Es braucht unterstützende Männer und „mehr Dorf“

Datum: Montag, 24. Februar 2025 18:08


(c) Stefan Obermeier München

Es braucht unterstützende Männer und „mehr Dorf“

Eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, wird seit Jahrzehnten thematisiert. Warum sich trotzdem noch viel bessern müsste und was genau, das verrät PD Dr. Christina Boll im Interview. Beim Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI) leitet sie die Abteilung „Familie und Familienpolitik“, wo sie vor allem zum wechselseitigen Einfluss von Bildung, Beruf sowie Elternschaft und Familienpolitik forscht.

In einer Publikation des DJI von 2023 schrieben Sie: „Die Herausforderungen für Mütter sind heute im Wesentlichen dieselben wie vor 60 Jahren.“ Was ist in den vergangenen 60 Jahren besser geworden und wo sehen Sie noch Nachholbedarf?

Frauen können heute oft flexibler arbeiten, die Erwerbstätigkeit von Müttern ist heute in Betrieben und Gesellschaft selbstverständlich. Die institutionelle Kinderbetreuung für unter Dreijährige hat im Vergleich zu vor 60 Jahren einen Quantensprung gemacht. Allerdings haben Mütter heute auch höhere berufliche Ansprüche als Mütter vor 60 Jahren, was auch mit der deutlich besseren Qualifikation heutiger Mütter zusammenhängt. Als Mutter Familie und einen anspruchsvollen Job zu vereinbaren, ist bei kleinen Kindern im Haushalt noch immer schwierig und auch noch nicht überall sozial akzeptiert.

Noch immer tragen in vielen Familien Mütter die Hauptlast der Care-Arbeit. Warum dauert es so lange, tradierte Rollenmuster aufzubrechen?

Soziale Normen sind zäh, weil sie über die Sozialisation von Generation zu Generation weitergegeben und daher im jungen Alter „erlernt“ werden und weil der politisch-rechtliche und institutionelle Kontext von Familien diese Tradierungen zumindest teilweise noch immer stützt. Da fällt das Ausbrechen schwer bzw. ist oft nicht von Dauer, weil es Menschen wichtig ist, sozial akzeptiert zu werden und zudem auch harte ökonomische Anreize und (fehlende) Gelegenheitsstrukturen entgegenstehen.

Ist Vereinbarkeit nur ein Problem der Mütter oder auch der Väter?

Natürlich auch der Väter – wenn sie einen substanziellen Teil der Sorge- und Hausarbeit übernehmen wollen. Das sind laut Ergebnissen der aktuellen Zeitverwendungserhebung de facto aber deutlich weniger Väter als Umfrageergebnisse zur idealen Zeitverwendung nahelegen.

Wir haben in vielen Branchen und Berufen einen Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel, das stärkt die Position von Arbeitnehmenden. Wirkt sich das positiv auf die Familienfreundlichkeit von Unternehmen aus? Es müsste doch in ihrem Interesse liegen, auch Mütter für den Arbeitsmarkt (wieder)zugewinnen.

Ja, das tut es auch. Der Fachkräftemangel spielt gut qualifizierten Müttern und Vätern, und das sind ja die meisten, in die Karten. Echte Vereinbarkeit bedeutet aber, dass mehrere Rädchen ineinandergreifen müssen. Da sind nicht nur die Betriebe, da ist auch die Kita gefragt. Und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen heute viele Unternehmen stecken, beschränkt leider auch die Möglichkeiten für eigentlich sinnvolle Investments und Umstrukturierungen.

Was macht es mit den Kindern von heute, wenn sie bei ihren Eltern sehen, wie schwer sich Beruf und Familie vereinbaren lassen? Welchen Einfluss hat das auf ihr späteres Lebensmodell?

Ach, ich denke, Kinder haben zu allen Zeiten ihre Eltern kämpfen, siegen und teilweise auch scheitern sehen. Dadurch nehmen sie viel für’s Leben mit. Welches „Modell“ sie später für sich selbst wählen, hängt nicht nur von Kindheitserfahrungen, sondern auch von ihrer eigenen Persönlichkeit und ihren eigenen Lebensumständen ab – die können ganz anders aussehen als die der Eltern.

Bereits vor knapp 20 Jahren – im Jahr 2007 – veröffentlichte das DJI diese Handlungsempfehlungen: 1. die betriebliche Kultivierung aktiver Vaterschaft, 2. die Verlängerung der exklusiven Vätermonate im Elterngeld und 3. den flächendeckenden Ausbau der Kinderbetreuung auch in Rand- und Ferienzeiten. Was davon wurde erreicht?

Oh, ich denke, von allem etwas – aber nicht genug. Es ist in allen drei Bereichen noch Luft nach oben.

Welche Handlungsempfehlungen würden Sie heute geben?

Zwei Aspekte scheinen mir zentral. Erstens braucht es einen weiteren Schub, was die Aufteilung der Sorge- und Hausarbeit betrifft: hier müssen Männer weit kräftiger „zupacken“ als bisher, um ihre Partnerinnen wirklich zu entlasten. Zweitens braucht es (wieder) „mehr Dorf“ für Kinder. Kitas und Schulen, aber auch Sportvereine und Jugendzentren müssen so ausgerüstet werden, dass sie ganztägige Bildungs- und Entfaltungsorte für alle Kinder sind. Hier braucht es mehr Investitionen statt Mittelkürzungen.

Die Corona-Pandemie hat familienfreundliche Arbeitsmodelle wie verstärktes Homeoffice befördert. Lässt sich schon sagen, ob diese Effekte langfristig sind und Eltern bei der Vereinbarkeit helfen?

Der Digitalisierungsschub, den die Arbeitswelt durch die Pandemie genommen hat, lässt sich nicht zurückdrehen. Andererseits war immer klar, dass 100% Homeoffice auf Dauer dysfunktional sowohl für Beschäftigte als auch Unternehmen ist, daher ist es nur folgerichtig, dass man nach Ende der Pandemie inzwischen zu einem guten Mix aus Homeoffice und Präsenz zurückgekehrt ist – wobei, was „gut“ ist, von Branche zu Branche und Beruf zu Beruf unterschiedlich ist.

In den ostdeutschen Bundesländern ist der geforderte Kita-Ausbau bereits passiert, in vielen Regionen gibt es ausreichend Kitaplätze – auch für Krippenkinder. Zudem sind Frauen in Ostdeutschland häufiger erwerbstätig, auch häufiger in Vollzeit und in Führungspositionen. Kann Ostdeutschland hier vielleicht als Modell für ganz Deutschland dienen?

Zunächst: Es gibt in allen 16 Bundesländern Bedarfsunterdeckungen im U3-Bereich. Sie sind allerdings in den neuen Bundesländern weniger stark ausgeprägt als in den alten. Allerdings wird im Osten im Kontext der demografischen Entwicklung rückgebaut. Das ist schade, man hätte stattdessen den Fachkraft-Kind-Schlüssel verbessern können. Die vergleichsweise höhere Betreuungsquote im Osten hatte aber all die Jahre in der Tat noch einen weiteren Grund – eine höhere Arbeitsmarktnähe ostdeutscher Mütter, die historisch bedingt ist. Daran, wie persistent diese Arbeitsmarktnähe auch bei jüngeren Frauengenerationen in Ostdeutschland selbst nach einem Umzug in den „Westen“ ist und wie wenig hiervon bis heute auf westdeutsche Frauen „übergesprungen“ ist, ist ein eindrückliches Beispiel für die überdauernde Kraft sozialer Normen und macht mich eher skeptisch, was einen ostdeutschen Vorbildeffekt betrifft.

Auch im Ausland lassen sich gute Beispiele für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf finden. Was machen andere Länder besser und was davon ließe sich auf Deutschland übertragen?

Männer in Frankreich oder in skandinavischen Ländern sind nicht unbedingt „moderner“; der Gender Gap in der unbezahlten Arbeit ist überall hoch. Es ist vielmehr die Exklusivität der Paarbeziehung, die mir eine deutsche Besonderheit zu sein scheint: In Deutschland haben Paare die Erwartung, alles allein hinzubekommen, ohne Hilfe von außen. Andere Länder gehen es pragmatischer an und lassen sich von der Nanny, der Schulmensa und der Putzfrau unterstützen. An eigenen (zu) hohen Erwartungen zerschellt auch so mancher Kinderwunsch – in Deutschland.

Welchen Tipp können Sie Müttern geben, die ihre Karriere auch mit Nachwuchs nicht aufgeben wollen?

Das Ziel im Visier behalten und durchhalten.

Was denken Sie: Wird für die Kinder, die 2025 zur Welt kommen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die gleichberechtigte Aufteilung von Kindererziehung und Care-Arbeit in 30 Jahren eine Selbstverständlichkeit sein?

Wie man kürzlich herausfand, waren die Kelten im Großbritannien der Eisenzeit matrilokal organisiert. Das heißt, bei einer Heirat zog der Mann in den Wohnort der Frau. Damit standen Frauen und nicht Männer im Mittelpunkt der sozialen Netzwerke, ebenso wurden Land und Besitz über die weibliche Linie vererbt. Das ist mehr als 2000 Jahre her. Im Vergleich dazu sind 30 Jahre nur ein Wimpernschlag. Ich denke, wir müssen beharrlich weiter für Gleichberechtigung kämpfen. Auch kleine Erfolge zählen.

Sie haben selbst drei Kinder, haben promoviert und habilitiert, sind Abteilungsleiterin beim DJI. Das klingt nach einer „Bilderbuchkarriere“. Wie haben Sie es geschafft, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen?

Work-life-balance kann nur punktuell gelingen – als lebenslanger Anspruch ist es eine Illusion. Der Tag hat für alle nur 24 Stunden. Wichtig ist, Prioritäten zu setzen und sich für das, was gerade Priorität hat, wirklich ganz einzubringen.

Vielen Dank für das Gespräch!