Warum die Pandemie zu mehr Hörstörungen geführt hat und welche Kopfhörer für die Ohren am besten sind, verrät Dr. Barbara Lindemann im Gespräch. Sie ist Fachärztin für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde sowie für Stimm-, Sprach- und kindliche Hörstörungen mit eigener Praxis in Potsdam.
Das Hörvermögen von Kindern wird kurz nach der Geburt beim Neugeborenen-Hörscreening und später bei den U-Vorsorgeuntersuchungen getestet. Ist das aus Ihrer Sicht ausreichend?
Das Hörscreening war ein großer Fortschritt. Dank dieses Hörtests kurz nach der Geburt können wir 95 Prozent der Kinder frühzeitig entdecken, die gehörlos oder stark schwerhörig zur Welt kommen. Dadurch können sie schon sehr früh mit Hörgeräten oder einem Cochlea-Implantat versorgt werden und sich sprachlich weitgehend normal entwickeln. Um jene Kinder zu entdecken, die an einer vergleichsweise geringen Hörstörung leiden, sind weitere Hörtests im Laufe der Kindheit notwendig. Das passiert in Deutschland flächendeckend bei der U8 zum
4. Geburtstag. Hier würden wir uns wünschen, dass Kinder mit Sprachauffälligkeiten schon bei der U7 bzw. U7a zeitnah einem Facharzt vorgestellt werden würden zur Abklärung einer ursächlichen Hörstörung.
Eine Mittelohrentzündung tritt bei jüngeren Kindern recht häufig auf. Gibt es eine Faustregel, wie häufig noch normal ist?
Nein, das lässt sich pauschal nicht sagen. Manche Kinder sind vier, fünf Mal im Jahr betroffen, so dass auch über operative Maßnahmen nachgedacht werden muss. Da bleibt den Eltern nicht viel übrig, als die Symptome zu lindern. Bei leichten Beschwerden helfen Hausmittel wie Zwiebelsäckchen, Nasenspülungen, Inhalieren oder Rotlicht. Viele Eltern bei uns in der Praxis haben gute Erfahrungen mit dem pflanzlichen Arzneimittel Otovowen gemacht. Tritt nach ein bis zwei Tagen keine Besserung auf, sollte man einen Arzt ins Ohr schauen lassen. Wichtig ist auch, dass eine mit einer Mittelohrentzündung häufig einhergehende Hörminderung nicht länger als ein bis zwei Monate andauert, da sonst die sprachliche Entwicklung verzögert werden könnte oder die Orientierung im Straßenverkehr erschwert wird.
Die Studienlage zum Einsatz von Paukenröhrchen bei chronischem Paukenerguss ist teils widersprüchlich. Lässt sich pauschal sagen, wann die OP sinnvoll ist und wann Eltern abwarten können?
Hier muss man bei jedem Patienten individuell abwägen zwischen Befund und Symptomen. Zunächst einmal ist ein Paukenerguss ja nichts anderes als eine Wasseransammlung im Mittelohr in Folge einer Mittelohrentzündung. Das ist zunächst kein Problem, so dass man abwarten kann. Eine chirurgische Intervention ist dann zu empfehlen, wenn das betroffene Kind langfristige Probleme hat und beispielsweise schlecht hört oder Gleichgewichtsstörungen hat bzw. Defizite in der Sprachentwicklung zeigt. Auch häufige eitrige Mittelohrentzündungen können ein Indiz für die Notwendigkeit einer Operation sein.
Blicken wir zurück auf zwei Jahre Pandemie. Welchen Einfluss hatte sie auf das Hörvermögen von Kindern und Erwachsenen?
Da gab es jede Menge Veränderungen. Auf der einen Seite haben Hörstörungen bei Kindern in Folge von Mittelohrentzündungen und Erkältungserkrankungen abgenommen. Das lag einfach daran, dass wir weniger Krankheitserregern ausgesetzt waren. Andererseits haben jene Hörstörungen zugenommen, die auf ein verändertes Hörverhalten und Stress zurückzuführen sind.
Wie hat sich das konkret bemerkbar gemacht?
Bei uns in der Praxis haben wir verstärkt Hörermüdungserscheinungen, Ohrgeräusche bzw. sogenannte Hörwahrnehmungs- und -Verarbeitungsstörungen festgestellt. Sie sind Folge von zusätzlichen akustischen Reizen wie beispielsweise dem vermehrten Hören von Medien, Hörbüchern und Podcasts. Zusätzlich führt die stärkere Nutzung von Kopfhörern zu Problemen. Das ist für die Hörsinneszellen und für die muskulären Schutzreflexe im Mittelohr eine mechanische und sensorische Belastung. Die Folge sind messbare Veränderungen akustisch-sensorischer Erschöpfungszustände, die zu leichten Symptomen wie Hörwahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen oder Ohrgeräuschen führen. Der Trend zu Videokonferenzen hat ebenso seinen Anteil daran. Bei einer Videokonferenz nehmen wir akustische Eindrücke ganz anders wahr. Zum einen ist die Mimik unseres Gegenübers reduziert. Wir sitzen oft verspannt vor dem Bildschirm. Großen Einfluss hat auch die Schallqualität, die vor allem vom genutzten Gerät und den Kopfhörern abhängig ist.
Welche Art von Kopfhörer können Sie denn empfehlen?
Wenn Kopfhörer nötig sind, dann rate ich immer zu over-ears. Sie sind für Ohr und Gehörgang entspannter. Im Gegensatz zu in-ear-Hörern belasten sie das Mittelohr nicht so stark. Wichtig ist, dass man unabhängig vom Modell immer auf eine noise-cancelling-Funktion achtet. Diese hat den Vorteil, dass Umgebungsgeräusche ausgeblendet werden. Entscheidend ist eine gute akustische Qualität der Schallübertragung, also ein möglichst breites Frequenzvolumen.
Sie sprachen von einer Zunahme an Hörstörungen. Gilt das auch für Tinnitus?
Auch da stellen wir eine Zunahme fest. Sowohl Ohrgeräusche als auch Ohrdruck treten verstärkt auf. Das setzt zum Teil schon im Vorschulalter ein und potenziert sich dann deutlich während der Schulzeit. Bei Kindern sind etwa 20 Prozent betroffen, bei den Erwachsenen 30 bis 40 Prozent. Hauptgrund dafür ist zunehmender akustischer Stress. Immerhin ist diese Form des Tinnitus gut behandelbar, wenn man die Ursachen beseitigt, sich also mehr Ruhe gönnt. Wenn der Tinnitus so weit fortgeschritten ist, dass bereits Haarzellen beschädigt sind und die Ohrgeräusche dauerhaft auftreten, ist es schon schwieriger.
Das heißt, viele Hörstörungen würden sich schon mit mehr Ruhe vermeiden oder verbessern lassen?
Tatsächlich ist es so, dass wir oft zunächst einmal akustische Ruhe empfehlen. Das kann für Kinder beispielsweise heißen, abends im Bett nicht noch ein Hörbuch zu hören.
Gibt es im Alltag typische Lärmquellen, die Familien unterschätzen und die sie gegebenenfalls ausschalten oder zumindest reduzieren können?
Problematisch finde ich lautes Spielzeug, weil die Kinder es häufig nah an den Ohren nutzen. Aber auch das Nutzen von Kopfhörern oder das häufige Abspielen von Tonie-Boxen, die schlechte akustische Qualität von Gesprächen über iPad oder Smartphone und der ständige Umgebungs- und Freizeitlärm können zu einer akustischen Erschöpfung führen. Eltern sollten dem bewusst immer wieder Ruheinseln im Alltag entgegensetzen.
Haben Sie zum Schluss noch einen Tipp, wie Eltern und Kinder ihren Ohren etwas Gutes tun können?
Das ist neben den bereits erwähnten Ruhepausen für die Ohren ein bewussteres Zuhören und Hinhören. Viele Geräusche wie das Radio oder den Fernseher nehmen wir nur noch nebenher wahr. Hier wäre es beispielsweise ein schöner Gegenpol, wenn sich Eltern mit ihren Kindern hinsetzen und bewusst mit viel Mimik und Gestik sowie Intonation einfach eine Geschichte vorlesen.