Was Kitas jetzt dringender brauchen als Beitragsfreiheit und wie man auch Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien erreicht, verrät Prof. Dr. Frauke Hildebrandt im Interview. Die Professorin für frühkindliche Bildungsforschung an der FH Potsdam ist in Ost-Berlin aufgewachsen und lebt heute mit ihrer Familie in Brandenburg. Als vierfache Mutter hat sie den Alltag in Kitas jahrelang persönlich erlebt. Heute forscht sie zu Themen der frühkindlichen Bildung und berät im Auftrag des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg zu pädagogischen Themen. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die kognitiv anregende Interaktion in Kindertagesstätten. Ein Gespräch über Lehren aus der Pandemie, über fehlende Wertschätzung und Transparenz und über mehr Bildungsgerechtigkeit in Kitas.
Hinter uns liegt mehr als ein Jahr Pandemie. Was waren aus Sicht der Forschung die wichtigsten Erkenntnisse mit Blick auf frühkindliche Bildung?
Da gab es durchaus mehrere spannende Erkenntnisse. Das erste ist, dass man wieder einmal gesehen hat, dass Kita nachrangig behandelt wird, insbesondere im Vergleich zur Schule. Das hat sich beispielsweise an den Tests und Hygienekonzepten gezeigt. Keine Berufsgruppe ist so stark von Corona-Erkrankungen betroffen gewesen wie die Erzieherinnen, weil sie einfach nur unzureichend geschützt wurden. Das ist skandalös. Der zweite Punkt hat uns erstaunt: Wir haben relativ viele Rückmeldungen bekommen, dass trotz der schwierigen Rahmenbedingungen die Pädagogen in den Einrichtungen entspannter waren. Da weniger Kinder in den Einrichtungen waren, konnten sie endlich mal unter einem wünschenswerten Betreuungsschlüssel arbeiten. Das wurde von vielen Erzieherinnen positiv wahrgenommen. In dieser Hinsicht war die Pandemie für die Kindertagesbetreuung ein Großexperiment, dass wir im Nachgang gern wissenschaftlich auswerten würden. Schlussendlich hat es mich geärgert, dass es oft so dargestellt wurde, als könnte den Familien nichts schlimmeres passieren, als eine Zeitlang mit den Kindern gemeinsam zu Hause zu verbringen. Es gab durchaus auch Familien und Kinder, die davon profitiert haben. Für meinen jüngsten Sohn beispielsweise war diese Zeit mit dem geringeren sozialen Gruppendruck ein echter Segen.
Wie steht Deutschland bei der frühkindlichen Bildung da? Wo liegen die Stärken, wo die Herausforderungen? Von welchen Ländern könnte Deutschland lernen?
Ich bin selbst aus dem Osten und kann sagen, dass wir hier eine gute Versorgung mit Krippen- und Kitaplätzen haben – vor allem im Vergleich zu Westdeutschland. Generell liegt der Fokus in Deutschland entsprechend der Fröbelschen Tradition mehr auf dem Spielen, während beispielsweise die französische école maternelle stark verschult ist. Aber es gibt nach wie vor Ost-WestUnterschiede in der Kita-Pädagogik vor Ort, gerade was Mitbestimmung betrifft. Bei uns im Osten scheint mir noch immer die Ansicht stärker verbreitet zu sein, dass die Kinder zum Beispiel beim Essen von allem kosten oder sogar den Teller leer essen sollten. Es ist aber zentral, die Bedürfnisse der Kinder zu respektieren. Hier sind die skandinavischen Länder oder auch Neuseeland gut aufgestellt. Dort sind die Kitas stärker auf die Bedürfnisse der Kinder ausgerichtet. Es gibt dort beispielsweise auch ein anderes System der Entwicklungsdokumentation, das weniger auf die Defizite der Kinder schaut als das deutsche.
Woran können Eltern eine gute Kita erkennen?
An erster Stelle steht ein guter Personalschlüssel, der allein reicht aber nicht. Noch wichtiger ist die Gestaltung des Tages und die Interaktion zwischen Erzieher und Kind. Wie werden die Kinder wahrgenommen, dürfen sie mitbestimmen, werden Widerstände respektiert, werden ihre emotionalen und sozialen Bedürfnisse wahrgenommen? Ebenso wichtig sind kognitive Anregungen. Das kindliche Gehirn braucht „Futter“ und das soll nicht schulisch vermittelt, sondern in den Alltag integriert werden. Es ist unheimlich förderlich und prägend, wenn das in der frühen Kindheit systematisch passiert und nicht nur punktuell. Das hängt aber oft an einzelnen Erzieherinnen. Ein Anhaltspunkt für Eltern ist auch die Gestaltung der Räume. Aber da geht es nicht darum, dass alles frisch gestrichen und perfekt saniert ist. Überhaupt nicht. Es geht um andere Merkmale des Raums, die zeigen, wie gut eine Kita ist: Können die Kinder sich selbständig ihr Spielzeug herausnehmen oder ist so weit oben aufgeräumt, dass nur die Erzieherinnen herankommen? Erreichen sie ihre Garderobe und können sich selbständig an- und ausziehen? Oft werden Bilder oder Fotos der Kinder aufgehängt. Sind sie in Höhe der Kinder angebracht, so dass diese sie auch sehen können oder wird das nur für die Eltern gemacht?
Als eine große Herausforderung gilt die mangelnde Bildungsgerechtigkeit. Wie kann es besser gelingen, wirklich jedem Kind die gleichen Entwicklungschancen zu ermöglichen – unabhängig vom familiären Hintergrund?
Hier sind wir wieder beim Betreuungsschlüssel. Es braucht weniger Kinder je Erzieherin, so dass sie kompensatorisch auf jene Kinder wirken kann, die zu Hause nicht die Anreize und die soziale und emotionale Stabilität bekommen, die sie brauchen. Von professioneller Interaktion profitieren in der Regel ganz besonders jene Kinder, die bereits zu Hause gute Voraussetzungen haben. Sie erzählen dann in der Kita über den Wochenendausflug oder die beobachteten Schmetterlinge. Solche bildungsbürgerlichen Themen greifen die Erzieher gern auf. Damit erreichen sie aber nicht die Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien. Aber auch sie müssen gezielt angesprochen werden – mit ihren Themen. Das muss dann zur Not eben das TV-Programm vom Wochenende oder die Lieblings-Comicfigur sein.
Schon jetzt gibt es zu wenig ErzieherInnen. Was muss passieren, damit der Beruf attraktiver wird?
Ein Hauptproblem ist die fehlende Wertschätzung. Immer wieder wird betont, wie wichtig frühkindliche Bildung ist. Das spiegelt sich leider überhaupt nicht im Renommee dieses Berufs wider. Obwohl der Erzieher-Beruf eine hochanspruchsvolle Aufgabe ist, fehlt es an einer angemessenen Bezahlung und an Aufstiegschancen. Das ist sicher auch ein Grund, warum es so wenig Männer gibt, die findet man eher dort im System, wo Karriere möglich ist. Zweitens, müssen die Arbeitsbedingungen verbessert werden, insbesondere der Betreuungsschlüssel. Unter den jetzigen Bedingungen können die meisten Erzieherinnen ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht werden.
Wäre eine stärkere Akademisierung der richtige Weg für eine Aufwertung des Berufsfeldes?
Es müssen nicht alle Erzieherinnen an die Uni, aber ein guter Mix wäre durchaus wichtig. Derzeit haben wir einen relativ geringen Anteil von unter zehn Prozent. Meiner Meinung nach braucht es etwa 50 Prozent Hochschulabsolventen mit vertieftem Wissen in Entwicklungspsychologie, mehr theoretischem pädagogischen Background und reflektiertem Interaktionswissen. Das Hochschulstudium ist sehr attraktiv: Bei uns bewerben sich 5-10 Mal mehr Menschen als wir aufnehmen können. Hier muss sich im System etwas ändern. Wir brauchen mehr Studienplätze und die Bezahlung darf sich nicht nur nach der Tätigkeit bemessen, sondern auch nach der Ausbildung. Sonst sitzen am Ende die Hochschulabsolventen im Büro und machen als Leitung vor allem Papierkram, statt mit ihrem Know-how den gesamten Alltag anregend zu gestalten.
Bisher gibt es für Kitas keine einheitlichen und verpflichtenden Qualitätsstandards. Wäre das denn ein guter Weg für bessere Kitas?
Wir haben bereits einen Haufen Papiere, beispielsweise die Bildungspläne der Länder. Ich glaube, es hapert eher an der Umsetzung. Und eben am Personalschlüssel. Ein Blick auf die Schule zeigt zudem, dass mehr Standardisierung nicht automatisch zu mehr Qualität führt. Wenn man sich doch für Standards entscheidet, würde ich die nicht an den kindlichen Kompetenzen festmachen, sondern am pädagogischen Handeln und an den Kompetenzen der Pädagogen. Das wiederum müsste vor Ort überprüft werden. Hier wäre ich für ein öffentliches Ranking, das würde automatisch zu mehr Wettbewerb und damit mehr Qualität führen.
Wie viel Geld Eltern für die Betreuung ihrer Kinder bezahlen, hängt vom Wohnort ab. Kann es gute Kitas auch bei Beitragsfreiheit geben?
Ich finde Beitragsfreiheit sinnvoll und erstrebenswert, denn Bildung sollte generell kostenfrei sein. Wir haben aber nach wie vor ein Qualitätsproblem in den Kitas. Es braucht mehr Personal, mehr Qualität in der Interaktion, in der Partizipation und Beteiligung. Solange die finanziellen Ressourcen begrenzt sind, muss man Prioritäten setzen und sollte das vorhandene Geld lieber in die Verbesserung dieser Rahmenbedingungen stecken. Insofern finde ich es schade, dass bei der Diskussion um den Einsatz der Mittel aus dem Gute-KiTa-Gesetz die Beitragsfreiheit in einigen Bundesländern so stark in den Fokus gerückt wurde – zu Lasten einer ehrlichen Debatte um mehr Qualität.
Zum Schluss noch ein kurzer Exkurs in die Digitalisierung: Anders als in der Schule, spielt die Nutzung digitaler Medien in der Kita in der öffentlichen Diskussion bisher kaum eine Rolle. Inwieweit können und sollten digitale Medien den Alltag in der Kita begleiten?
Wir sehen aktuell, wie die Schulen regelrecht mit digitaler Technik überschwemmt werden. Ich habe Zweifel, dass das an Kitas auch so passieren sollte. Ich halte digitale Technik an Kitas dann für sinnvoll, wenn sie kreativ und interaktiv genutzt wird, wenn beispielsweise die Kinder in der Kita ihre Lieblingsmotive aufnehmen und dann schaut man sich das gemeinsam über den Beamer an. Schwierig wird es, wenn wir die Kinder einfach nur damit spielen lassen, selbst wenn es ein vermeintlich pädagogisch wertvolles Lernspiel ist. Kinder brauchen mehr face-to-face-Kontakt, mehr direkte Interaktion. Meine Sorge wäre eher, dass die digitale Technik in Kitas dazu genutzt wird, den bestehenden Personalmangel zu kompensieren.