Smartphones und andere Bildschirmmedien haben nach aktueller Studienlage keinen eindeutig bewiesenen, negativen Einfluss auf die Augen. Warum sie in Kinderhänden dennoch zurückhaltend genutzt werden sollten und warum er einem Buch den Vorzug geben würde, darüber haben wir mit dem Augenarzt Prof. Dr. Wolf Alexander Lagrèze gesprochen. Er ist Spezialist für Neuroophthalmologie und Kinderaugenheilkunde am Universitätsklinikum Freiburg.
Es heißt oft, dass die Kurzsichtigkeit bei Kindern zunimmt – können Sie diesen gefühlten Trend bestätigen?
Darüber liest und hört man viel. Weltweit gesehen kann man die Frage eindeutig mit ja beantworten, in Deutschland aber aktuell mit nein: In den letzten zehn Jahren hat die Kurzsichtigkeit bei Kindern in Deutschland nicht zugenommen. Auch in meinem Klinikalltag kann ich einen solchen Trend nicht beobachten. Über längere Zeiträume betrachtet hat allerdings die Rate in der Gesamtbevölkerung in Europa schon zugenommen, wenn auch nicht so stark wie in Asien
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Jüngere Studien belegen, dass häufiges Bücherlesen Kurzsichtigkeit bedingen kann. Würden Sie im Umkehrschluss empfehlen, weniger Bücher zu lesen?
Tatsächlich korreliert die Lese- oder Sehzeit im Nahbereich mit Kurzsichtigkeit. Das ist eine alte Weisheit, die statistisch mehrfach bewiesen wurde: Wer viel liest oder auch viel am Bildschirm arbeitet, hat ein höheres Risiko für Kurzsichtigkeit. Im Mittel führt ein Jahr Ausbildung zu 0,3 Dioptrien mehr an Kurzsichtigkeit. Aber deswegen würde ich nie davon abraten, weniger Bücher zu lesen. Ganz im Gegenteil: Die meisten Menschen lesen viel zu wenig Bücher. Es geht ja nicht nur um die Augen, sondern vor allem auch um Bildung. Da aber neben dem Leseabstand auch die Lichtmenge eine Rolle spielt, ist es sinnvoll, beim Lesen auf einen gewissen Mindestabstand und auf eine gute Beleuchtung zu achten.
Dagegen wurde bisher kein Zusammenhang zwischen Kurzsichtigkeit und häufiger Nutzung digitaler Medien wie Smartphones festgestellt. Gibt es dazu mittlerweile neue Erkenntnisse?
Es gibt keine Studie, die einen direkten Zusammenhang zwischen digitaler Mediennutzung und Kurzsichtigkeit belegt. Das heißt aber nicht, dass es keinen Zusammenhang gibt. Denn es wäre sehr schwierig bis unmöglich, diese Frage im Rahmen einer sorgfältigen Studie zu beantworten. Aber indirekt kann man schon darauf schließen, dass Kinder kurzsichtiger werden, wenn sie immer mehr zu Hause und vor dem Bildschirm sitzen, anstatt draußen zu spielen. Allerdings gehört das Smartphone auch erst seit wenigen Jahren zur Standardausstattung von Kindern und Jugendlichen. Insofern könnte man wahrscheinlich erst in den nächsten Jahren überhaupt einen solchen Smartphone-Effekt nachweisen. In der Beurteilung der Risiken des Medienkonsums, also Whatsapp, Minecraft, Roblox und Co. hätte ich auch weniger die Augen im Fokus, als vielmehr die sozialen und intellektuellen Kompetenzen unserer Kinder. Gerade das letzte Jahr mit Corona und den daraus folgenden Maßnahmen war für die junge Generation ein Desaster, ein von der Politik viel zu wenig beachtetes Problem.
Gibt es typische Signale, an denen Eltern eine mögliche Fehlsichtigkeit erkennen können?
Typisch ist, dass eine Kurzsichtigkeit erst spät erkannt wird, weil Kinder sich an den schlechten Seheindruck in der Ferne gewöhnen. Meist wird es dann erst in der Schule bemerkt, wenn das klein Geschriebene an der Tafel nicht mehr erkannt wird. Ein Hinweis ist, wenn Kinder blinzeln und die Augen zusammenkneifen, um in der Ferne schärfer zu sehen. Ein weiterer Tipp wäre, mit den Kindern einfach mal das Sehen in der Ferne zu testen, also zu fragen: Erkennst du da hinten auf dem Schild das, was ich gerade selber noch entziffern kann? Am besten mit beiden Augen getrennt.
Bei Kindern bis zum Schuleintritt erfolgt ein Sehtest regelmäßig bei den U-Untersuchungen beim Kinderarzt. Ist das aus Ihrer Sicht ausreichend?
Das Thema wird in der Fachwelt immer wieder diskutiert. Es ist ein Abwägen zwischen gesundheitsökonomischen Fragen, also einer Kosten-Nutzenbewertung und der Einzelfallbetrachtung. Innerhalb Europas wird das Thema sehr unterschiedlich gehandhabt. In Deutschland gibt es ein Sehscreening beim Kinderarzt und die Schuleingangsuntersuchung. Das ist gar nicht so schlecht. Es ist aber nur ein Screening und keine Diagnostik und damit fehleranfällig. Wir sehen immer mal wieder Kinder, deren Sehfehler beim Screening übersehen werden. Umgekehrt sind Kinder bei Screening auffällig, haben dann aber doch gesunde Augen. Was ich mir wünschen würde, wäre ein Sehschärfetest durch geschultes Personal für alle Kinder im Alter von vier Jahren, kombiniert mit einer Qualitätskontrolle und Eingabe der Daten in ein nationales Register. Optional kann man im Alter von zwei Jahren eine Untersuchung mit einem sogenannten Videorefraktometer durchführen. Der Nutzen ist aber gesundheitsökonomisch noch nicht belegt. All diese Maßnahmen im Vorschulalter zielen aber auch nicht auf die Kurzsichtigkeit, sondern auf die Amblyopie. Dies ist ein Entwicklungsdefizit des Sehens in den ersten Lebensjahren. Hierbei sind die Hauptrisikofaktoren Weitsichtigkeit, teils unterschiedlichen Ausmaßes an beiden Augen und Hornhautverkrümmung, also Astigmatismus.
Inwieweit kann sich eine Fehlsichtigkeit bei Kindern noch auswachsen?
Kurzsichtigkeit wächst sich nie aus. Eine geringe Weitsichtigkeit bis zu drei Dioptrien kann sich bis zum Grundschulalter auswachsen und geht dann vielleicht sogar in eine Kurzsichtigkeit über. Ist ein Kind dagegen schon im Vorschulalter mit mindestens vier Dioptrien weitsichtig, bleibt diese Weitsichtigkeit in der Regel bestehen.
Lässt sich schon im Kindesalter etwas dafür tun, dass die Augen möglichst lange gesund bleiben?
Ein augenärztliches Ziel ist, dass ein Mensch im jungen Erwachsenenalter nicht mehr als sechs oder gar mehr Dioptrien kurzsichtig ist. Denn bei solch hohen Werten steigt das Risiko für spätere Augenerkrankungen wie Makuladegeneration oder Netzhautablösung. Mit einfachen Mitteln wie viel Licht und nicht zu viel Nahsicht lässt sich das Risiko für Kurzsichtigkeit im Kinderalter etwas mindern und ihr Voranschreiten verlangsamen. Augenärzte können das durch hochverdünnte Atropinaugentropfen unterstützen oder auch durch spezielle Brillen und Kontaktlinsen. In Deutschland startet bald eine Studie, in welcher der Nutzen solcher Augentropfen überprüft wird (www.aim-studie.de).
Kinder erhalten bei Sehbeeinträchtigungen meist eine Brille. Wann können Kontaktlinsen eine Alternative sein?
Der Wunsch nach Kontaktlinsen kommt frühestens gegen Ende der Grundschulzeit auf, oft aus kosmetischen Gründen, ist allgemein aber selten. Wenn Eltern und Kind das wirklich wollen, spricht aus augenärztlicher Sicht nichts dagegen. Aber Kontaktlinsen machen mehr Mühe in der Handhabung und Pflege als eine Brille.
Der Sommer hat gerade begonnen. Inwiefern brauchen auch Augen Sonnenschutz?
Nein – nicht aus augenärztlicher Sicht. Die Hornhaut und die Augenlinse filtern das UV-Licht, so dass die Netzhaut keinen Schaden nehmen kann. Daher sind Sonnenbrillen mit UV-Schutz in unseren Breitengraden und Höhenlagen nicht notwendig. Wenn Sie jedoch eine zweitägige Gletscherwanderung auf 3.000 Metern Höhe machen, ist ein UV-Schutz sinnvoll, nicht aber im Alltag.
Nicht alle Kinder tragen ihre Brille gern. Haben Sie zum Schluss noch Tipps für Brillen-Muffel?
Den habe ich nicht, aber ich sage es mal so: Wer kurzsichtig oder auch weitsichtig ist und die Brille nicht trägt, nimmt keinen akuten Schaden. Ist die Fehlsichtigkeit stark ausgeprägt, wird das Kind die Brille ohnehin freiwillig tragen. Etwas anderes ist, wenn ein dreijähriges Kind mit Amblyopie seine Brille nicht trägt, dann lässt sich das später nicht mehr so gut korrigieren und das Kind behält ein Defizit. Es macht auch keinen Sinn, wenn Kurzsichtige ihre Brille bewusst nicht tragen, in der Annahme, dass dann die Kurzsichtigkeit besser werde.