Es ist ein wirklich dickes Brett, das zu bohren sich keiner wagt: Kinder in Deutschland sollten nicht schon nach der Grundschule getrennt werden. Was dafür spricht und warum einige Eltern trotzdem dagegen sind, erläutert der Bildungs- und Sozialforscher Prof. Dr. Marcel Helbig vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe.
Die Erkenntnis, dass Bildungserfolg in Deutschland stark vom Elternhaus abhängt, ist nicht neu, sondern wird seit mehr als 20 Jahren immer wieder durch Studien belegt. Wenn das Problem bekannt ist, warum hat man trotzdem das Gefühl, dass sich nichts ändert?
Es ist leider nicht nur so, dass sich im System relativ wenig ändert, sondern es gibt zudem eher noch Fehlentwicklungen, durch diese Ungleichheiten weiter verstärkt werden. Nehmen wir das Beispiel Lehrkräftemangel: Wo fehlen denn besonders viele? An den Oberschulen und in Schulen in sozial schwieriger Lage. Dort ist auch der Anteil an Seiteneinsteigern besonders hoch. Wenn wir auf die Studienanfängerzahlen schauen, dann wird sich das Problem in den nächsten Jahren noch verstärken. Gerade im Bereich der nichtgymnasialen Schulen ist die Zahl der Studienanfänger besonders gering. Es ist keine Sternstunde der Kultusministerkonferenz, dass es nicht schon vor Jahren gelungen ist, eine gemeinsame Lehrerbildungsinitiative zu starten. Im Gegenteil: Jetzt starten mehrere Bundesländer ihre eigenen Imagekampagnen zur Lehrkräftegewinnung, um Lehrkräfte aus anderen Bundesländern für sich zu gewinnen.
Ein zweites großes Problem ist die lückenhafte Datenlage: Wir wissen teilweise viel zu wenig über Schulen. Das liegt an fehlenden Daten und an der fehlenden Transparenz. Nehmen wir die jüngste IQB-Bildungsstudie: Wir wissen nicht, ob der festgestellte Kompetenzrückgang alle Schulen und Regionen betrifft oder nur solche in ländlichen Räumen oder nur solche in Problemvierteln oder solche, wo der Lehrkräftemangel besonders stark ist. Ich kann also aus den Daten keine strukturellen Schlüsse ziehen. Vielleicht ist das auch von der Politik nicht gewollt, weil das Schwachstellen im System aufzeigen würde.
Müssen wir vielleicht schon vor der Einschulung ansetzen, also in der frühkindlichen Bildung?
Die Studien zeigen in der Tat: Das Kind ist schon beim Schuleingang in den Brunnen gefallen. Die Schere bei den Kompetenzen der Kinder ist schon in der 1. Klasse weitgehend geöffnet. Es gibt Kinder, die können zum Beginn der ersten Klasse schon ein wenig rechnen und schreiben, andere kennen weder Zahlen noch Buchstaben. Danach scheinen es die Schulen zumindest zu schaffen, dass sich die Schere nicht weiter öffnet.
Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Stellschrauben, um die Chancengerechtigkeit in Deutschland zu verbessern?
Da die Unterschiede schon vor der Schule beginnen, braucht es einen qualitativen Ausbau der frühkindlichen Bildung. Die Betreuungsquoten bei Kindern ab drei Jahren sind mittlerweile recht hoch – auch in den westdeutschen Bundesländern. Aber wenn wir genau schauen, welche Kinder trotzdem nicht die Kita besuchen, dann sind es oft diejenigen, denen ein Kitabesuch gerade guttun würde. Es geht also um vergleichsweise wenig Kinder, aber die sind besonders benachteiligt. Hier könnte ein verpflichtender Kitabesuch, beispielsweise ab drei Jahren, helfen.
Was empfehlen Sie den Schulen?
An den Grundschulen fällt auf, dass bei gleichen Kompetenzen Kinder aus unteren Schichten schlechter benotet werden. Wir wissen noch nicht abschließend, woran das liegt. Mögliche Ursachen sind Leistungsanforderungen wie Referate oder Buchvorstellungen, für die es die Unterstützung der Eltern braucht. Das können aber nicht alle Eltern leisten und dann spiegelt sich das in der Note wider. Nun könnten wir auch einfach fragen: Braucht es in der Grundschule wirklich schon solche Anforderungen? Vielleicht üben auch bestimmte Elternhäuser Druck auf Lehrkräfte aus, damit ihr Kind im Zweifel die bessere Note bekommt. Bei Noten soll auch die Anstrengungsbereitschaft der Kinder mit bewertet werden. Diese kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein oder auch sehr unterschiedlich durch die Lehrkräfte wahrgenommen werden. Schlussendich wissen wir nicht, inwieweit die Lehrkräfte für dieses Thema überhaupt sensibilisiert sind. Eine Möglichkeit, um das zu umgehen, wären standardisierte Kompetenztests vor dem Übergang auf die weiterführende Schule.
Wäre die Abschaffung von Noten eine Lösung?
Solange wir die Kinder nach Klasse vier auf unterschiedliche Schultypen aufteilen, funktioniert das nicht. Dafür braucht es klare Kriterien. Wenn wir also nicht bereit sind, die Gliedrigkeit des Schulsystems aufzugeben, können wir nicht auf Noten verzichten.
Welchen Einfluss hat die Gliedrigkeit des deutschen Schulsystems, also das Trennen der Kinder nach Klasse 4 bzw. 6?
Eine kürzlich vom ifo-Institut veröffentlichte Studie hat für Aufsehen gesorgt, weil Berlin und Brandenburg die geringsten Ungleichheiten beim Zugang zum Gymnasium haben – also die beiden einzigen Länder, die erst ab Klasse 6 trennen. Ob es aber einen kausalen Zusammenhang gibt, ist nicht erwiesen. Und die Studie vom ifo wurde in befremdlicher Schärfe von Bildungspolitikern und Bildungsverbänden kritisiert, weil sie diesen Schluss nahelegte. Im internationalen Bereich gibt es einige Studien, die zeigen, dass Systeme, die früher trennen, sozial ungleicher sind und die Schülerinnen und Schüler dort auch noch die schlechteren Leistungen erbringen. Das alles spricht für ein längeres gemeinsames Lernen. Aber diese Frage ist das in Deutschland am stärksten ideologisch verminte Feld. Dahinter steht leider auch viel Lobbyarbeit der höheren Schichten, die alles dafür geben, um die Gymnasien als Schulform für sich zu bewahren, damit ihre Kinder sich dort vermeintlich am besten entwickeln. Das hat sich auch beim Volksentscheid in Hamburg vor einigen Jahren gezeigt. Seit diesem Zeitraum reden wir überhaupt nicht mehr über eine Schulstrukturreform. Stattdessen stelle ich eine große Verzagtheit fest, endlich mal das ganz große Rad zu drehen.
Allerdings sind derartige Reformen langwierig und rein logistisch eine große Herausforderung. Schulgebäude, die für vierjährige Grundschulen und gegliederte weiterführende Schulen gebaut wurden, lassen sich nicht so einfach an neue Schulstrukturen anpassen. Ein Grund, warum die ostdeutschen Länder nach der Wende auf ein zweigliedriges Schulsystem setzten, lag auch mit daran, dass die relativ großen Polytechnischen Oberschulen (POS) nicht für ein dreigliedriges Schulsystem geeignet waren. Noch einmal klar gesagt: Schulstrukturreformen sind langwierig in ihrer Umsetzung und Erfolge werden sich erst langfristig einstellen. International werden wir für den Sonderweg einer Trennung nach vier Jahren bestenfalls belächelt. Zudem ist das gegliederte Schulsystem auch ein Grund dafür, dass Deutschland bei der Umstellung auf ein inklusives Schulsystem weit zurück liegt.
Der Bund hat das Startchancen-Paket auf den Weg gebracht, das sich explizit an „Schulen in herausfordernder Lage“ richtet und durch Evaluierung begleitet wird. Ist das der richtige Weg?
Es ist nicht so, dass man das vorher nicht schon gemacht hat. Es gibt auf Länderebene viele Programme, bei denen Unterstützung gezielt an Schulen mit sozialen Herausforderungen umgesetzt wurde. Ob das neue Programm sinnvoll ist und wirklich Erfolg hat, da bin ich etwas skeptisch. Nehmen wir die erste Säule, mit der durch bauliche Veränderungen lernförderliche Umgebung geschaffen werden soll. Ich kenne keine Studie, die nachweist, dass bestimmte Räumlichkeiten zu besseren Leistungen führen. Die zweite Säule setzt auf zusätzliches Personal, konkret auf multiprofessionelle Teams. Schon jetzt gibt es auf dem Markt nicht genug Sozialarbeiter. Die wird es auch mit dem neuen Programm nicht geben. Die dritte Säule ist das „Chancenbudget“, mit dem Veränderungen der Schulentwicklung und damit auch im Unterricht bewirkt werden sollen. Auch da gibt es bisher kaum Studien, die eine Wirkung nachweisen.
Was wäre aus Ihrer Sicht ein besserer Ansatz gewesen?
Der Bund hat das gemacht, was er konnte. Durch den Bildungsföderalismus hatte er kaum andere Möglichkeiten, wie beispielsweise die Finanzierung zusätzlicher Lehrkräfte. Und selbst, wenn er das gekonnt hätte, dann sind wir wieder bei dem bereits erwähnten Problem: Es gibt einfach nicht genug Lehrkräfte am Markt. Und die, die es gibt, meiden eher Schulen mit hohen sozialen Herausforderungen.
Eines der zentralen Probleme, wenn wir über soziale Ungleichheiten im Bildungsbereich reden, ist, dass wir uns zu stark auf Schule fokussieren. Schule soll alle Probleme lösen. Dabei wird übersehen, wie sich die sozialen Ungleichheiten in Städten in den vergangenen Jahren verschärft haben, wie die Schere zwischen Arm und Reich gesamtgesellschaftlich und innerhalb von Städten auseinander geht. Durch die Fluchtzuwanderung wurde das noch verschärft, weil viele Geflüchtete in Plattenbauten untergebracht werden – also genau dort, wo sich Armut ohnehin schon konzentriert. Gesellschaftliche Ursachen von Ungleichheit zu lösen kann ohne Veränderungen in anderen Politikfeldern von Wohnungsbaupolitik bis Steuerpolitik nicht gelingen.
Inwiefern kann eine stärkere Einbindung digitaler Medien die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland verringern?
Auf einer rein theoretischen Ebene bieten gute digitale Lernprogramme die Chance, Kinder dort abzuholen, wo sie stehen. Das kann eine Lehrerin mit 26 Kindern mit sehr heterogenem Lernstand gar nicht leisten. Gleichzeitig ist Pädagogik Beziehungsarbeit, dazu gehört die Motivation der Lernenden. Mit solchen Plattformen kann ich interessierte Kinder gut abholen. Wenig motivierte Kinder hole ich damit trotzdem nicht ab. Da ist noch viel Luft nach oben, gerade bei der Frage, wie setze ich solche Medien systematisch ein. Ein weiterer Aspekt sind die neuen Möglichkeiten von Hybridunterricht: Für ein Pilotprojekt im Kreis Görlitz haben sich drei Gymnasien zusammengetan, um trotz Lehrkräftemangel und geringen Schülerzahlen Leistungskurse in Naturwissenschaften in allen drei Schulen anbieten zu können. Hier wäre es wichtig, dass es nicht bei dem Pilotprojekt bleibt, sondern dass es flächendeckend umgesetzt wird.
Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland sowohl bei der Digitalisierung als auch bei der Chancengerechtigkeit und zuletzt auch bei der Vermittlung basaler Kompetenzen unterdurchschnittlich ab. Die Spitzenreiter finden wir u.a. in Skandinavien und Kanada. Wissen Sie, was diese Länder anders machen?
Auffällig ist, dass keines dieser Länder die Kinder so früh trennt wie Deutschland, sondern erst mit 15 oder 16 Jahren. Auch Themen wie Inklusion werden dort ganz anders angegangen, weil alle Schulformen mit dieser Herausforderung umgehen müssen, während sich in Deutschland die Gymnasien bei diesem Thema naturgemäß ausnehmen.
Gibt es abschließend noch einen positiven Aspekt, der Ihnen zum Thema Bildung einfällt?
Das Einhorn unter den Bundesländern ist Hamburg. Da ist in den vergangenen 20 Jahren viel passiert. Sie haben angefangen, die Leistungen der Kinder konsequent zu diagnostizieren, Schwachstellen im eigenen System zu erkennen und auszubessern. Es wurde das Recht auf Ganztagsbetreuung bis zum 14. Lebensjahr eingeführt. All diese Maßnahmen münden mittlerweile in besseren Leistungen bei den Bildungsstudien. Hamburg zeigt, dass es gehen kann. Es wäre toll, wenn sich hier andere Länder anschließen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Weiterlesen? Wir haben drei aktuelle Studien zu den Themen Bildungs(un)gerechtigkeit herausgesucht:
Faire Notenvergabe? Studie der Unis Zürich und Bern, Juli 2024
ifo-Studie: Ungleiche Bildungschancen: Ein Blick in die Bundesländer, Mai 2024