Interview mit Ulric Ritzer-Sachs. Der Sozialpädagoge berät Eltern und Jugendliche bei der Online-Beratungsstelle der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. bke. Im Gespräch erklärt er, wie Eltern am besten bei Zoff im Kinderzimmer reagieren.
Warum streiten sich Geschwister überhaupt?
Kinder streiten sich eben. Für das Warum gibt es viele Gründe, die auch schon wissenschaftlich untersucht und erklärt wurden. Diese Frage finde ich aber gar nicht so wichtig. Ich glaube viel wichtiger ist für die meisten Eltern die Frage, wie sie mit dem Streit umgehen sollten.
Und? Wie sollten sie?
Das Zauberwort ist Gelassenheit. Ich weiß, dass das im Alltag mit Kindern ein hoher Anspruch ist, den ich aber für sehr wichtig halte. Bei einem Streit halten sich Eltern am besten erst einmal zurück, sie müssen nicht sofort eingreifen. Die Kinder sollten versuchen, zunächst allein eine Lösung zu finden.
Wann sollten sie doch lieber eingreifen?
Das hängt ganz stark von den persönlichen Grenzen und Vorstellungen der Eltern ab. Ich würde diese Grenzen gern eher weit gefasst sehen. Wenn sich Kinder mal schubsen oder einer dem anderen vor das Schienbein tritt, ist das aus meiner Sicht noch kein Grund, dazwischen zu gehen. Meist hören die Kinder von allein wieder auf. Und solange es nicht eskaliert, können Eltern sich wirklich zurücknehmen.
Das ist leichter gesagt als getan… Ja, das klingt erst mal schwer. Aber es lohnt sich. Wenn sich Eltern immer wieder früh einmischen, gewöhnen sich Kinder daran und kommen ständig angerannt, wenn es Zoff im Kinderzimmer gibt. Insofern ist das Abwarten ein Vorschlag, der den Alltag langfristig erleichtern kann. Es gibt da – wie auch in anderen Erziehungsfragen – nicht die eine allgemeingültige Antwort, sondern nur verschiedene Haltungen.
Und wenn ich doch dazwischen gehen möchte oder ein Kind mich um Hilfe bittet?
Eine ganz ungünstige Reaktion wäre die Frage: „Wer von euch hat angefangen?“ Das können Sie als Eltern nie wirklich klären und das bringt die Kinder am Ende auch nicht weiter. Meine Lieblingsfrage lautet stattdessen: „Wollt ihr weiter miteinander spielen?“ Wenn die Kinder das bejahen, kann man sie zunächst bitten, allein eine Lösung zu finden, statt selbst eine Lösung anzubieten. Wenn man Kindern diesen Freiraum bietet, sind sie meist erstaunlich kreativ. Wenn sie aber gar nicht miteinander weiterspielen möchten, dann sollte man sie getrennt weiterspielen lassen oder ihnen alternative Beschäftigungsmöglichkeiten aufzeigen.
Streit zwischen Geschwistern ist für die Eltern ziemlich nervenaufreibend. Hat er denn auch etwas Gutes?
Streit gehört zur Entwicklung der Kinder einfach dazu. Er bietet ihnen die Möglichkeit, Auseinandersetzungen im geschützten Rahmen der Familie einzuüben.
Ändert sich die Streitkultur und die Streithäufigkeit zwischen Kindern im Laufe der Kindheit und Jugend?
Kleine Kinder streiten natürlich anders als Jugendliche. Sie haben ganz andere Themen, die aus Erwachsenensicht eher banal und leicht zu klären sind. Da geht es beispielsweise darum, wer jetzt die Schippe benutzen darf. Mit der Pubertät kommen neue, ernstere Themen, vielleicht der Neid auf die große Schwester, die viel mehr Freunde hat, immer bessere Noten schreibt und bei anderen einfach gut ankommt, während man selbst sich als Looser fühlt.
Welchen Rat würden Sie in diesem konkreten Fall geben?
Die Gefühle ernst nehmen. In einem Gespräch zusammen herausfinden, um was es eigentlich geht. Was das große Kind für Bedürfnisse hat. Was fehlt. Körperkontakt, trösten und Ressourcen aufzeigen, das kann helfen. Und bei hartnäckigen, länger anhaltenden, schweren Situationen sich Hilfe von außen holen.
Neid ist ohnehin ein großes Thema zwischen Geschwistern. Was können Eltern gegen dieses Gefühl tun?
Wenn das vom Kind häufiger angesprochen wird, dann sollten Eltern in sich gehen und überlegen, ob da etwas dran sein könnte. Die beste Lösung ist es, einen Ausgleich zu schaffen. Das passiert am besten über zusätzliche, exklusive Zeit für das Kind, das sich benachteiligt fühlt.
Wie können Eltern eine positive Geschwisterbeziehung ihrer Kinder fördern?
Vergleiche sind absolute Beziehungskiller für Geschwister. Stattdessen sollten Eltern jedes Kind so nehmen, wie es ist und ihm das geben, was es braucht. Ein Kind braucht vielleicht mehr Kuscheleinheiten, das andere mehr Unterstützung in der Schule. Kinder sind verschieden. Diese Verschiedenheit zuzulassen, ist wichtig.
Streiten Zwillinge anders?
Zwillinge haben zueinander eine viel engere Beziehung als „normale“ Geschwister. Durch die direkteren Vergleichsmöglichkeiten streiten sie aber auch häufiger und heftiger. Aber bei Zwillingen ist nicht nur das Streiten intensiver, sondern auch die Zuneigung. Sie können eine sehr eingeschworene Gemeinschaft bilden.
Und wie ist es bei Halb- oder Stiefgeschwistern?
In Patchwork-Familien wiederum hängt die Entwicklung der Geschwisterbeziehung unter anderem vom Alter der Kinder ab. Bei kleineren Kindern ist das Zueinanderfinden vermeintlich leichter. Ältere Kinder ab der Pubertät tun sich schon schwerer, gewohnte Positionen in der Familie aufzugeben. Für sie ist es ein großer Bruch, wenn sie plötzlich nicht mehr allein sind oder nicht mehr die Älteste. Hier sind die Erwachsenen gefragt. Sie müssen den Kindern einen starken Ausgleich anbieten und darauf achten, allen Kindern gerecht zu werden.
Ist das Thema Streit unter Geschwistern oft Thema in Ihrer Erziehungsberatung?
Sowohl Eltern als auch Jugendliche wenden sich sehr häufig mit diesem Thema an uns. Bei den Jugendlichen liegt das Problem oft im Neid auf das vermeintlich bessere oder erfolgreichere Geschwisterkind. Eltern jüngerer Kinder haben andere Streitthemen, da empfehlen wir Gelassenheit. Natürlich müssen sie auch Haltung zeigen und klar Grenzen aufzeigen, aber in den meisten Fällen würde schon etwas mehr Gelassenheit helfen.
Ich nenne Ihnen mal drei klassische Streitthemen zwischen Kindern. Wie lässt sich der Konflikt jeweils am besten auflösen?
Erstens: Der zweijährige Bruder hat den Bausteinturm seiner fünfjährigen Schwester umgeworfen. Hier sollten Sie die große Schwester trösten, sie in den Arm nehmen und vielleicht sagen: „Mensch, das ist aber doof.“ Den Bruder können Sie in dem Moment bewusst kurz nicht beachten und die ganze Aufmerksamkeit der Schwester schenken. Dann können Sie eine Lösung anbieten: „Wollen wir den Turm wieder aufbauen? Ich helfe dir und dein Bruder hilft auch mit, ok?“ Was falsch wäre: Die Situation zu dramatisieren oder den Bruder zu bestrafen, indem man ihm beispielsweise beim Mittag den Nachtisch verbietet. Strafen und auch Schreien sind in der Erziehung generell wenig hilfreich und helfen – wenn überhaupt – höchstens kurzfristig.
Die zwölfjährige Schwester ist sauer, weil ihre zehnjährige Schwester bis 19 Uhr draußen bleiben darf, was sie mit zehn noch nicht durfte.
Auch sie braucht Trost. Hier könnten Sie sagen: „Das ist echt ärgerlich für dich und ich verstehe deinen Ärger, aber ich kann das jetzt nicht mehr rückgängig machen. Wir waren damals vielleicht zu streng und haben in den letzten zwei Jahren auch dazu gelernt.“ Bieten Sie der älteren Tochter einen Ausgleich an und fragen: „Kann ich jetzt irgendetwas für dich tun? Was würde dir guttun? Wollen wir vielleicht etwas spielen oder ein Eis essen gehen?“ Wichtig ist, sie in dem Moment aus der Frustsituation rauszuholen.
Zwei Geschwister (5 und 8) streiten sich um ein Spielzeug, das jeder von ihnen genau jetzt benutzen will.
Sie könnten die beiden fragen: „Habt ihr eine Idee, wie ihr das lösen könnt?“ Wenn sie keinen Vorschlag haben, dann bieten Sie eine Lösung an: Die Kinder könnten eine Münze werfen, wer zuerst mit dem Spielzeug spielen darf. Und dann wird eine Eieruhr gestellt und nach einer festgelegten Zeit darf das andere Kind das Spielzeug haben.
Und wenn nach dem Münzwurf das Kind, das nicht zuerst mit dem Spielzeug spielen darf, immer noch frustriert ist?
Dann sollten Sie es aus der Situation rausholen und ihm eine Alternative anbieten. Das kann ein anderes Spiel sein oder Sie brauchen gerade in der Küche Hilfe beim Kochen.
Wenn ich aber gar keine Zeit habe, um mit dem frustrierten Kind zu spielen oder zu kochen?
Natürlich ist das im Familienalltag manchmal schwer umzusetzen, aber aus meiner Erfahrung aus den Beratungsgesprächen und als Vater kann ich sagen: Es lohnt sich, diese Zeit zu investieren und sich ein paar Minuten zu nehmen, um das Kind in seinem Frust aufzufangen. Meistens haben sich die Kinder dann ohnehin schnell beruhigt und ihren Streit schon wieder vergessen.
Vielen Dank für das Gespräch.