"Nur mit Helm"

Datum: Montag, 30. Mai 2016 15:09

Interview mit Radspoertlegende Jan Ullrich

Jan Ullrich hat als Radsportler alles erreicht: Er wurde Weltmeister-, Olympia- und Tour de France-Sieger. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen vier Kindern in der Schweiz, am Bodensee. Wir sprachen mit ihm über die Bedeutung von Familie und Rad fahren in seinem Leben – ein sehr sympathisches Gespräch, fast wie mit einem guten Freund auf der Gartenbank:

Wie viele Räder stehen bei Familie Ullrich eigentlich in der Garage? Gezählt habe ich all die Räder noch nicht, aber es sind sehr viele. Wir haben in der Garage zwei Räume. In dem einen stehen noch um die 20 Räder aus früheren Zeiten meiner Sportkarriere, die ich dort wie in einem kleinen Museum lagere. Darunter sind die Räder wichtiger Siege wie mein Tour-de-France-Rad und das Olympia-Rad. Im anderen Teil der Garage stehen die ganzen Kinderräder, angefangen vom Kinderroller bis hin zum E-Bike meiner Frau. Wie viele das jetzt sind, lässt sich gar nicht so einfach sagen. Auf jeden Fall sind wir gut ausgestattet!

Sie haben inzwischen vier Kinder, welche Rolle spielt das Rad fahren bei den Kids? Die Hauptrolle spielt bei meinen Kindern sicher der Fußball, das war bei mir früher aber auch so. Als Kind spielt man ja meist das, was auch die Freunde spielen. Rad fahren ist auch keine Sportart, die man unbedingt früh anfangen muss. Sicher wird in unserer Familie viel Rad gefahren, zumal wir hier am Bodensee in einer sehr ländlichen Gegend wohnen. Da ist mit dem Rad alles sehr gut erreichbar. Wir sehen das eher als Transportmittel – und die Kinder haben auch einfach Spaß am Rad fahren. Sicher spielt es auch eine Rolle, dass die Kleineren sich an den Größeren orientieren – und mein großer Sohn Max unternimmt mit seinen acht Jahren schon die ersten Versuche auf einem kleinen Rennrad. Gerade gestern hat er seine ersten Klickpedalen bekommen, die fand er bei mir immer toll und hat sich das gewünscht. Durch meinen Beruf und mein Sportlerleben hat das Rad fahren in unserer Familie sicher einen besonderen Stellenwert. In der Familie hat das aber tatsächlich viel mehr mit Spaß, Bewegung und Gesundheit als mit Sport tun.

Kann der kleine Toni mit seinen gut drei Jahren auch schon ordentlich in die Pedale treten? Der tritt wirklich schon gut in die Pedale! Er ist eigentlich derjenige, der am meisten nach Radtouren verlangt und mich am ehesten zu einem Sprint herausfordert. Die Kinder sind alle sehr unterschiedlich. Der Älteste möchte gern mit mir Rad fahren, weil er genau weiß, dass es nach 15 Kilometern zwischendurch ein Eis oder eine schöne Pause am See gibt. Der Kleine hingegen möchte mit mir um die Wette fahren. Das amüsiert uns total, weil die Kleinen auf dem Fahrrad lustig anzusehen sind. Wir teilen uns das auch untereinander auf, mal schenkt meine Frau und mal ich jedem Einzelnen mehr Aufmerksamkeit. Das ist wertvolle Zeit, auch wenn man gemeinsam auf dem Rad unterwegs ist. Natürlich unternehmen wir auch gemeinsame Familientouren mit den drei Jungs und meiner Tochter. Dabei ist uns die Bewegung an der frischen Luft wichtig, wir sehen das Rad fahren in Familie als tolle Freizeitgestaltung. Natürlich sehen meine Kinder auf der anderen Seite auch, dass ich beruflich viel auf dem Rad unterwegs sind, oft begleiten sie mich dabei. Dann wollen sie wie der Papa auch mal aufs große Rad. Das macht mich schon ein bisschen stolz, wenn die Kleinen mich als Vorbild sehen.

Wer hat den Kindern das Rad fahren beigebracht, Sie oder Ihre Frau? Meinen drei Söhnen habe ich das Rad fahren beigebracht. Meine Tochter hat es bei meiner damaligen Lebensgefährtin gelernt, als ich noch mitten in meiner Profikarriere steckte und eher selten zu Hause war. Ein Stück weit schauen die Kinder sich das aber auch von alleine bei uns Eltern oder den Geschwistern ab.

Warum sollte Ihres Erachtens jedes Kleinkind unbedingt das Rad fahren erlernen? Fahrrad fahren schult die Motorik und das Körpergefühl. In meiner eigenen Kindheit hatten wir keine Stützräder und haben dadurch sehr schnell ein gutes Gleichgewichtsgefühl bekommen. Außerdem bringt das Fahrrad Kinder schnell von A nach B, sie bewegen sich in der Natur und es ist auch ein sauberes Transportmittel, das keine Schadstoffe ausstößt. Das Fahrrad ist wirklich eine tolle Erfindung. Meine Jungs nutzen es für ihre Wege zum Fußballplatz oder zur Eishockeyhalle. Der Kleine ist jetzt gerade mit dem Rad zum Tennis gefahren. Da darf man als Papa auch nicht übervorsichtig sein, denn auch das Stürzen müssen Kinder lernen. Ist man als Kind öfter gestürzt, ohne sich etwas zu tun, dann kann man sich besser abrollen und steht später schneller wieder auf.

Auf Facebook teilen Sie kleine Radtouren und Zeitfahren Ihrer Kinder mit den Fans, sind Sie bei Radausflügen eher der vorsichtige Papa oder kommt da schon der ehrgeizige Sportler durch? Ich bin eher der vorsichtige Papa und fördere auch überhaupt keinen Leistungsdruck. Das machen die Kinder schon unter sich, da will der kleine Bruder natürlich schneller als der große sein. Meine große Tochter hat da immer noch die Nase vorn und spornt damit ihre Brüder an. Ich trete bei unseren Radtouren eher auf die Bremse. Wenn wir mit der Großfamilie unterwegs sind, haben wir auch ganz strikte Regeln. Da werden vorher die Bremsen und der Luftdruck kontrolliert und jeder trägt einen Helm. Ich bin auch froh, wenn wir wieder alle gesund zu Hause angekommen sind.

Sie leben heute in der Schweiz, warum sind Sie aus Deutschland weggezogen? Ich hatte damals in Deutschland komplett meine Privatsphäre verloren. Teilweise hielten Reisebusse vor meinem Haus. Wir konnten weder ins Kino noch einkaufen gehen. Vieles, was zum Leben dazugehört, war für mich nicht mehr da. Freunde haben mir geraten, ein Stück weiter an den Bodensee zu ziehen – und nach dem Umzug hat sich wirklich viel verändert. Hier haben wir unsere Privatsphäre wieder und ich kann mit meiner Familie ein ganz normales Leben führen.

Fehlt Ihnen das flache Land Ihrer Kindheit? Das flache Land fehlt mir eigentlich nicht, mein Traum waren schon immer Wasser und hohe Berge. Genau das habe ich hier. Was mir allerdings wirklich fehlt, ist die Ostsee. Dort bin ich aufgewachsen und als Kind oft mit dem Fahrrad ans Meer gefahren, um mit Freunden in den herrlichen Dünen oder an den Steilküsten zu toben. Das fehlt mir. Wenn ich mein Rostock besuche, kommen diese vielen schönen Bilder aus meiner Kindheit immer hoch. Die Sehnsucht nach dem Meer spüre ich schon.

Wir leben hier in der Lausitz, mit dem Spreewald nebenan ein Mekka für Radfahrer – verbindet Sie etwas mit unserer Region? Mein Freund und ehemaliger Kollege Olaf Pollack wohnt in der Nähe von Cottbus. Ich besuche ihn immer wieder und dann Radeln wir auch ein paar Tage durch den Spreewald oder die Lausitz. Das ist eine tolle Gegend. Die großen Berge fehlen zwar, aber man kann ja nicht alles haben.

Sie engagieren sich für Kinder, dazu gibt es unter janullrichcharity.com einen eigenen Auftritt – sind die Rollerkids auf der Homepage die „kleinen Ullrichs“? Nein, das sind nicht meine Kinder. Unsere Kinder halten wir bewusst aus der Öffentlichkeit heraus. Mein jüngster Sohn weiß nicht einmal, dass ich früher Radprofi war. Dadurch können wir hier auch in Frieden leben.

Wofür engagieren Sie sich und warum? Ich wollte gezielt etwas für Kinder tun. Uns geht es gut und ich spüre auch die Pflicht, davon etwas abzugeben und das Miteinander in der Gesellschaft zu fördern. Mir ist aufgefallen, dass es auch hier um die Ecke viele hilfsbedürftige Kinder gibt und man nicht immer ins Ausland schauen muss. Ein paar Kilometer von unserem Zuhause leben Kinder in einem Heim, die allesamt im Leben sehr wenig Glück hatten und deren Schicksal es mir angetan hat. Da will ich helfen und engagiere mich z.B. mit dem Verkauf toller Produkte auf meiner Charity-Homepage, deren Erlös diesen Kindern zu Gute kommt.

Heute bieten Sie Freizeitradlern die Chance zu gemeinsamen Event-Touren im Süden Europas oder den USA – ist das auch was für die radelnde Familie? Das gibt es noch nicht für Familien, das ist aber eine tolle Idee. Ich könnte mir gut vorstellen, mit Familien hier eine Runde um den Bodensee zu radeln. Bislang ist das Angebot eher für Urlauber oder Kinder, die ein bisschen Sport treiben und mit Rad fahren wollen. Da geht es nicht um Siege oder Zeiten, sondern um einen gemeinsamen sportlichen Tag. Abends erzähle ich dann meist Geschichten aus meinem Leben, das ist alles sehr gemütlich. Schnell fahren und um Siege kämpfen musste ich mein ganzes Leben, jetzt will ich das genießen.

Wenn Sie auf Ihr bisheriges Leben zurückblicken, welche Erinnerung ist Ihnen die Liebste, welche die Schmerzhafteste? Die besten Momente meines Lebens waren die Geburten meiner Kinder und die Hochzeit mit meiner Frau. Wir sind gemeinsam durch schwere Zeiten gegangen und immer noch ein tolles Team, unsere Ehe ist immer noch so perfekt wie am ersten Tag. Natürlich kommen im Sportlichen die größten Siege bei der Tour-de-France oder Olympia dazu. Mit meinen 42 Jahren ist das Sportliche heute aber zweitrangig und zählt erst hinter der Familie. Bei den schlechten Erinnerungen ist das ähnlich. Unter dem Verlust geliebter Menschen leide ich extrem. Als mein Opa im Jahr 1993 kurz vor meinem Weltmeistertitel starb, hat mich das lange beschäftigt. Sportlich hatte ich sehr lange mit dem Ausschluss von der Tour-de-France im Jahr 2006 zu kämpfen. Damit habe ich aber inzwischen meinen Frieden gemacht.

Wie würden Sie eigentlich reagieren, wenn eines Ihrer Kinder Radprofi werden möchte? Ich würde das unterstützen. Sicher wird gerade mit Blick aufs Doping oft schlechter über die Sportbranche berichtet, als sie ist. Andere Branchen in Wirtschaft und Politik haben da auch ihre Schwächen. Meines Erachtens kann man Kinder mit gutem Gewissen ihren Weg im Leistungssport gehen lassen, wenn sie dort ihre Stärken haben. Ich würde mein Leben auch wieder genauso einschlagen, wenn ich noch einmal vor der Entscheidung stehen würde.

Sie haben oft gesagt, als Radprofi braucht man immer eine Ziellinie – wenn Sie nach vorn blicken, welche Ziele möchten Sie da noch erreichen? Das Familiengeschehen hört ja nie auf: „Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen“. So ist das auch bei uns. Unser Hauptziel ist, dass wir aus unseren Kindern tolle Menschen formen, die ihren Weg gehen. Mit einem Blick auf die Unruhe in der Welt ist mir auch wichtig meinen Beitrag zu leisten, dass wir unsere Zeit hier friedlich verbringen. Da zählen Aspekte wie Toleranz und da will ich auch ein gutes Vorbild sein. Ich möchte gesund bleiben und auch noch viele Sachen erleben, später Zeit mit meinen Enkeln verbringen und die Welt bereisen. Toll wäre es, mit meinen drei Brüdern mal auf einen hohen Berg wie den Kilimandscharo zu laufen. Ab und zu will ich mal aus dem Alltag ausbrechen – aber letztendlich sind die meisten Ziele wie sicher bei vielen anderen Menschen auch.

Zum Abschluss: Welchen Rat zum Rad können Sie allen Familien ans Herz legen? Immer einen schönen Helm aufzusetzen! Ich fahre selbst zum Bäcker um die Ecke nur mit Helm. Ansonsten macht Rad fahren einfach Spaß und ist gesund. Ich glaube, wenn Eltern das Vorleben und gerne Rad fahren und das nicht als Wettkampf betrachten, dann ziehen die Kinder von ganz allein mit. Die Kleinen schauen immer auf die Eltern und die großen Geschwister. Es ist ein wunderschöner Sport, man lernt die Heimat kennen und genießen. Vor allem ist es eine Zeit, die man gemeinsam in der Familie verbringt. Das schafft Erlebnisse, die verbinden.

Vielen Dank für das Interview.

Mit Jan Ullrich Urlaubsradeln oder Kindern helfen
Unter www.janullrich.de gibt es News von Jan Ullrich und auch Events, zu denen man mit Jan Ullrich gemeinsam Rad fahren und einen Plausch über sein bewegten Leben führen kann. Wer es noch persönlicher mag, der kann ihn auch auf Fecbook besuchen. Zudem gibt es eine Charityseite, mit der Jan Ullrich ein Kinderheim unterstützt, das kann jedermann z.B. mit dem Kauf cooler Fanartikel unterstützen.


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