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Familienbegleiterin, Coach und Autorin Inke Hummel über Ängste, Krisen und die Rolle der Eltern.
Sie haben bereits mehrere Bücher veröffentlicht, zwei davon mit dem Fokus auf Angst. Wie kam es dazu, dass Sie sich speziell diesem Thema widmen?
Ich arbeite seit vielen Jahren mit Familien und Fachkräften und bemerke dadurch rasch, wenn sich bestimmte Entwicklungen ausbreiten und bei vielen Kindern zeigen. Angst ist seit Corona ein wachsendes Thema, gerade auch oft in der Kombination mit unsicheren, manchmal auch selbst ängstlichen Eltern. Verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen und Krisen haben dies verstärkt und ein sehr kindzentrierter, teilweise überfürsorglicher Erziehungsstil auch. Hinzukam, dass gerade auch in der Coronazeit die Suche nach einem Therapieplatz immer herausfordernder und langwieriger wurde. So kamen viele Familien erst einmal zu mir und ich habe die Eltern dafür gestärkt, selbst mit ihren Kindern an deren Ängsten zu arbeiten – und an ihren eigenen auch. Dadurch kamen der humboldt Verlag und ich gemeinsam auf die Idee, den Ratgeber „Meine Angst, deine Angst“ und den Vorleseratgeber „Ups, ich habe Angst“ zu entwickeln, um noch mehr Eltern zu ermöglichen, ihren Kindern selbst zu helfen, wenn die Ängste nicht zu heftig sind oder aber eben wenn sie lange auf professionelle Hilfe warten müssen.
Sie haben die großen Themen wie Corona und Krisen als Angstauslöser angesprochen. Darauf haben Eltern keinen Einfluss. Was können sie dennoch tun?
Diese Krisen in der Welt, in den Gesprächen der Erwachsenen, in gesellschaftlichen Veränderungen, die spüren die Kinder. Sie sind oft groß und diffus, und damit fällt ein Umgang schwer. Wenn sie keine gute Unterstützung bekommen, können diese Bereiche die Ängste sehr verstärken. Das sehen wir in den vergangenen Jahren bei Groß und Klein, und es liegt am Ohnmachtsgefühl. Man muss wieder in ein Gefühl von Macht kommen. Und das muss nicht von außen kommen. Da braucht es keine Politik oder Verbesserung der Weltlage, sondern einen inneren Kampfgeist, einen Optimismus und gutes weiteres Handwerkszeug.
Gibt es typische Kinderängste, die Ihnen in Ihren Beratungen immer wieder begegnen?
Oh ja, einige. Trennungsängste sind bei kleineren Kindern häufig. Ab dem Schulalter kommt es mehr zu sozialen Ängsten und Ängsten vor Bewertungen, und in der Pubertät gibt es da noch weitere Ausprägungen, denn dann sind nicht nur Noten relevant, sondern auch die Meinung der Clique. Aber es gibt noch einige weitere Ängste, die ich oft sehe: Angst vor Fremden, vor Monstern, vor Ärzten, vor Krankheiten, vor Wasser oder Höhe, vor Hunden oder Spinnen… Manches ist gar nicht so anders als bei Erwachsenen.
Helfen in diesen Fällen Pauschal-Lösungen oder braucht es für jede Familie eine individuelle Lösung?
Individuell hinsehen ist immer gut, gerade um zu entdecken, wo Ängste herkommen und ob es im Alltag des Kindes etwas gibt, was den Umgang mit Ängsten erschwert. Aber manche Hilfsinstrumente sind natürlich auch pauschal nützlich, wie mein 6-Schritte-Plan zur Angstbewältigung. Jeden Schritt gilt es, individuell auszuformen, aber das Grundgerüst ist stets gleich: Wissen – Helfen – Wahrnehmen – Planen – Üben – Nachbereiten.
Gab es Fälle, wo Sie überrascht waren vom Angstauslöser?
Manchmal ist es überraschend, dass hinter einer Angst erst nach längerer Zeit eine ganz andere Sache entdeckt wird, wie ADHS, eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder eine Kurzsichtigkeit. Aber dass ich mal gedacht hätte, ein Kind hat vor etwas Angst, was ich total unverständlich und daher überraschend finde, daran kann ich mich nicht erinnern. Irgendwie ist alles herleitbar. So hatte ich zum Beispiel in der Beratung ein Kleinkind mit Angst vor Babys. Nach und nach haben wir verstanden, dass die unberechenbaren Bewegungen der Krabbelbabys es überfordert haben.
Wenn Angst zu Hause eine große Rolle spielt: In welchen Fällen sollten sich Eltern eine externe Beratung oder sogar ärztlichen Rat suchen?
Die Frage muss immer sein, wie groß der Leidensdruck des Kindes ist, wie bewältigungsstark die Eltern sind und ob die Ängste sich ausbreiten. Leidet ein Kind so stark, dass sein Verhalten sich immer stärker verändert, egal, welche Hilfestellungen man gibt, dann ist Expertenrat gefragt. Solche Kinder werden zum Beispiel immer stiller und verweigernder, manchmal auch auf sehr aggressive Art. Und haben die Eltern, zum Beispiel aufgrund eigener Belastungen oder einer eigenen psychischen Erkrankung nicht die Möglichkeit, dem Kind sinnvollen Umgang mit Angst beizubringen, ist auch eine Therapie wichtig. Angst sollte allgemein früh angegangen werden. Aber wenn Eltern nach drei bis sechs Monaten Unterstützung merken, das ist nicht nur eine Phase und die Angst vor A weitet sich aus zu einer Angst vor B, C, D und E, ist auch Handeln angesagt. Generalisierung sollte vermieden werden. Dann wird die Bewältigung immer schwieriger.
Wie groß ist nach Ihrer Erfahrung der Anteil der Eltern an der Angst ihrer Kinder, weil sie diese unbewusst weitergeben?
Dass Eltern Angst haben, ist nicht unbedingt ein Problem, selbst nicht, wenn es so eine spezifische Thematik ist. Das muss sich nicht übertragen. Wichtig ist tatsächlich, ob ihr Umgang bewältigungskräftig ist oder hilflos. Hilflosigkeit kann ein ungutes Vorbild werden. Dann ist der Anteil sicher groß.
Schüchterne Kinder gelten als ängstlich. Ist es tatsächlich so, dass sie per se ängstlicher sind?
Sie sind per se sensibler für alles, was um sie herum passiert: bemerken mehr, bewerten es schneller als gefährlich, und brauchen oft gute Ideen, um mit Herausforderndem, Neuem oder auch Beängstigendem gut umgehen zu können. Das heißt, eine Zeit lang kann es schon sein, dass sie ängstlicher als Gleichaltrige sind. Aber das muss nicht so bleiben. Sie können lernen, mit der Angst taff umzugehen. Dann merkt man ihnen weder Schüchternheit noch Ängstlichkeit mehr an.
Sie haben selbst drei Kinder, die vermutlich auch Ängste haben. Gelingt es Ihnen im Familienalltag immer, die Tipps aus Ihren Büchern umzusetzen?
Schöne Frage! Ich habe viele Pädagogikprofis in meiner Beratung, die ein großes theoretisches Wissen haben und auch praktisch viel auf die Straße bringen, aber im emotional fordernden Umgang mit dem eigenen Kind ab und zu Blicke von außen brauchen. Und ich denke, das ist bei mir nichts anderes. Ich bin ja kein wandelndes, automatisches Lehrbuch, das sofort innerlich die richtige Seite aufschlagen kann, wenn es zu Hause dramatisch hergeht. Aber ich kann Situationen spätestens im Nachgang natürlich professioneller reflektieren. Das ist eine große Hilfe.
Sie sind Profi auf dem Gebiet und wissen in der Theorie, wie Kinder und Eltern mit Ängsten umgehen. Gibt es dennoch etwas, das Ihnen Angst macht?
Ich bin auch ein eher ängstlicher Mensch, aber habe daran schon viel gearbeitet, so dass ich weiß, dass ich raus aus der Ohnmacht muss und rein ins Handeln. Dennoch kommen natürlich immer wieder Situationen vor, in denen ich erst einmal im Gefühl stecke, bevor ich wieder mit dem Kopf dagegen an arbeiten kann. Aber insgesamt bin ich auch sehr optimistisch.
Sie geben in Ihren Ratgebern viele Tipps zum Umgang mit Angst. Welchen davon würden Sie abschließend gern Familien mit auf den Weg geben?
Mit am wichtigsten finde ich zunächst, Angst ernst zu nehmen. „Du musst keine Angst haben“ ist ein netter Satz für Kinder, aber nicht hilfreich. Das Gefühl ist ja da. Ein Kind kann es nicht einfach in den Schrank packen. Also: angucken, wo es herkommt, und schauen, wie man dagegen angehen kann. Kinder bis etwa 8 Jahre brauchen dabei Elternunterstützung.
Deine Angst, meine Angst, ISBN:978-3842617322
Ups, ich habe Angst, ISBN 978-3842617384