Als im Dezember der neueste Pisa-Schock veröffentlicht wurde, kommentierte dies mein Mann in größeren Runden gern wie folgt: „Mehr als die Hälfte der Schüler kann nicht richtig rechnen. Das ist ja jedes dritte Kind.“ Manchmal dauerte es erschreckend lange, bis das Gegenüber zu schmunzeln anfing. Und ganz ehrlich: Im Grunde ist das Desaster, das sich in vielen Schulen und Familien abspielt auch nicht zum Lachen. Wir begleiten aktuell drei Kinder durch die Schulzeit und haben daher eine Ahnung, worin die Ursachen für die mäßigen Kompetenzen in Mathe, Deutsch & Co. liegen könnten. Fast zeitgleich mit der Veröffentlichung der Pisa-Studie schrieb unser Junior ein Diktat. Er besucht die sechste Klasse eines Gymnasiums. Die Kinder kommen, soweit ich das beurteilen kann, weitgehend aus gutsituierten Familien. Der gern ins Feld geführte Migrantenanteil ist gering und die Kinder mit ausländischen Wurzeln sprechen teils besser deutsch als manche ihrer einheimischen Mitschüler. Von 22 Kindern bekamen 11 Kinder eine 6. Und nein das ist nicht jedes dritte Kind. Es ist jedes zweite! Es gab eine 1, für die man in einem Diktat höchstens einen halben Fehler haben darf, und zwei Mal die 2. Der Rest verteilte sich zwischen den Noten drei bis fünf. Ich war vorsichtig formuliert schockiert. Doch gänzlich vom Glauben an unser Schulsystem abgefallen bin ich erst, als mein Kind Tage später ein wichtiges Detail zum Diktat erwähnte. Darauf komme ich – Achtung Cliffhanger – am Ende der Kolumne zurück.
Vielleicht bin ich zu anspruchsvoll. Immerhin verdiene ich meinen Lebensunterhalt mit der deutschen Sprache – auch mein Mann gehörte viele Jahre der schreibenden Zunft an. Das ist für unsere Kinder oft nervig, denn Fehler in der Sprache korrigieren wir sanft aber konsequent. Das bringt mich in den der Grundschule bei jedem Kind aufs Neue in einen inneren Konflikt: Die Kinder werden in der ersten und zweiten Klasse von der Lehrerin ermuntert, nach Gehör zu schreiben. Das liest sich dann zum Beispiel so: „Libe Mama, ich winsche dia fil gsunthait.“ Schön auch dieser Zettel an der Kinderzimmertür: „kein zutrit. Ferschtanden?“ Mein Problem: Wir Eltern werden gebeten, die Kinder nicht zu korrigieren, um ihnen nicht die Begeisterung für das Schreiben zu nehmen. Bis zum Ende der vierten Klasse würden die Kinder die Rechtschreib- und Grammatikregeln erlernen. So lange hält mein Mutter- und Journalistin-Herz das nicht aus.
Vermutlich ist diese Methode nicht der Grund für die miserablen Deutschkenntnisse vieler Kinder. Nach sechs Jahren Schulerfahrung mit meinen Kindern habe ich da ein paar andere Verdachtsmomente: Erstens: der Lehrkräftemangel. Unser Großer hat in der sechsten Klasse so viel Ausfall, dass er oft weniger Stunden pro Tag hat als seine vier Jahre jüngere Schwester. Mein Sohn findet das großartig, seine Schwester ungerecht und ich ahne, wohin das langfristig führt.
Zweitens: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Durch drei Kinder bin ich in reichlich Elternchats. Ich werde daraus nicht auch noch zitieren. Aber manches liest sich nicht viel besser als die Zettel meiner Erstklässlerin. Immerhin: Wenn es um die Deutschkenntnisse mancher Eltern nicht gut bestellt ist, dann muss sich die Lehrerin keine Sorgen machen, dass diese ihre Kinder korrigieren.
Drittens: die Digitalisierung. Mein Sohn hält mich für total oldschool, weil ich Nachrichten und Suchbegriffe in mein Handy eintippe statt sie ins Mikro zu sprechen. Sprachfunktion, Autokorrektur und Autovervollständigung machen es überhaupt nicht notwendig, dass die Kinder schreiben können. Ich bin so oldschool, dass bei mir zu Hause ein Duden steht. Darin blättere ich manchmal sogar mit meinen Kindern, wenn wir uns über die Schreibweise eines Wortes nicht einig sind. Als wir den das letzte Mal in der Hand hatten, kam mein Sohn nochmal auf das Diktat zu sprechen: Jedes Kind seiner Klasse hatte einen solchen Duden während des Diktats auf dem Tisch liegen und durfte ihn benutzen.
Kolumne von Anett Linke, Redakteurin der lausebande