Interview mit Mobbing-Experte Wolfgang Kindler
Wolfgang Kindler ist ehemaliger Gymnasiallehrer und gilt heute auf nationaler und internationaler Ebene als Experte in Sachen Mobbing. Als Autor veröffentlichte er bereits mehrere Bücher zum Thema und ist vielen durch die Reportage „Schluss mit Mobbing“ im Privatfernsehen bekannt. Er nahm sich für unser Familienmagazin lausebande viel Zeit für ein ausführliches Gespräch:
Ist Mobbing ein überbewertetes Modethema oder gab es das schon immer? Die Frage ist schwierig zu beantworten. Ich halte es nicht für überbewertet, wenn tatsächlich jemand gemobbt wird. Gerade für Heranwachsende ist das furchtbar und bringt oft langfristige Schäden mit sich. Auf der anderen Seite haben Sie Recht, da wird inzwischen alles Mögliche zu Mobbing gemacht, was gar kein Mobbing ist. Ich habe in einer aktuellen Untersuchung von Prof. Reinhold Jäger gelesen, dass 17 % aller deutschen Lehrer gemobbt werden. Wenn man genau hinschaut, hat das oft mit Mobbing nichts zu tun. Was die Geschichte des Mobbings angeht, finden Sie das schon in uralten Volksmärchen wie „Aschenputtel“ oder „Die drei Federn“. Auch in der Literatur finden sich gute Beispiele, bei Thomas Mann wird z.B. der kleine Buddenbrock gemobbt. Mobbing hat eine lange Geschichte.
Welche Entwicklungen machen das Thema heute so populär?
Zum einen das meines Erachtens deutlich überschätzte Cyber-Mobbing. Wir haben aber auch eine gesellschaftliche Entwicklung, die bestimmte Mobbingprozesse stark begünstigt. So hat sich das Konkurrenzverhalten verschärft. Schüler wissen, dass „nur“ Abitur heute nichts mehr bringt, es muss ein gutes Abitur sein. Wir haben den Verlust von sozialen Gewissheiten: was darf ich machen, was kann ich mir erlauben, was ist möglich? Es findet eine Entnormisierung der Gesellschaft statt, der Einfluss von Kirchen und ähnlichen Institutionen geht deutlich zurück. Dann haben wir heute auch eine andere Form von Pädagogik, die genauer hinschaut. Und wir haben eine veränderte Form von Kindheit. Als ich Kind war, waren ein Großteil meiner Freunde nicht in meiner Klasse. Da spielten das Wohnumfeld, die Straße, in der man lebte oder der Sportverein eine größere Rolle. Bei Umfragen stellen wir jetzt fest, dass die Kinder außerhalb der Schulklasse nur noch wenige soziale Kontakte haben. Wenn Sie nun in der Schulklasse gemobbt werden, bedeutet das häufig einen sehr tiefen Fall, bei dem sie nicht mehr durch ein soziales Netz aufgefangen werden.
Es wird inzwischen viel über Mobbing berichtet, dennoch scheint im Alltag eher Hilflosigkeit zu herrschen, bestätigen das Ihre Erfahrungen? Absolut! Ich habe heute zufällig eine Untersuchung gelesen, nach der fast die Hälfte aller Schulen eine Mobbingfortbildung hatte, aber nur ein ganz geringer Teil konnte die Fortbildung in der Praxis tatsächlich nutzen. Das liegt an der Qualität der Fortbildungen. Es gibt in der Fortbildung zu wenige Anregungen zu strukturellen Veränderungen und zu wenig neue Inhalte – und auch zu viele schlechte Angebote. Da wollen Leute mit einer Theorie oder einem Konzept alles retten. Mobbing kann sich aber so unterschiedlich darstellen, da braucht es ein umfangreiches Wissen. Genau da liegt das Problem. Die Hilflosigkeit liegt aber auch darin begründet, dass viele Mobbing-Prozesse erst gar nicht bekannt werden. Als ich Lehrer war, fand auch unter meiner Nase Mobbing statt und ich habe das erst im Nachhinein erfahren. Es ist auf der anderen Seite richtig, dass es inzwischen viel öffentliches Interesse am Thema Mobbing gibt. Auch ich bekomme dadurch viele Anfragen von Schulen, die eine Fortbildung machen wollen.
Sie reden viel von Fortbildung – ist der Umgang mit Mobbing nicht schon fester Bestandteil in der Ausbildung für Erzieher und Pädagogen? Ich gehe mal einen Schritt zurück. Ein Großteil der Erzieher und Lehrer, insbesondere der Älteren, hat in der Ausbildung nichts über Mobbing erfahren. Das ändert sich in der Ausbildung künftiger Lehrer und Erzieher jetzt gerade, das braucht dann noch lange, bis es in der Praxis ankommt. Leider kommt es selbst an Universitäten nur punktuell vor. Mein ältester Sohn hat Sonderpädagogik studiert und der Begriff „Mobbing“ fiel im gesamten Studium kein einziges Mal. Das halte ich für ein großes Problem. Da muss noch viel getan werden. Das wird zusätzlich erschwert, weil die Ausbildung für Lehrer und Erzieher jedes Bundesland für sich unterschiedlich regelt und selbst innerhalb der Bundesländer in der Ausbildung relativ autonome Strukturen vorherrschen. Dadurch kann es im selben Bundesland an verschiedenen Ausbildungsstätten zu ganz unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema „Mobbing“ kommen. Das ist das große Problem: Mobbing wird schon in der Ausbildung von Erziehern und Lehrern nicht hoch genug angesetzt.
Wo stellen Sie in der Praxis den größten Widerstand beim Thema fest, in Kitas, Grundschulen, weiterführenden Schulen oder im Arbeitsalltag Erwachsener? Inzwischen verfügen viele Betriebe über einen Mobbingbeauftragten, da wird das Thema offensiver angegangen. Aber auch aus vielen Zuschriften schließe ich, dass Widerstände bei Schulen besonders intensiv sind. Der Widerstand ist immer dann am größten, wenn Mobbing von außen thematisiert wird. Man regelt das lieber intern. Sobald jemand von außen kommt, wird im konkreten Fall gern abgestritten, dass hier Mobbing vorliegt. Lehrer wollen sich kein Dienstversäumnis vorwerfen lassen, Erzieher ebenso wenig. Mobbing ist eine langfristige Ausübung von Gewalt und bedeutet dadurch immer, dass etwas nicht mitbekommen wurde. Hier will keiner was falsch gemacht haben. Werde ich von Schulen zu einer Fortbildung eingeladen, werden die Fälle klar benannt. Holen Eltern mich von außen zur Hilfe, wird von den Schulen abgestritten, dass dort Mobbing vorgefallen sei. Diese wahnsinnige Angst, nach außen schlecht dazustehen, gilt aber für fast alle Institutionen.
Mobbing hat eine lange Geschichte
Datum: Dienstag, 02. September 2014 08:29
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