Diese Frage hat der Soziologe Dr. Christian Zeller wissenschaftlich untersucht und damit Forschungsneuland betreten. Im Interview verrät Dr. Christian Zeller nicht nur, welchen Mehrwert Ratgeber für Eltern haben, sondern auch, welche Themen besonders gefragt sind und warum Väter seltener zu Ratgebern greifen als Mütter.
Um den Titel Ihres Buchs aufzugreifen: Warum lesen Eltern Ratgeber?
Zu dieser Frage habe ich eine explorative Studie unternommen, eine Studie also, die ein Forschungsfeld erst einmal sondiert, weil bis dahin keine oder nur geringe Erkenntnisse vorlagen. Ich habe sechs Interviews mit Müttern geführt, die Elternratgeber zur Erziehung ihrer Kinder lesen. Bei der Auswertung der Interviews stellte sich heraus, dass sich die Mütter mit Hilfe der Elternratgeber von der Erziehung ihrer eigenen Eltern abgrenzen, um die Erziehung ihres Kindes noch kindzentrierter zu gestalten und noch mehr auf dessen Bedürfnisse, Wünsche und Talente einzugehen. Dieser Befund bedeutet, dass die Kindzentrierung in der Erziehung ein sehr lang anhaltender Trend ist, der sich auch dann noch fortsetzt, nachdem mit den gesellschaftlichen Veränderungen in den 1960er Jahren bereits sehr starke Liberalisierungsschübe auch in der Familienerziehung erreicht worden sind. Die Eltern der von mir befragten Mütter wiederum gehörten ja bereits einer Generation an, in der autoritäre Erziehungsmuster bereits deutlich erodiert waren.
In welchen Situationen suchen Eltern typischerweise den Rat eines Erziehungsratgebers?
Abgehandelt werden in Elternratgebern sämtliche Situationen, die in der Erziehung relevant sind: Von Sauberkeitserziehung bis hin zu Pubertätskrisen reicht die Bandbreite, und Eltern suchen sicherlich zu all diesen konkreten Situationen Unterstützung, wenn sie einen Elternratgeber zu Rate ziehen. In meiner Studie haben die befragten Mütter allerdings weniger bei akuten Krisen auf Elternratgeber zurückgegriffen, sondern vielmehr zielten sie darauf ab, mit den Ratgebern ihre eingeschliffene Wahrnehmung auf den alltäglichen Umgang mit ihrem Kind so aufzubrechen, dass darin neue pädagogische Anregungen – und damit: das Potenzial zur Förderung ihrer Kinder – aufschienen. Eine Mutter etwa erzählte mir folgende Episode: Sie liegt mit ihrer dreijährigen Tochter auf einer Wiese und beide betrachten den Zug der Wolken. Da erinnert sich die Mutter daran, dass sie in einem Ratgeber gelesen hat, man solle zur Sprachförderung des Kindes den Himmel verbal beschreiben – und schon erscheint ihr die banale Alltagssituation im Lichte einer Entwicklungsanregung, die sie dann prompt mit ihrer Tochter umsetzt.
Welche Vor- und welche Nachteile haben Ratgeber?
Grundsätzlich finde ich es immer einen Gewinn, wenn man sich bewusst mit dem auseinandersetzt, was man ohnehin im Alltag, in der Familie, im Beruf tut. So fördert man den reflektierten Umgang mit sich, seinen Mitmenschen und seiner natürlichen Umwelt. Das Wohlergehen von Kindern hängt in vielerlei Hinsicht auch vom Verhalten der Eltern ab, so dass eine Selbstaufklärung über die eigenen Erziehungsgrundsätze sicherlich nicht schaden kann. Einen Nachteil stellen Elternratgeber aus meiner Sicht aber eher dann dar, wenn man sich damit gerade diesen Prozess der bewussten Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten ersparen möchte und auf gleichsam technisch umzusetzende Ratschläge hofft, die irgendein „Problem“ beseitigen sollen. Ob Elternratgeber also eher Vorteile oder eher Nachteile aufweisen, hängt sehr stark davon ab, wie von ihnen Gebrauch gemacht wird. Abgesehen davon gibt es natürlich Ratgeber, die man heute nicht mehr lesen sollte, was aber auch kaum jemand tut: Johanna Haarer zum Beispiel. Man sieht daran insgesamt, dass sich in der Familienerziehung doch auch sehr vieles zum Positiven verändert hat, wenn ich auch persönlich die Tendenz zu einer aus elterlichen Projektionen, Ängsten und Wünschen sich speisenden Überbehütung von Kindern skeptisch sehe.
Gibt es einen bestimmten Eltern-Typus, der eher zu Ratgebern greift?
Von einem „bestimmten Typus“ würde ich nicht sprechen, aber Elternratgeber sind in der gehobeneren Mittelschicht, und zwar insbesondere bei Frauen, sehr stark verbreitet. In weniger begüterten Schichten mit einem niedrigeren Bildungsstand sind Elternratgeber in Buchform weniger verbreitet. Väter stehen Ratgebern eher skeptischer gegenüber und vertrauen – das ist ein Befund, der mich zunächst überrascht hat – eher auf ihre intuitiven Kompetenzen, während Mütter häufiger der Auffassung sind, sie müssten sich von Elternratgebern anleiten lassen. Diese geschlechtsspezifische Divergenz lässt sich psychologisch so erklären, dass Männer im Durchschnitt dazu neigen, eine größere Selbstgewissheit bezüglich ihrer wahrgenommenen Kompetenzen auszubilden, während Frauen im Durchschnitt eher an sich zweifeln und angesichts der immer noch großen Unterschiede bei der faktischen Erziehungsverantwortung zwischen den Geschlechtern auch unter einem größeren Druck stehen, es mit ihren Kindern „richtig zu machen“. Die Betonung, dass es sich hier um Durchschnittswerte handelt, ist wichtig. Denn es gibt selbstverständlich eine hohe Varianz auch innerhalb des jeweiligen Geschlechts, also: Männer, die zur Selbstinfragestellung neigen und Frauen, die sehr selbstbewusst bezüglich ihrer eigenen Fähigkeiten sind.
Lässt sich sagen, ob Ratgeber nur gelesen oder ihre Ratschläge auch praktisch umgesetzt werden?
Die Ratschläge werden umgesetzt, aber die Umsetzung wird von vielen Faktoren gebrochen und modifiziert. Dazu gehören eigene, tief angelegte, zumeist durch die eigene Kindheit erworbene Überzeugungen bezüglich Erziehung, aber auch ganz banale situative Faktoren: Wenn der Erziehungsratschlag lautet, die Kinder bei Entscheidungen miteinzubeziehen, aber vor dem Arztbesuch Zeitdruck herrscht, dann wird das zügige Anziehen der Schuhe auch schon einmal „autoritär“ befohlen. Ein weiterer Faktor, der die Umsetzung von Ratschlägen bisweilen behindert, ist die Widersprüchlichkeit mancher Erziehungsratgeber untereinander. Wenn Eltern widersprechende Informationen bekommen, dann besinnen sie sich auf ihre intuitiven Kompetenzen, weil man ja nicht Ratschlag A und sein Gegenteil zugleich befolgen kann.
Erziehungsratgeber können unterschiedliche Schwerpunkte setzen: Schlafen, Förderung, Geschwisterbeziehungen, Medienkonsum. Gibt es ein Bestseller-Thema, das über die Jahre immer wieder von Eltern nachgefragt wird?
Das hängt stark vom Alter des Kindes ab: Bei Säuglingen ist „Schlafen“ ein Dauerbrenner, bei größeren Kindern das „Grenzen-setzen“ und die Schule, bei Jugendlichen pubertätsbedingte Konflikte mit den Eltern.
Sie schreiben in Ihrem Buch: „Der Rückgriff auf Elternratgeber in Buchform ist bereits zur Normalität im Umgang mit dem eigenen Nachwuchs geworden.“ Was sind die Gründe dafür?
Die Gründe hierfür sind sehr vielgestaltig und sie haben tiefe historische Wurzeln. Vor der Epoche der Aufklärung gab es in breiten Bevölkerungsteilen, insbesondere in bäuerlichen Schichten, keine „Erziehung“ im heutigen Sinne – also das bewusste Heranführen von Kindern an Wertmaßstäbe und Normen. Diese waren vielmehr so unhinterfragt vorausgesetzt, dass sie die Kinder einfach durch ein weitgehend unreflektiertes „Mitleben“ erlernten. Mit der Aufklärung bröckelt diese Praxisform zunehmend – der Mensch wurde nun von Philosophen wie Turgot, Kant, Herder oder Humboldt als Wesen gesehen, dass sich selbst perfektionieren kann, und auch die religiöse Absicherung traditioneller moralischer Normen schwand. In einer solchen gesellschaftlichen Situation muss nun bewusst und umfassend „erzogen“ werden, was in Rousseaus Erziehungsroman Émile das erste Mal durchgestaltet wird. Auch muss der Nachwuchs in einer Gesellschaft, deren ökonomisches und politisches System sich sehr stark ausdifferenziert, bewusst im sozialen Gefüge platziert werden. Deshalb entstehen im 19. Jahrhundert auch Elternratgeber, die sich auf das Thema der Förderung und Bildung von Kindern konzentrieren. All diese tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen erleben wir als Zeitgenossen wiederum als „die Normalität“. Deshalb sind auch Elternratgeber, die darauf abzielen, dass Eltern den Erziehungsprozess ihrer Kinder bewusst gestalten, zur Normalität geworden. Wir haben den Umgang mit der komplexen, modernen Welt so weit verinnerlicht, dass für uns auch die Nachfrage nach Beratung – übrigens nicht nur im Bereich der Familie – selbstverständlich geworden ist.
Spielen Ratgeber heute also eine andere Rolle als noch vor 50 Jahren?
Vor 50 Jahren, also in den 1970er Jahren, waren in vielen deutschen Haushalten auf der einen Seite noch Elternratgeber verbreitet, die stark von der Nazi-Erziehung geprägt waren - etwa Johanna Haarers „Die Mutter und ihr erstes Kind“, das nach dem Zweiten Weltkrieg trotz Entnazifizierung fast unverändert aufgelegt worden war. Der Titel lautete im Nationalsozialismus allerdings etwas anders: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. Gleichzeitig allerdings differenzierte sich die Elternratgeber-Landschaft stark aus; es erschienen Ratgeber, die den Liberalisierungsschub der 1960er Jahre abbildeten, wie „Kindererziehung auf neuen Wegen“ oder „Freie Erziehung in der Familie. Selbstbestimmung als Erziehungsprinzip“. Der Liberalisierungsschub der 1960er Jahre setzte allerdings, zumindest im Bereich der Familienerziehung, auf Tendenzen zu einer kindzentrierten, fördernden Erziehung auf, der in den 1950er Jahren bereits Gestalt angenommen hatte: Der meistverkaufte Elternratgeber der Welt, nämlich Benjamin Spocks „Dein Kind - Dein Glück“ (im englischen Original: „Baby and Child Care“), führte diesen Trend unter Kinderärzten fort, die sich von dem verhaltenswissenschaftlichen Ansatz in der Psychologie abgrenzten. Ein weiterer Trend in den 1970er Jahren waren Ratgeber, die sehr stark die Wissenschaftlichkeit – und damit: die quasi-objektive Gültigkeit – ihres Ansatzes betonten und etwa die Einführung von „Elternführerscheinen“ forderten.
Wie haben sich Ratgeber in den zurückliegenden Jahrzehnten inhaltlich verändert?
In den letzten Jahrzehnten lag der Trend bei den Elternratgebern einerseits in einer Verbreiterung der wissenschaftlichen Basis der Erziehungsratschläge – so nahm etwa die Hirnforschung eine führende Stellung ein. Inhaltlich vertreten die meisten Elternratgeber heute – bis auf milieuspezifische Ausnahmen – einen kindzentrierten, „autoritativen“ Erziehungsstil. Das bedeutet nicht „autoritär“, sondern vielmehr, dass dem Kind viele Freiheiten gewährt und Zuneigung entgegengebracht, ihm aber gleichzeitig auch klare Grenzen aufgezeigt werden sollen. Selbst die als „autoritär“ gebrandmarkten Ratgeber des ehemaligen Leiters von Salem, Bernhard Bueb, folgen diesem Erziehungsstil – mit einer etwas größeren Akzentuierung auf den Grenzen, die ein Kind eben auch benötigt, um aus Buebs Sicht zu einer gesunden Persönlichkeit heranzuwachsen. Eine interessante Entwicklung sind auch Elternratgeber, die sich paradoxerweise von dem Genre des Elternratgebers abgrenzen, um die Notwendigkeit einer Rückkehr zu einer intuitiven und „naturwüchsigen“ Erziehungsweise zu begründen.
Es gibt weit über 1.000 Erziehungsratgeber. Wie finden Eltern in diesem Ratgeber-Dschungel Orientierung?
Auch das ist paradox: Man braucht schon fast einen Ratgeber, um den passenden Ratgeber zu finden. Meine persönliche Meinung ist, dass hier das Bauchgefühl tatsächlich ein guter Indikator ist – ist Erziehung doch eine sehr persönliche Sache. Wenn ich bei der Umsetzung eines Ratgebers permanent ein Gefühl der Unstimmigkeit zu meinen eigenen Überzeugungen habe, dann würde ich mich von diesem Ratgeber trennen. Wie individuell das ist, zeigt etwa die Diskussion um den Ratgeber „Jedes Kind kann schlafen lernen“, der von einigen Eltern als „herzlos“ empfunden wird, während andere jedoch sehr gute Erfahrungen mit der recht strikten, eher verhaltenswissenschaftlich ausgerichteten Methodik gemacht haben. Hier spielt sicherlich auch das Temperament des Kindes und die Interaktion zwischen dem elterlichen Erziehungsstil und dem Kind eine große Rolle.
Gibt es Kriterien, an denen man einen „guten“ Ratgeber erkennt?
Auch hier kann ich nur meine persönliche Meinung angeben: Ein guter Ratgeber lässt aus meiner Sicht genügend Raum für Ausnahmen von dem vorgeschlagenen Erziehungsmodell sowie für die Berücksichtigung familienspezifischer Umstände - und genau das ist ja auch einer der großen Trends in der Elternratgeberliteratur nicht mehr so stark von oben herab, gleichsam als überlegener „Experte“, kluge Ratschläge zu erteilen, sondern vielmehr Eltern zur Weckung ihrer intuitiven Kompetenzen anzuleiten, Erziehung zur Selbsterziehung gewissermaßen. Ich würde mir als Vater oder Mutter folgende Frage stellen, wenn ich in einen Ratgeber hineingelesen habe und vor dem Kauf stehe: Wird dieses Buch meine wahrgenommene Autonomie und meine Selbstreflexion im Umgang mit meinen Kindern fördern?
Wo suchen Eltern sonst noch Rat außer in Büchern?
Es gibt in vielen Städten Elternberatungsstellen und manche Kommunen – so etwa die Stadt München – legen Elternbriefe auf, die sie Eltern den ersten Jahren kostenfrei ins Haus schicken. Zudem existieren eine Vielzahl an Elternforen, in denen sich Eltern gegenseitig beraten und informieren können.
Haben Sie selbst als Vater Elternratgeber gelesen?
Nicht wirklich. Ich bin auf das Thema aufmerksam geworden, dass ich die sich an vielen Stellen bemerkbare Suggestion, man müsste so richtig viel lesen und schon fast ein halbes Studium betreiben, um seine Kinder zu erziehen, auf eine produktive Weise irritierend fand. Ich fragte mich dann: Was steckt da eigentlich dahinter? Einen klassischen Ratgeber habe ich nicht konsultiert, aber ich habe Verhaltensweisen meines Sohnes, insbesondere im jungen Alter, durch die eher entwicklungsmedizinisch orientierten Bücher von Remo Lago „Babyjahre“ und „Kinderjahre“ besser verstanden.