Ein Gastbeitrag von Dawid Statnik, Familienvater und Vorsitzender des sorbischen Dachverbands Domowina
Traditionen sind wie Coca Cola. Die einen mögen es, wiederum andere können sich damit nicht anfreunden. Es gibt Menschen, die können ohne Cola fast nicht überleben. Wiederum andere sehen darin ein erhebliches Gesundheitsrisiko und lehnen den Konsum ab, da dies einer modernen und aufgeschlossenen Lebensweise nicht entsprechen kann.
Als Katholik und Lausitzer Sorbe lebe ich in einer Gemeinschaft, in der Traditionen ein fester Bestandteil meines Lebens sind. Als Familienvater nehme ich bewusst wahr, wie es mir inzwischen nicht nur um das Praktizieren von Traditionen geht, sondern zunehmend auch darum, meine Erfahrungen an die nächste Generation weiterzugeben. Ich nahm dies zum Anlass, das Thema am abendlichen Küchentisch im Kreise der Familie zu besprechen.
Traditionen gründen auf Bräuchen, Überzeugungen, Praktiken und Werten, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Diese können kulturelle, religiöse, familiäre oder gesellschaftliche Elemente umfassen und spielen oft eine bedeutende Rolle bei der Identitätsbildung und der Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Geschichte innerhalb einer Gemeinschaft. Traditionen können sich im Laufe der Zeit verändern und anpassen, aber sie dienen oft als Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie sind damit eine sehr alte Art der Kommunikation. Heute würde man Traditionen als praktischen Wissenstransfer bezeichnen.
Bei Traditionen denken wir gleich an große Feste. Sei es das Weihnachtsfest oder das Osterfest. Viele dieser Feste, die wir als Familie erleben, gründen auf dem christlichen Glauben und sind an sich nicht spezifisch sorbisch. Vielmehr gibt es einzelne Elemente, die so nur unter den Sorben bestehen.
„Hody“, wie das Weihnachtsfest in sorbischer Sprache genannt wird, ist ein christliches Fest, welches bei uns eher wenige sorbische Elemente in sich trägt. Sicherlich wird es in vielen Familien so sein, dass man sich in den Tagen versammelt und gemeinsam viel Zeit miteinander verbringt. Genauso wie es in vielen deutschsprachigen Familien Brauch ist, schmücken wir den Weihnachtsbaum, stellen wir die Krippe auf und schmücken das Haus weihnachtlich. Die Geschenke bringt bei uns jedoch nicht der „Rumpodich“, also der Weihnachtsmann, sondern das „Bože dźěćatko“. Das ist Sorbisch und bedeutet „Christkind“.
Ein Osterbrauch, der in unserer Familie einen sehr hohen Stellenwert hat, ist das Osterreiten, das „jutrowne jěchanje“. Aus vorchristlichen Flurumgängen und -umritten zum Erbitten günstiger Bedingungen für ein gutes Aufgehen der Saat und deren Bewahrung vor schlechtem Wetter, entwickelten sich christliche Prozessionen. Heute erinnert nur noch in Ostro der morgendliche Saatumritt an die ursprünglichen Flurumgänge. Die Osterreiterprozessionen begeben sich am Ostersonntag in die jeweilige Nachbarkirchgemeinde und tragen die frohe Botschaft vom auferstandenen Christus weiter, um sie den dortigen Bewohnern zu verkünden. Festlich gekleidete Reiter in Gehrock und Zylinder führen Kirchenfahnen, Kreuz und Statue des Auferstandenen auf prächtig, mit edlem Zaumzeug, Blumenranken und mit bestickten Schleifen geschmückten Pferden. Ich habe diesen Brauch als kleiner Junge erlebt und habe die Leidenschaft von meinem Vater geerbt. Seit meinem 15. Lebensjahr nehme ich alljährlich am Osterreiten teil. Anfänglich gemeinsam mit meinem Vater, inzwischen auch mit unserem ältesten Sohn. Einmal mussten wir aussetzen – das Coronajahr war ein einschneidendes Erlebnis. Umso mehr freuen wir uns, dass es der Tradition nicht geschadet hat.
Viele dieser und weiterer Bräuche haben einen christlichen Bezug oder stammen aus vorchristlicher Zeit und haben bei uns eine gewisse „sorbische Note“. Gemeinsam mit meiner Frau haben wir unsere Kinder nun zu genau diesen Festen befragt. Zuerst wollten wir erfahren, welche Rolle diese Bräuche für unsere Kinder im Familienalltag haben. Da unsere Kinder bereits im „Teenie-Alter“ sind, können die Antworten durchaus Tiefgang bekommen: „Diese Bräuche sind etwas für unsere Identität. Die Tradition ist ein Bekenntnis zum Sorbischen. Ohne die Tradition wäre es nur Sprache.“ An Tiefsinnigkeit ist diese Aussage nur schwer zu übertreffen. Zumindest im Augenblick können wir mit meiner Frau annehmen, dass unsere Kinder den Wert der Tradition verstanden haben.
An meine Frau ging die Frage, inwiefern sich diese Rituale und Traditionen mit der Geburt unserer Kinder verändert haben. Spontan war die Antwort: „Ohne Kinder keine Taufe“. Dem kann ich nur beipflichten. Denn einige Elemente der sorbischen Traditionen sind auch mit dem Leben der Familie verbunden. So erlebte ich mit unserer Tochter das erste Mal, wie eine „Družka“ angekleidet wird, denn ich hatte nie eine Schwester.
Wiederum an die Kinder ging die Frage, ob es Traditionen gibt, die ihnen besonders lieb sind. An erster Stelle wurde Ostern genannt, da unser ältester Sohn inzwischen auch Osterreiter ist. Auch das Maibaumwerfen durfte nicht vergessen werden, genauso wie das „Bože ćěło“, zu Deutsch „Fronleichnam“.
Sicherlich ist dieses Küchentischgespräch nur ein Festhalten eines Augenblicks. Jedoch glaube ich, dass unsere Kinder verstanden haben, welchen Stellenwert Traditionen, Rituale und Bräuche haben können. Ob sie diese Traditionen fortführen oder sogar weitergeben, wird die Zukunft zeigen. Wir haben zumindest unseren Anteil dazu beigetragen.
Die genannten Feste sind nur ein kleiner, wenn auch sehr sichtbarer Teil der Traditionen und Rituale der Sorben. Es gibt natürlich noch viel mehr und sicherlich sind auch ganz eigenartige und besondere Traditionen dabei, die ich hier nicht erwähnt habe. Es ist nur ein kleiner Einblick in unsere kleine sorbische Welt, die so verschieden und reich an Besonderheiten ist. Vielleicht ist gerade dies ein Grund dafür, wieso wir so um unsere Existenz kämpfen. Ein deutsches Sprichwort besagt: „Tradition ist Bewahrung des Feuers und nicht Anbetung der Asche.“
Unsere Kinder profitieren vom Aufwachsen mit sorbischen Bräuchen und Ritualen, denn sie erleben ihre eigene Kultur und Geschichte. Sie haben die Möglichkeit, sich zur eigenen Identität zu bekennen und dieses Bekenntnis auch an die nächsten Generationen weiterzugeben.
Werden die Traditionen immer so sein, wie sie heute sind? Ganz nach dem Motto: „Das war immer schon so!“. Ich glaube nicht. Denn vieles in der Welt verändert sich. Noch in der Generation meiner Großmutter war es üblich, dass die Frauen eine Alltagstracht tragen – jeden Tag. Meine Großmutter habe ich nie anders erlebt. Jedoch schon meine Mutter hat diese Tradition abgelegt und auch meine Frau. Beide tragen die sorbische Tracht nur zu Festtagen und zu besonderen Anlässen – als „Festtagstracht“. Hat es etwas mit ihrer Identität gemacht? Ich glaube nicht. Denn sie ehren die Tracht nun auf eine zeitgemäße Weise. Die nächste Generation verändert die Tradition sicherlich auf ihre ganz eigene Weise. So waren Elemente der sorbischen Tracht bereits auf Laufstegen zu sehen. Junge Mädchen nutzen die handwerklich aufwändigen Schmuckteile der Tracht und kombinieren sie gekonnt mit fescher Mode. Wieso auch nicht? Denn Tradition kennt keine Gesetze, oft nur Routinen, welche in der Gemeinschaft bestehen, aber auch genau dort verändert werden können.
In jüngster Zeit kam eine neue Diskussion unter sorbischen Frauen auf. Ist das Osterreiten der katholischen Sorben nur Männern vorbehalten? Bis heute ja. In Zukunft? Wer weiß? Wenn ich mich auf das alljährliche Osterfest vorbereite, habe ich die zehn Gebote der Osterreiter zu befolgen. Darunter auch das Gebot, aktiv am Leben der Kirchgemeinde teilzunehmen und das Sakrament der Buße zu begehen. Weder in den zehn Geboten der Osterreiter, noch anderswo steht geschrieben, dass der Osterreiter männlich ist. Der Brauch hat in seiner jetzigen Form natürlich etwas Besonderes. Und wenn er nur auf das Osterreiten reduziert wird, ist es ein Brauch unter Männern. Jedoch erlebe ich, dass die ganze Familie mit eingespannt ist, der Osterreiter somit auch nur ein Teil des Ganzen ist. In seiner derzeitigen Form ist dieser Brauch vielen eine Herzensangelegenheit und ein Glaubensbekenntnis. Selbst wenn er sich verändern würde. Mir wäre wichtig, dass er seinen christlichen Kern behält. Denn das ist die Magie und das rituelle Wesen dieses Brauchs.
Dawid Statnik
Vorsitzender DOMOWINA –
Bund Lausitzer Sorben