Foto Marie J. Spitzer
Mehr Gelassenheit und Sachlichkeit in der Debatte um gendergerechte Sprache wünscht sich die Sprachwissenschaftlerin Prof. Dr. Carolin Müller-Spitzer. Sie leitet am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache das Projekt Empirische Genderlinguistik.
Sie haben jüngst einen Aufsatz mit der Frage überschrieben: „Geschlechtergerechte Sprache: Zumutung, Herausforderung, Notwendigkeit?“ Wir würden Sie diese Frage beantworten?
Ich bin für mich aufgrund der Erkenntnisse, die ich zu diesem Thema habe, zum Schluss gekommen, dass eine möglichst geschlechtergerechte Sprache eine Notwendigkeit ist, auch wenn es im sprachlichen Alltag oft eine Herausforderung ist. Ich habe darüber hinaus auch Freude daran, sprachlich Neues auszuprobieren und störe mich nicht daran, sprachliche Gewohnheiten zu verändern. Ich würde aber immer dafür plädieren, dass jeder Mensch individuell diese Schlüsse für die eigene Sprache ziehen sollte (oder eben nicht), das heißt dass es nicht automatisch eine Notwendigkeit für alle ist. In Institutionen können Richtlinien natürlich wichtig sein, allein aus Gründen der Einheitlichkeit, aber solche Richtlinien gelten dann immer nur für die Sprachpraxis im direkten Kontext dieser Institutionen.
Das Thema spielt schon länger in der öffentlichen Diskussion eine Rolle. Hat Sie die Heftigkeit nach der Duden-Entscheidung überrascht?
Ich beobachte die Diskussion seit etwa drei Jahren sehr intensiv und weiß, dass viele Gelegenheiten genutzt werden, um das Thema am Kochen zu halten. Die Duden-Entscheidung wäre an der Öffentlichkeit vermutlich völlig vorbeigegangen, wenn medial nicht so eine große Geschichte daraus entwickelt worden wäre. Etwas kurios finde ich nach wie vor, dass diese Aufregung vor allem von Gegner*innen geschlechtergerechter Sprache geschürt und gleichzeitig gesagt wird, wir hätten wichtigere Probleme. Es wäre schon sehr viel geholfen, wenn diejenigen, die immer wieder betonen, andere Dinge wären wichtiger, sich den für sie wichtigen Dingen dann auch einfach zuwenden würden.
Umstritten war auch die Entscheidung des Rats der deutschen Rechtschreibung verkürzende Formen wie : und * vorerst nicht ins offizielle Regelwerk aufzunehmen. Das betrifft insbesondere Schulen und Verwaltungen. Ein Argument ist die bessere Lesbarkeit und Barrierefreiheit u.a. für Grundschüler oder Nicht-Muttersprachler. Gehen Sie mit dieser Argumentation mit?
Studierende haben aus Praktika berichtet, dass z.B. der Genderstern in der Grundschule kein Problem darstellt, wenn er erklärt wird, systematische Erhebungen kenne ich aber noch nicht. Man kann aber davon ausgehen, dass Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung, nicht regelhafte Schreibungen im Verhältnis zur Lautung für Lernende sicherlich viel größere Herausforderungen sind. Die Barrierefreiheit ist aber ein Aspekt, den man gut im Auge behalten muss. Für Leichte Sprache gibt es meines Wissens den Vorschlag, geschlechtergerechte Sprache nur dann anzuwenden, wenn sie einen Text nicht komplexer macht (weil bei Leichter Sprache die leichte Verständlichkeit nun einmal das wichtigste Kriterium ist). Beim Vorlesen von Texten für Blinde oder Sehbehinderte ist meiner Kenntnis nach vor allem die mangelnde Einheitlichkeit im Moment ein Problem. Hätten wir einen einheitlicheren Umgang, z.B. immer den Genderstern zu verwenden, könnte man die Screenreader und andere Tools, die Blinde und Sehbehinderte verwenden, entsprechend programmieren. Insgesamt finde ich aber auffällig, dass die Aspekte Lernbarkeit, Barrierefreiheit etc. so sehr auf geschlechtergerechte Sprache konzentriert werden. Genauso könnte man ja auch fordern, komplexen Satzbau grundsätzlich zu vermeiden, weil er Texte für Lernende viel schwerer verständlich macht. Dies wird aber nicht gemacht.
Kritiker einer gendergerechten Sprache verweisen gern auf das grammatische Genus. Was antworten Sie auf deren Kritik?
Zunächst einmal kann man sagen, dass das grammatische Geschlecht in der Sprache und die Geschlechtsidentität einer Person (Gender, oder als biologisches Geschlecht: Sexus) unterschiedliche Kategorien sind. Aber: Bei Personenbezeichnungen reflektiert das grammatische Geschlecht oft die Geschlechtsidentität, weil sie uns in der Kommunikation wichtig ist. Es heißt nicht ohne Grund der Vater, der Bruder und der Onkel und die Mutter, die Schwester und die Tante. Man spricht von morphologischen (aus der Wortgestalt ableitbar) und semantischen (von der Wortbedeutung ableitbaren) Prinzipien der Genuszuweisung. Bei den Personenbezeichnungen sind oft die semantischen Prinzipien bestimmend. Insofern greift das Schlagwort ‚Genus ist nicht gleich Sexus‘ im Kontext von Personenbezeichnungen zu kurz.
Ein weiteres Argument kritisiert, dass die gendergerechte Sprache nicht konsequent zu Ende gedacht sei. Sonst müsste es auch heißen „Zur Zeit der Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen…“ oder „Die Verbrecher und Verbrecherinnen…“ Ein nachvollziehbares Argument?
Nein, es ist ja nicht so, als müsste man immer alles gendern. Zunächst einmal geht es ja um die Sichtbarmachung, darum, deutlich zu machen, dass man an alle Menschen denkt. Das kann man aber auch an einzelnen Stellen machen. Außerdem ist es ein kontinuierlicher Prozess der Veränderung, was wir geschlechtergerecht umformulieren und was nicht. Sehr gut hat das der Kollege Stefan Hartmann in einem Essay im Debattenportal wbg Community ausgedrückt: „Da es ja aber in erster Linie um Sichtbarmachung geht, konstruiert die Kritik an mangelnder konsequenter Umsetzbarkeit ein Problem, das es gar nicht gibt. Dass die Umsetzung geschlechtergerechter Sprache in ihrer Konsequenz variiert, zeigt auch, dass Sprecherinnen und Sprecher von ihrer Freiheit Gebrauch machen, selbst die Balance auszuloten zwischen Sichtbarmachung von Geschlechterdiversität auf der einen Seite und persönlichem ästhetischem Empfinden auf der anderen.“
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse der Forschung zu den Auswirkungen gendergerechter Sprache?
Das ist natürlich schwer, so knapp zusammenzufassen. Vielleicht die für mich wichtigsten Punkte: Die empirische Evidenz deutet darauf hin, dass die männliche Form (das sogenannte generische Maskulinum) nicht neutral ist, sondern im Sprachverstehen eher auf männliche Personen bezogen wird. Es spricht auch viel dafür, dass es kein Zufall ist, dass es etwas mit unserer androzentrischen Vergangenheit (der Ausrichtung auf den Mann als Norm) zu tun hat, dass wir den männlichen Formen generisches Potential zuweisen. Genauso war der ‚Normpatient‘ lange Zeit männlich, 75 kg schwer und Weiß, genauso wie der ‚Norm-Crashtest-Dummy‘ nur Varianten des männlichen Körpers abbildet, keinen weiblichen. Ich habe beispielsweise noch nie gelesen, dass einem femininen Grundwort wie Braut oder Witwe generisches Potential zugewiesen wird. So müssten wir – analog zu „99 Lehrerinnen und ein Lehrer sind 100 Lehrer“ sagen „99 Witwer und eine Witwe sind 100 Witwen“. Das fordert aber interessanterweise niemand, dabei sind Braut und Witwe genauso Grundwörter mit systematischer Genusdifferenzierung. Das heißt das generische Maskulinum ist nicht die neutrale Folie, wie man es vielleicht gerne hätte. Außerdem deutet die empirische Evidenz darauf hin, dass Sprache einen Beitrag zu Chancengleichheit leisten kann. Hinzu kommt, dass ich mich mit meiner Sprache natürlich auch positioniere. Wenn ich geschlechtergerechte Sprache verwende, mache ich damit deutlich, dass mir das Thema wichtig ist. Das kann gerade für öffentliche Institutionen ein wichtiges Argument sein.
Sie raten zu mehr Gelassenheit und Sachlichkeit in der Debatte. Wie ließe sich das aus Ihrer Sicht erreichen?
Ganz wichtig scheint mir, dass wir uns auf die Gegenwart und die Zukunft konzentrieren und nicht so sehr auf die Vergangenheit. Einige Menschen scheinen sich davon persönlich angegriffen zu fühlen, dass sie – wenn geschlechtergerechte Sprache wirklich wichtig ist – ihr gewohnter Sprachgebrauch irgendwie schlecht sei. Darum geht es aber gar nicht. Es geht auch nicht darum, alles in schnellem Tempo mitzumachen. Vielmehr sollte man diejenigen, die neue Sprachformen ausprobieren möchten, entspannt experimentieren lassen und schauen, wo es uns hinführt. Die sprachliche Welt geht davon ganz bestimmt nicht unter, im Gegenteil: vielleicht werden uns so neue Horizonte eröffnet. Außerdem wundert mich der Vorwurf der Bevormundung oder Sprachdiktatur. Niemandem wird vorgeschrieben, wie man zu sprechen und zu schreiben hat, es sei denn in einem professionellen Kontext. Wenn uns Geschlechtergerechtigkeit wirklich wichtig ist, sollten wir uns zumindest darauf einigen können, eine gewisse Toleranz auch sprachlich zu zeigen, bei allem Respekt gegenüber der sprachlichen Freiheit aller Individuen. Und wichtig ist: miteinander reden. Wenn beispielsweise Studierende den Eindruck haben, sie müssten eine bestimmte Form geschlechtergerechter Sprache verwenden (bisher ist kein Fall offiziell bestätigt), dann sollten sie mit ihren Dozent*innen sprechen.
Ist es auch ihrer Sicht lohnenswert diese mitunter hitzige Debatte dennoch zu führen? Warum bzw. warum nicht?
Auf die unsachliche Ebene der Debatte würde ich gerne verzichten. Lohnend ist die Debatte dann, wenn sie uns darüber nachdenken lässt, warum das Thema so heftig diskutiert wird. Warum kommt beispielsweise das Argument, es gäbe wichtigere Probleme, bei Themen wie geschlechtergerechte Sprache oder Rassismen in der Sprache, aber nicht bei der Planung eines neuen Kreisels in der Ortsdurchfahrt? Was genau erzeugt die Gegenwehr? Ist die Sprache hier zu einem symbolischen Platz geworden, an dem man eigentlich gesellschaftliche Vorstellungen zu Rollenverteilungen, Arten gegenseitiger Rücksichtnahme und Machtverteilung diskutiert? Wenn wir da ernsthaft drüber streiten und diskutieren, dann kann uns das im besten Fall als Gesellschaft auch weiterbringen.
Wissen Sie, inwiefern solche Debatten um gendergerechte Sprache auch in anderen Ländern geführt werden? Gibt es dort vielleicht Ideen und Anregungen, von denen wir uns inspirieren lassen könnten?
Ja, diese Diskussionen gibt es auch in anderen Ländern wie Frankreich oder Spanien. Im Englischen wird beispielsweise auch häufiger they im Singular verwendet, um die Festlegung auf he oder she zu umgehen. Was wir aus dem angloamerikanischen Raum oder auch aus Schweden lernen können, ist auf jeden Fall mehr Gelassenheit.
Wie handhaben Sie gendergerechtes Sprechen und Schreiben privat?
Ich verwende im Schriftlichen meist Neutralisierungen (wie Lehrkraft oder Studierende) und sonst den Genderstern. Im Mündlichen wechsele ich: mal Doppelformen, mal Sprechpause. Insgesamt lerne ich noch jeden Tag dazu, welche Form für welchen Kontext gerade passend ist und v.a. für mich auch passt. Bei meinen Kindern sehe ich, dass sie schon in jungen Jahren mit einer viel größeren Selbstverständlichkeit gendern.