„Kitas im Osten stehen vor einer historisch einmaligen Chance“

Datum: Donnerstag, 22. Februar 2024 09:35


© Thomas Kunsch/Bertelsmann Stiftung.

Kitas sind keine Zuliefererbetriebe für Schulen. Mit diesem zugespitzten Satz will Kathrin Bock-Famulla von der Bertelsmann-Stiftung auf die wichtige Aufgabe von Kitas und pädagogischen Fachkräften aufmerksam machen. Im Interview verrät die Expertin für frühkindliche Bildung außerdem, woran dieser Bildungsauftrag aktuell scheitert und warum der Osten die Probleme sogar etwas schneller lösen könnte.

Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich bei der frühkindlichen Bildung da?

Das deutsche Betreuungssystem ist bei allem Verbesserungsbedarf sehr gut aufgestellt. In der pädagogischen Praxis zeigt die Studienlage keine Nachteile für Deutschland. Das größte Risiko, das wir derzeit sehen, ist der Fachkräftemangel. Das aber betrifft im internationalen Vergleich auch viele andere Länder. Positiv hervorzuheben ist, dass es sich um ein weitgehend öffentlich finanziertes System handelt. Viele Bundesländer haben Beitragsfreiheit, in anderen ist diese geplant oder die Elternbeiträge sind sozial gestaffelt. Das ist ein großes Pfund, das man so nicht in vielen Ländern findet. Der Rechtsanspruch ab dem ersten Geburtstag auf einen Betreuungsplatz ist ebenfalls sehr gut, wenngleich es noch an der Umsetzung scheitert. Auch mit Blick auf die Qualifikation des Personals steht Deutschland gut da. Die meisten Beschäftigten sind staatliche anerkannte Erzieherin.

Allerdings ist der Anteil an Akademikern in Kindergärten im internationalen Vergleich eher gering. Brächte eine stärkere Akademisierung der Erzieher-Berufs Vorteile?

In der Wissenschaft wurde eine höhere Akademisierungsquote lange befürwortet aufgrund der hohen fachlichen Anforderungen an die pädagogische Arbeit. Denn je höher das Qualifikationsniveau der Beschäftigten ist, desto höher ist die Qualität der Bildungsarbeit. Aber wenn wir jetzt mit einem Ausbau der Studienplätze beginnen, würde es Jahre dauern, bis das Personal in den Kitas zum Einsatz kommen kann. In der aktuellen Situation brauchen wir aber kurzfristig mehr Personal. Daher ist uns derzeit eine gute Mischung lieber, so wie es beispielweise Sachsen macht. Dort muss eine neu eingestellte Kitaleitung einen akademischen Abschluss haben. Hinzu kommt, dass wir in Deutschland mit der staatlich anerkannten Erzieherin bereits einen Abschluss haben, der dem Bachelor-Niveau entspricht. Und wenn wir nach Skandinavien schauen, wo es beim Personal einen höheren Akademiker-Anteil gibt, muss man zugleich darauf hinweisen, dass es dort auch mehr Personal ohne Qualifizierung gibt. Das ist bei uns in Deutschland zum Glück noch nicht so.

Das klingt so, als könnte sich das bald ändern…

Durch den akuten Fachkräftemangel vor allem in den westlichen Bundesländern, beginnen erste Bundesländer ihre Gesetze aufzuweichen und die Kitas für unqualifiziertes Personal zu öffnen. Es wird aus der Not heraus Personal genommen, das man mangels Qualifizierung früher nicht eingestellt hätte. Es passiert immer öfter, dass Quereinsteiger nicht mehr zur Erzieherin ausgebildet werden, sondern nur noch eine Kurz-Qualifizierung im pädagogischen Bereich erhalten. Das halte ich für problematisch.

Wie kann es denn gelingen mehr qualifiziertes Personal für die Arbeit in Kindertageseinrichtungen zu gewinnen?

Da stehen wir aktuell vor einem Teufelskreis: Wir brauchen mehr Personal, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Aber unter den aktuellen Arbeitsbedingungen gelingt es uns nicht, mehr Personal zu gewinnen. Die Bezahlung ist in Deutschland bereits relativ gut – auch im internationalen Vergleich. Geld allein ist auch nicht der einzige Faktor. Wir wissen aus Befragungen, dass dieser Beruf sehr bewusst gewählt wird, weil die Menschen in der Arbeit mit Kindern eine sinnerfüllende Tätigkeit sehen. Aber gleichzeitig vermissen sie Signale aus der Politik, dass diese ernsthaft an einer Verbesserung der Situation interessiert ist. Sie müsste jetzt die Weichen stellen, damit sich die Situation nicht noch weiter verschlechtert. Dafür braucht es kurzfristige und langfristige Strategien.

Welche könnten das sein?

Damit sich die Arbeitsbedingungen und die Betreuungsqualität schnell verbessern, haben wir als Stiftung vorgeschlagen, die Öffnungszeiten für alle Kinder zu reduzieren – auf sechs bis sieben Stunden täglich pro Kind. Damit könnten wir allen Familien mit Bedarf einen Platz anbieten und für die Kinder und die Beschäftigten in den Einrichtungen würde sich die Situation deutlich verbessern.

Das klingt nach einem Vorschlag, der vermutlich auf viel Gegenwind stößt, oder?

Wir müssen aufgrund der dramatischen Situation radikale Lösungen in Betracht ziehen. Das braucht natürlich das Verständnis der Arbeitgeber von Eltern mit kleinen Kindern. Aber die jetzige Situation ist nicht viel besser: Manche Familien bekommen gar nicht erst einen Betreuungsplatz. Immer wieder müssen Einrichtungen kurzfristig die Öffnungszeiten kürzen oder sogar tageweise schließen. Eine generelle Lösung brächte mehr Planungssicherheit für alle Seiten. Es gibt bereits Kommunen und Landkreise, die daher auf eine solche Verkürzung der Kernöffnungszeiten setzen. Damit ist es ihnen gelungen, zusätzliche Betreuungsplätze zu schaffen und die Betreuungsqualität zu halten. Ich möchte ergänzen, dass das nur als Übergangslösung bis 2025 gedacht ist. Danach wird sich die Situation aufgrund der demographischen Entwicklung ohnehin etwas entspannen.

Welche langfristigen Lösungen empfehlen Sie?

Wir brauchen mehr Personal und dafür braucht es Geld. Das Gute-Kita-Gesetz und dann das Kita-Qualitätsgesetz wurden von den Ländern sehr unterschiedlich umgesetzt. So hat Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise die Beitragsfreiheit damit finanziert, obwohl das Land einen der schlechtesten Personalschlüssel hat. Das ist kontraproduktiv. Nun hat der Bund festgelegt, dass die Mittel stärker für eine Verbesserung der Betreuungsqualität eingesetzt werden müssen. Dieser Ansatz ist richtig. Aber dafür reicht das Geld bei weitem nicht. Es bräuchte statt zwei Milliarden Euro pro Jahr knapp 14 Milliarden Euro, wenn man wirklich einen Ausbau der Betreuungsplätze entsprechend dem Bedarf und  Personalschlüssel nach wissenschaftlichen Standards umsetzen will. Ein weiteres Problem ist, dass bisher keine langfristige Finanzierung vom Bund gesichert ist, sondern dass die Mittel jeweils befristet sind.

In Ostdeutschland gibt es zwar ausreichend Betreuungsplätze, aber die meisten Kitas sind weit entfernt von einem guten Betreuungsschlüssel. Was empfehlen Sie hier?

Tatsächlich ist im Osten der Abstand zum wissenschaftlich empfohlenen Betreuungsschlüssel so groß, dass der Bildungsauftrag nicht mehr erfüllt werden kann. Aber: Aufgrund sinkender Kinderzahlen haben wir hier eine historisch einmalige Chance. Wenn die Kitas das Personal trotzdem halten, wäre es möglich, einen Personalschlüssel nach wissenschaftlichen Standards bis 2030 umzusetzen. Dafür müssten die Landesregierungen sich bereit erklären, die entsprechenden Finanzmittel zur Verfügung zu stellen und die rechtlichen Rahmenbedingungen anzupassen.

An den Schulen wirkt sich Lehrkräftemangel in Form von Unterrichtsausfall und womöglich Bildungslücken aus. Wie ist das in den Kitas? Wie macht sich der Personalmangel dort bemerkbar?

Wir haben genau das in einer Studie direkt bei den betroffenen Fachkräften erfragt. Sie sagen, dass sie oft nur noch die Aufsichtspflicht absichern können. Für Bildungsarbeit, pädagogische Angebote und individuelle Unterstützung fehlt das Personal. Zudem haben sie darauf hingewiesen, dass sie nicht in ausreichendem Maße das kindliche Wohlbefinden wahrnehmen und gewährleisten können. Wenn eine Fachkraft sich um sechs Krippenkinder kümmern muss, kann sie im Zweifelsfall ein weinendes Kind nicht auf den Arm nehmen und trösten. Die Fachkräfte arbeiten an ihrer physischen und psychischen Belastungsgrenze. Das führt im schlimmsten Fall zu so viel Druck, dass sie den Kindern gegenüber unprofessionell sind und es in Einzelfällen zu Kindeswohl gefährdenden Situationen kommt. Zusätzlich führt der Personalmangel zu einer hohen Fluktuation, was es wiederum erschwert den Kindern emotionale Stabilität zu geben.

Die jüngste PISA-Erhebung hat Jugendlichen in Deutschland die bisher schlechtesten Ergebnisse bescheinigt? Liegen die Ursachen dafür vielleicht auch in den von Ihnen geschilderten Rahmenbedingungen?

Natürlich beginnt jetzt die Suche nach den Ursachen. Ich halte die reflexartige Schuldzuweisung an die Kita, die jetzt teils vorgenommen wird, für nicht angemessen. Der Bildungsprozess von Kindern wird durch viele Aspekte mitbestimmt, nicht nur durch die Kinderbetreuung. Wir wissen, dass sozial benachteiligte Kinder vom Kitabesuch profitieren. Oft sind es aber genau jene Kinder, die keinen Kitaplatz bekommen. Sie sind die Verlierer des Platzmangels. Hier bräuchten wir erstens genügend Betreuungsplätze und zweitens einen niedrigschwelligen Zugang für alle Bevölkerungsgruppen. Ein weiterer Faktor ist, dass das Erlernen der deutschen Sprache durch den Kitabesuch erleichtert werden kann. Das würde Kindern mit Migrationshintergrund die Vorbereitung auf die Schule erleichtern. Sprachentwicklung aber braucht eine alltagsintegrierte Sprachbegleitung, also den Dialog mit den Kindern. Das ist mit zu wenig Personal nicht machbar. Wenn sich eine Fachkraft um zu viele Kinder kümmern muss, bleibt ihr oft nichts anderes übrig, als den Kindern Anweisungen zu geben.

Einige Fachleute fordern aufgrund der erneut schlechten Bildungsergebnisse mehr gezielte Aktivitäten, die auf die Schule vorbereiten.

Jede Bildungsstufe hat ihren spezifischen Auftrag, den sie mit einer hohen Qualität erfüllen muss. Wir finden es daher schwierig, Kita auf die Vorbereitung von Schulfähigkeit zu reduzieren. Kitas sind keine Zuliefererbetriebe für Schulen. Ganz im Gegenteil: Es wäre wichtig, dass die Schule mehr von dem Bildungsverständnis der Kitas übernimmt. Das Lernen, wie es in der Schule passiert, entspricht überhaupt nicht den Entwicklungsbedürfnissen von Kindern in diesem Alter. Kitas haben einen ganzheitlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag, der mehr als nur kognitive Bildung umfasst. Kinder brauchen ebenso emotionale, motorische und soziale Kompetenzen. Dazu gehört auch eine Orientierung an ihren individuellen Lebenslagen und Entwicklungsmöglichkeiten. All das kann Kita leisten – aber nur wenn sie ausreichend Personal hat. Studien zeigen aber auch: Selbst eine gute Kita kann eine schlechte Grundschule nicht kompensieren. Und da stehen wir vor dem nächsten Problem: Auch in den Grundschulen fehlt ausreichend Personal.

Was sagen Sie Eltern, die sich für ihr Kitakind trotzdem mehr Vorbereitung auf die Schule und weniger „einfach nur spielen“ wünschen?
Es gibt sehr leistungsorientierte Eltern und solche, die mehr Wert legen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Die Kitas müssen noch besser erklären, dass das pädagogisch begleitete Spielen einen hohen Wert für Kinder und ihre Entwicklung hat. Wenn das gut gelingt, können daraus Themen und Projekte abgeleitet werden, die Kindern ganzheitliches Lernen ermöglichen.

Bei frühkindlicher Bildung denken wir zuerst an Kitas. Welchen Anteil haben Eltern und was können sie tun, um ihr Kind gut auf die Schule vorzubereiten?

Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist, dass Eltern mit ihren Kindern genug Zeit verbringen. Das können gemeinsame Unternehmungen sein oder das Vorlesen von Büchern. In dem Alter ist die Beziehung zu den Eltern sehr wichtig. Wenn es gelingt, hier eine stabile emotionale Bindung aufzubauen, dann können sich Kinder so entwickeln, wie wir es uns wünschen. Die Kita kann fehlende Bindungs- und Erziehungsarbeit aus den Familien nicht kompensieren, sie kann hier nur ergänzend wirken.