, wie die Umwelt auf ihn reagiert. Was uns ausmacht, wird durch die Reaktion der Umwelt auf uns gebildet. Wenn einer gemobbt wird, erfährt er regelmäßig, dass er nichts wert ist. Er erfährt, dass Übergriffe gegen ihn funktionieren und die Mobbenden Unterstützung erhalten. Das Selbstwertgefühl geht in den Boden. Opfer haben das Gefühl, sich auf niemanden verlassen zu können und von niemandem Hilfe zu erhalten. Sie sind alleine und ausgeliefert. Häufig geben sich Mobbingopfer selbst die Schuld, sie schämen sich. Die Folgen können dann ein Leben lang anhalten: Angst vor Bindungen, vor Beziehungen oder quälende Unsicherheiten vor öffentlichen Auftritten aufgrund der Erfahrung, lächerlich gemacht zu werden.
Welche Auswirkungen hat Mobbing auf die sogenannten Unbeteiligten?
Viele Kinder beobachten, wie Mobbing passiert. Sie bekommen jeden Tag den Regelbruch mit. Sie sehen, dass dem hilfebedürftigen Kind nicht geholfen wird. Sie sehen, dass die Mobber erfolgreich sind. Mobbing lohnt sich also – und das steigert für Unbeteiligte die Angst, einzugreifen. Das macht mich bei diesem Thema wahnsinnig: dieses Gewährenlassen und nicht Einmischen. Wenn das in einer Schulklasse passiert, geht nur in Ausnahmefällen jemand zum Lehrer und bittet um Hilfe. Es fehlt Zivilcourage und viele haben Angst, selbst zum nächsten Opfer zu werden. Man schaut weg und mit der Zeit passiert etwas ganz Verrücktes: man gewöhnt sich daran. Was eigentlich widerlich ist, wird zur Regel. Mobbing wird alltäglich, und etwas Alltägliches ist normal. Das merke ich bei der Arbeit mit vielen Klassen, die sehen das gar nicht mehr als schlimm an, weil sie sich daran gewöhnt haben. Deshalb gibt es im Umfeld keine Unbeteiligten, Mobbing verändert die gesamte Gruppe.
Verändert sich Mobbing grundsätzlich im Altersverlauf oder nur in den benutzten Instrumenten?
Es wird mit dem Alter feiner und Mobber begehen weniger Taten, die sie selbst diskriminieren. Erwachsene arbeiten subtiler, die Angriffe werden gerade bei Frauen stärker über den Ausschluss aus sozialen Systemen realisiert. Da ist das Opfer die Kollegin, die links liegengelassen wird, an die man keine Informationen weiterleitet. Das heftige und teils brutale Agieren wie unter Schülern passiert unter Erwachsenen nur sehr selten. In der Entwicklung vom Kitakind zum Schüler verändert es sich allerdings kaum. In der Schule wird es aber heftiger, bei Heranwachsenden spielen dann die sexuellen Beschuldigungen eine starke Rolle: etwa „Du bist schwul!“ oder „Deine Eltern sind billig!“. Der Griff in den Schritt mit der Bemerkung, der andere stinkt nach einem Tier. Das machen Kitakinder nicht. Insoweit wird Mobbing in der Schule und vor allem in der Pubertät schärfer und brutaler. Was aber viel häufiger in der Schule stattfindet und bei jungen Kindern bzw. in der Kita nicht, ist die Mobbingintrige. Die finden Sie manchmal auch bei Erwachsenen. Dabei versuchen die Mobber, die Leitenden durch gezielte Fehlinformationen in das Mobbing mit einzubeziehen. Wir hatten in einer sechsten Klasse einen solchen Fall. Da meldete bei uns Lehrern ein Schüler einen anderen, der in einer SMS zugegeben hatte, wiederum einem anderen Schüler die Trinkflasche vergiftet zu haben. Er führte auch mehrere Zeugen an, die diese Nachricht mitbekommen hätten. Wir fanden schließlich mit Verbindungsnachweisen heraus, dass der beschuldigte Junge gar keine Nachrichten versenden konnte. Mit einer geplanten, abgekarterten Intrige sollten aber selbst die Lehrer für das Mobbing instrumentalisiert werden. Diese Form gibt es in Kitas und bei kleinen Kindern nicht.
Wenn ich mich recht erinnere, sagten Sie in einem Interview, dass auch die Täter meist Opfer sind. Wie ist das zu verstehen?
Das ist richtig. Wenn einer Lust hat, jemanden zu quälen, dann muss mit seiner Seele irgendetwas passiert sein. Viele Täter haben Entwertungserlebnisse hinter sich. Das können selbst leistungsstarke Kinder sein, die von ihren Eltern nur Zuwendung erfahren, wenn die Noten und die Leistungen gut sind. Wenn sie bei weniger guten Leistungen Liebesentzug erfahren, die Eltern sich schämen und das Kind nicht achten, dann kann das Kindern furchtbar wehtun. Solche Entwertungserlebnisse führen auch dazu, sich durch andere Formen aufzuwerten. Das muss nicht Mobbing sein, kann es aber. Wer mobbt, hat Macht und ist wichtig – damit kann auch Entwertung scheinbar wettgemacht werden. Bei vielen Mobbenden ist auch ein Unvermögen zu bemerken, sich in andere hineinzuversetzen. Es mangelt an Empathie. Wer selbst mobbt, kann innerlich blind gegenüber den Leiden anderer Kinder sein. Auch das hat seine Wurzeln meist in der Erziehung, diese Kinder sind selbst kalt behandelt worden. Diese Zusammenhänge sind zwar die Regel, Pädagogik ist aber keine mathematische Gesetzmäßigkeit. Es gibt auch Kinder sehr liebevoller Eltern, die zu Tätern werden und wo man die Gründe nicht nachvollziehen kann.
Woran können Eltern merken, dass ihr Kind als Opfer oder Täter mit Mobbing zu tun hat?
Das ist bei Tätern extrem schwer. Welches Kind erzählt schon zu Hause, wen es fertig gemacht hat? Erfahren es die Eltern von anderen, wollen sie das meist nicht glauben. Für viele Eltern ist das unerträglich sich einzugestehen, dass ihr Kind andere durch Mobbing quält, und sie geben lieber dem Opfer die Schuld oder dem Lehrer, der nicht aufgepasst hat. Bei Opfern merkt man hingegen eher etwas. In vielen Fällen schweigen die Opfer, ziehen sich zurück, verändern sich. Typische Symptome sind Schulangst, Einsamkeit, sie haben plötzlich keine Freunde mehr. Sie werden oft passiv. Bei Jugendlichen gibt es aber auch sehr sprunghafte und plötzliche Entwicklungen. Kinder reagieren auch sehr unterschiedlich auf Mobbing. Die einen stecken es nach außen scheinbar gut weg, andere leiden schon nach kurzer Zeit unter schweren psychosomatischen Störungen. Vor kurzem hatte ich eine gut trainierte Schülerin, die mitten beim Vereinssport mit schweren Herz-Rhythmus-Störungen zusammengebrochen ist, weil sie das Mobbing nicht mehr ausgehalten hat. Es gibt keine einheitlichen Merkmale, so individuell wie die Menschen sind auch die Reaktionen auf das Mobbing.
Wie finden Eltern qualifizierte Hilfe und wie kann man erkennen, ob eine Beratungseinrichtung tatsächlich kompetent mit dem Thema umgehen kann?
Es gibt viele lokale Hilfsgruppen und viele Angebote. Ein Indikator für die Qualität eines Beraters kann sein, dass er sehr gründlich nachfragt und nicht mit Schnellschüssen kommt. Er sollte Wert legen auf einen persönlichen Kontakt. Er sollte das Kind aktivieren und ermutigen, etwas zu tun. Er sollte sich ein gründliches Bild von der Gesamtsituation machen, bevor er Maßnahmen ergreift. Wenn auch andere Personen oder sogar die Gegenseite einbezogen und befragt werden, ist das ebenso ein Zeichen gründlicher Arbeit. Wer längere Zeit gemobbt wird, hat ja auch keine klare Sicht mehr auf das, was da passiert. Jemand der es schafft, einem gemobbten Kind neue Verhaltensmöglichkeiten zu eröffnen, der ist gut. Er sollte relativ nüchtern mit Übergriffen umgehen können und Eltern klare Tipps geben, z.B. „Fordern Sie Ihr Kind nicht weiter auf, sich zu wehren!“. Damit nehmen für Kinder die Probleme im Mobbing nämlich nur zu. Eltern geben damit ihren Kindern indirekt die Schuld am erlebten Mobbing, denn sie sagen nichts anderes, als dass sie selbst sich nur ordentlich wehren müssten. In dieser Form gibt es viele wertvolle Tipps. Leider gibt es in Beratungseinrichtungen auch eine Menge Leute, die sehr schnell Bescheid wissen und alles sofort lösen. Die machen mir immer Angst.
Auf Ihrer Homepage gibt es die Möglichkeit, per Nachricht anonyme Hilfe zu erfragen – wie viele Anfragen erhalten Sie darüber?
Das wechselt ganz stark. Vor Weihnachten sind es sehr viel, aber während der Fußball-WM gab s so gut wie keine Anfragen. Viele Anfragen kommen nach Fernsehsendungen.
Erhält tatsächlich jeder Hilfe, der danach fragt?
Ich beantworte alle Anfragen. Manchmal ist es ein einmaliger Kontakt. Wenn ich keinen direkten Kontakt habe oder mitbekomme, dass ein Kind sehr stark leidet, dann gebe ich Tipps, wie und wo man sich vor Ort Hilfe suchen kann. Auf die Distanz kann man nur sehr begrenzt helfen, das mache ich in meinen Antworten immer klar. Hätte ich ein Patentrezept, das immer und auch auf die Ferne funktioniert, wäre ich wahrscheinlich schon Millionär. Das gibt es aber nicht und das kann es auch nie geben.
Fehlt es in Deutschland an kompetenten Ansprechpartnern und Beratungsstellen zum Mobbing – und wenn ja, warum?
Ich habe den Eindruck, dass kein gut ausgebautes Netz an Beratungsstellungen existiert. Manchmal habe ich mitbekommen, wie Sozialarbeiter oder Berater mit ihrem Handeln einen Mobbingprozess eher noch verschlimmert haben. Ein Beispiel: In einer Schulklasse wurde ein einzelnes Kind gemobbt und die Schule selbst kam mit dem Fall nicht mehr klar, Eltern beschwerten sich. Dann kamen sogenannte Profis in die Klasse und verteilten an jedes Kind drei grüne und drei rote Murmeln. Die Kinder sollten die grünen an jene verteilen, die sie nicht leiden können und die roten an befreundete Schüler. Das gemobbte Kind hatte die Schultasche voll mit grünen Murmeln und ihm wurde noch einmal amtlich bestätigt, dass es gemobbt wird. Die Eltern aus diesem Fall haben sich dann an mich gewandt. Es ist leider kein Einzelbeispiel, wir haben da einen enormen Nachholbedarf.