Wie können Eltern neben ihrem Elternsein auch die Paarbeziehung erhalten und wie können Rituale dabei helfen? Darüber haben wir mit der Paarforscherin und Eheberaterin Dr. Anke Birnbaum gesprochen. Im Interview verrät sie außerdem ein paar Praxistipps aus Ihrer Arbeit als Beraterin und erklärt, warum es so schwer aber auch so wichtig ist, trotz Familienalltag in die Paarzeit zu investieren.
Wenn Eltern zu Ihnen in die Paarberatung kommen: Welchen Satz hören Sie am häufigsten?
Bei Paaren mit Kindern ist es sehr häufig die Aussage über zu wenig Zeit füreinander. Viele Eltern beklagen, dass sie sich seit der Geburt der Kinder durch Alltagsstress und Zeitmangel sogar fremd geworden sind. Manchmal erinnern sich die Partner nicht einmal mehr, wann sie das letzte Mal etwas nur zu zweit unternommen haben. Tatsächlich sind es nicht die großen Krisen, wie ein Jobverlust oder eine schwere Krankheit, an denen Beziehungen zerbrechen. Vielmehr entfernen sich Paare mit der Zeit durch die wiederholten alltäglichen Widrigkeiten voneinander.
Auf welche Art können Rituale in so einer Situation helfen?
Rituale können dem Paar emotionale Verbundenheit und Sicherheit vermitteln. Sie sind mehr als einfache Gewohnheiten, sie schaffen Raum für Begegnung und Kommunikation. So können sie aufzeigen: Mein Partner nimmt sich Zeit für mich, darauf kann ich mich verlassen. Die Bedeutung von Ritualen geht über die Handlung an sich hinaus, sie können für Verbundenheit und Wir-Gefühl stehen. Ihre Relevanz wird Paaren zeitweise erst dann bewusst, wenn sie weg- oder ausfallen. Denn dann fehlt etwas. Wenn sich Rituale etabliert haben, können sie von den Partnern als etwas Positives wahrgenommen werden – oft stehen sie für Wohlbefinden und gemeinsame Entspannung. Mit der Zeit entsteht so eine nahezu positive Konditionierung: Die Partner freuen sich auf das Gemeinsame, das sich in einem bestimmten Ritual ausdrückt und damit ist auch der jeweils andere mit etwas Positivem verbunden. Damit können Rituale einen wichtigen Gegenpol zum Alltäglichen bilden. Denn im stressreichen Familienalltag ist es eher so, dass eine ausführliche Kommunikation und Auseinandersetzung mit dem Partner lediglich bei Streit oder Problemen stattfindet und so eine Verknüpfung mit negativen Gefühlen entsteht. Rituale sind damit auch eine wichtige Form der emotionalen Investition in die Beziehung. Dafür ist es wichtig, dass die Rituale zum jeweiligen Paar und zu seinen Lebensumständen passen. Das heißt auch: Bei aller Regelmäßigkeit brauchen sie auch eine gewisse Flexibilität. Es ist Niemandem geholfen, wenn sie einen oder beide Partner unter Druck setzen oder gar einengen. Gleichzeitig ist zu betonen, dass Rituale kein „Allheilmittel“ sind und eine zerrüttete Beziehung allein nicht retten können. Sie können aber ein wichtiger Hinweisgeber für Beziehungsprobleme sein, nämlich dann, wenn ein Partner gemeinsam liebgewonnene Rituale nicht mehr pflegt. Spätestens dann sollten Paare das Gespräch suchen.
Aus Ihrer Erfahrung: Entstehen Rituale in Paarbeziehungen eher zufällig oder werden diese bewusst geschaffen?
Beides ist möglich. So können Rituale auf der einen Seite bewusst entwickelt und gepflegt werden. Beispielsweise wenn ein Paar nach einem gemeinsamen Wochenende feststellt, wie gut beiden diese Zeit miteinander getan hat und sich entscheidet, solche Wochenenden regelmäßig zu wiederholen. Das hat den Vorteil, dass diese Form der Zweisamkeit nicht jedes Mal neu diskutiert werden muss. Auf der anderen Seite entstehen liebevolle Routinen auch zufällig und werden dann über die Zeit zu einem gemeinsamen Ritual. Zwei Beispiele aus meiner Beratung zeigen dies meines Erachtens gut: Ein Ehemann fühlte sich abends nach einem langen Arbeitstag oft überrumpelt, wenn seine Frau mit ihm über konfliktreichere Themen sprechen wollte. Beide überlegten, was statt wiederholtem Frust und Streit eine gute Möglichkeit für beide wäre. Die Partnerin gab künftig eine Art liebevolle „Vorwarnung“ für ihren Mann, indem sie ihm vor dem Weg zur Arbeit Zahncreme auf seine Zahnbürste schmierte, wenn sie abends ein wichtiges Thema mit ihm besprechen wollte. Er konnte sich so bereits tagsüber darauf einstellen und es fiel ihm leichter, sich abends auf die Gespräche einzulassen. Bei einem anderen Paar ging der Mann berufsbedingt abends deutlich früher ins Bett als seine Frau. Damit sie später nicht so fror im kühlen Schlafzimmer, legte er jeden Abend ihren Schlafanzug im Bad auf die Heizung. Für die Partnerin war dieses kleine Ritual ein wichtiger Anzeiger dafür, dass „alles in Ordnung“ war zwischen beiden und er ihr Wohlbefinden mit im Blick hat.
Wenn aus Paaren Eltern werden, ändern sich viele Dinge – auch bestimmte Rituale aus der Paarbeziehung lassen sich mit Baby vielleicht nicht mehr umsetzen. Wie gehen Paare damit um?
Gerade in den ersten Wochen und Monaten nach der Geburt ist das tatsächlich eine Riesen-Herausforderung. Deswegen ist es ratsam aus dieser Zeit unnötigen Druck rauszunehmen: In der ersten Zeit ist es völlig legitim, wenn das Baby im Mittelpunkt steht und andere Bedürfnisse hinten anstehen. Entscheidend ist, dass dies nicht zum Dauerzustand wird, sondern dass sich das Paar irgendwann auch wieder Zeit zu zweit nimmt. Denn der Stress verändert sich nach den ersten Monaten zwar, aber er bleibt. Die Frage ist, wie es gelingt, trotzdem Zeit zu zweit zu finden, ohne dass dies für alle Beteiligten zum Stress wird. Denn diese Paarzeit soll ja möglichst positiv besetzt sein. Daher ist es wichtig, dass beide Partner offen darüber sprechen, was für sie möglich und umsetzbar ist und womit sich beide wohlfühlen. Da können Rituale durchaus neu hinzukommen oder angepasst werden. Es ist meist nicht ratsam, bedeutsame Rituale aus der Zeit vor dem ersten Kind dauerhaft ausfallen zu lassen und durch nichts zu ersetzen.
Haben Sie ein paar Beispiele, welche Rituale sich zu zweit sich im oft schon vollen Familienalltag umsetzen lassen?
Die Möglichkeiten sind so vielfältig wie die Paare selbst. Manche zelebrieren den Samstagabend auf ihre ganz eigene Weise. Einige verabreden sich zu einem gemeinsam ausgewählten Film, andere hören gemeinsam Musik. Letzteres kann zugleich Gelegenheit sein, gemeinsam in Erinnerungen zu schwelgen, vielleicht an ein Konzert zu zweit zurückzudenken usw. Zunehmend beliebt sind auch Spielabende zu zweit. Wieder andere kochen ein besonderes Gericht zusammen oder verabreden sich bewusst zu einem Gespräch. Wenn weniger Zeit bleibt, dann kann es auch der gemeinsame Espresso am Morgen oder eine zwischenzeitliche kurze Tea-Time sein. Wichtig ist, sich als Paar immer wieder kleine Zeitfenster einzuräumen.
Gerade in der Zeit nach der Geburt fällt in Paarbeziehungen die Sexualität hinten runter. Gibt es Rituale, die helfen können intime Zweisamkeit und körperliche Nähe zu bewahren?
So wie sich manche Paare bewusst zum Austausch oder Kochabend verabreden, gibt es auch Paare, die bewusst einen festen Tag für Sex einplanen - getreu dem Motto: besser verabredeten Sex als gar keinen. Das passt nicht für jedes Paar, ist es jedoch wert, zumindest ausprobiert zu werden. Gerade in den ersten Wochen nach der Geburt wird es aber eher so sein, dass man sich mit dem Thema Sexualität etwas Zeit lässt und sich nicht unter Druck setzt. Dennoch ist es wichtig, die körperliche Nähe des anderen zu suchen. Diese Nähe kann z.B. durch abendliches Kuscheln auf dem Sofa stattfinden; aber auch durch bewusste kleine Berührungen im Alltag, wie z.B. das Streicheln über die Schulter des Partners im
Vorbeigehen oder über das Knie während des gemeinsamen Essens.
Ein sehr schönes und erwiesenermaßen hilfreiches Ritual kann das lange „Halten bis zur Entspannung“ sein. Dabei nehmen sich Paare bewusst für ein paar Minuten in den Arm. Das kann körperliche Nähe schaffen, entspannen und sogar dazu führen, dass sich der Herzschlag beider Partner synchronisiert. Solche kleinen, kurzen Intimitäten jeden Tag bewusst in den Alltag einzubauen, ist deswegen so wichtig, weil die körperliche Nähe und Intimität in Partnerschaften wie ein Muskel ist, der verkümmert, wenn er zu wenig genutzt wird. Wenn sich diese Form der Nähe mit der Zeit immer mehr ausschleicht, kann damit auch die emotionale Bindung verloren gehen.
Feste wie Weihnachten sind für viele Menschen mit Ritualen verbunden. In einer Paarbeziehung treffen möglicherweise unterschiedliche Rituale aus den beiden Elternhäusern aufeinander. Wie können Paare am besten vor die unterschiedlichen Erfahrungen und Erwartungen zusammenbringen?
Hier empfehle ich ebenfalls, sich bewusst die Zeit zum Austausch zu nehmen, um etwas Gemeinsames für diese Tage zu entwickeln. Dies ist deutlich sinnvoller als das Risiko einzugehen, das jedes Jahr wieder neu zu diskutieren, was schnell im Streit und enttäuschenden Festen enden kann. Dabei ist es wichtig, dass nicht einem das Ritual des anderen „aufgezwungen“ wird, sondern dass die Bedürfnisse beider Partner – und bei größeren Kindern auch deren Bedürfnisse - gesehen und berücksichtigt werden. Ich nutze in meiner Praxis dafür gern das Konzept der Bedürfnis-Pyramide. Dazu schreibt zum Beispiel jeder fünf Rituale auf, die ihm Weihnachten am wichtigsten sind. Anschließend werden diese jeweils fünf Aspekte wie eine Pyramide ausgelegt, wobei aber das wichtigste Ritual oben an der Spitze steht. Das führt erstens dazu, dass jeder sich selbst bewusster macht: Was ist mir eigentlich ganz besonders wichtig, worauf lege ich besonders großen Wert? Im zweiten Schritt können sich die Partner dann austauschen und feststellen, wo hat man vielleicht sogar Gemeinsamkeiten, wo könnte man Kompromisse finden und aufeinander zugehen. Vielleicht probiert man auch ein Jahr die Tradition von ihr aus und im nächsten Jahr die von ihm und dann schaut man, womit sich beide wohler fühlen oder wo sich Verbindungen schaffen lassen. Und natürlich dürfen sich Paare und Familien auch eigene, neue Rituale rund um solchen Feiertage schaffen.
Wir haben jetzt über die Bedeutung von Paarzeit gesprochen. Wie wichtig ist zudem regelmäßige Ich-Zeit, also Zeit, die Mann oder Frau für sich und ihre Hobbys oder Freunde nutzen können – ohne Partner und ohne Kinder?
Diese me-time ist mindestens genauso wichtig, wie die exklusive Paarzeit. Die Selbstfürsorge dient der eigenen Entspannung und Regeneration. Wer sich diese Zeit nimmt, der ist zufriedener und gesünder und reagiert im stressigen Alltag entspannter. Dies kommt letztlich der gesamten Familie zugute. Deswegen ist es elementar, dass sich die Partner diesen Freiraum gegenseitig ermöglichen und dabei auf Fairness und Gerechtigkeit bedacht sind. Genauso wichtig ist es, dass jeder diese me-time frei gestalten kann. Der eine entspannt beim Bass spielen, der andere macht Sport oder trifft sich mit Freunden. Wieder andere liegen einfach nur auf dem Sofa. All das ist legitim, um die Batterien wieder aufzutanken und diese Art der Entscheidungsfreiheit sollte nicht vom jeweils anderen Partner in Frage gestellt werden.
Aus Ihrer Erfahrung als Paar- und Eheberaterin: Was ist der wichtigste Ratschlag, damit eine Paarbeziehung auch mit Kindern noch hält?
Ein Liebespaar zu bleiben – und ich sage an dieser Stelle bewusst „Liebes“-Paar – bedeutet, in die Exklusivität der Partnerschaft zu investieren. Dafür ist es notwendig, sich auch mal von den Bedürfnissen der Kinder abzugrenzen. Paare dürfen auch mal „egoistisch“ sein. Das mag gerade am Anfang schwer fallen. Langfristig aber lernen Kinder durch das Verhalten ihrer Eltern auch am Modell etwas sehr entscheidendes: Sich Zeit füreinander zu nehmen ist wichtig und erlaubt.