oder: warum Familien Sorbisch sprechen sollten ...
Für Einheimische sind sie selbstverständlich: die zweisprachigen Orts- und Straßenschilder, die ab dem Verlassen der Autobahn überall in der Lausitz zu finden sind. Unter der deutschen Ortsbezeichnung steht der nieder- bzw. obersorbische Name geschrieben. Die Schilder werden oft als Sinnbild dafür genutzt, dass unsere Region zweisprachig ist. Tatsächlich sind die Sorben/Wenden eine anerkannte nationale Minderheit in Brandenburg und Sachsen, die beiden Sprachen der Sorben/Wenden sind gesetzlich als weitere Amtssprachen in beiden Landesverfassungen verankert.
Allerdings sind die Ortsschilder nur der oberflächlichste Ausdruck der Lausitzer Multikulturalität. Wirklich am Leben erhalten werden Ober- und Niedersorbisch durch diejenigen Familien, Kinder, Lehrer und Erzieher, die die Sprachen sprechen und an die nächste Generation weitergeben. Und hierbei braucht es das Engagement jedes einzelnen, um diese Sprachen und die mit ihr verbundene Kultur vor dem schleichenden Aussterben zu bewahren. In unserem Spezial zu den Sorben/Wenden dreht es sich daher vordergründig um den Erhalt und Erwerb der Sprache – sie bildet den Grundstein für das Verstehen und die Teilnahme an der Kultur und der Ausschöpfung ihrer Potenziale.
Sorben/Wenden sind die Lausitzer Ur-Einwohner
Zunächst einmal gilt es jedoch festzustellen, woher die Verbundenheit der Sorben/Wenden mit unserer Region rührt und was das Besondere und Schützenswerte an dieser Minderheit, ihrer Kultur und ihrer Sprache ist. Eine Antwort dafür ist in unser aller Identität zu finden, und die fußt wiederum auf slawischen Stämmen, die sich vor 1.500 Jahren zwischen der Ostsee und dem Erzgebirge ansiedelten. Sie gelten als die Vorfahren der Sorben/Wenden und überhaupt auch als „Ur-Einwohner“ der heutigen Lausitz. Noch bis zum 20. Jahrhundert traf man in der gesamten Lausitz teils mehrheitlich auf muttersprachliche sorbische Kinder und Jugendliche. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sprachen auch die eigenen Urgroßeltern im Alltag noch Ober- oder Niedersorbisch. Heute ist das, bedingt durch die Germanisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und wirtschaftliche Entwicklungen, fast nur noch im katholischen Gebiet der Oberlausitz der Fall.
Historisch gesehen ist die andauernde slawische Prägung trotzdem von der ersten Besiedlung vor 1.500 Jahren an das verbindende Element der gesamten Lausitz, die ansonsten administrativ immer auf mehrere Staaten oder Bundesländer aufgeteilt war und ist. Ununterbrochen lebte auch das Sorbentum weiter. Sorbische Traditionen und Feste gehören für viele Lausitzer Kinder zu den Höhepunkten im Jahresverlauf – zum Beispiel Vogelhochzeiten, Erntefeste oder die vielfältigen Osterbräuche. Was viele nicht wissen: Auch die meisten Familiennamen aus der Region sind sorbischer Herkunft. Das Sorbentum ist Teil der Lausitzer Identität, ein Erwerb der Sprache ist meist eine Rückkehr zu den eigenen Wurzeln.
Alleinstellungsmerkmal Zweisprachigkeit
Anerkannte zweisprachige Regionen gibt es in Deutschland sonst nur noch in Schleswig-Holstein und in Niedersachsen mit den friesischen bzw. dänischen Minderheiten. Zudem sind einige Grenzregionen wie z.B. das Elsaß mehrsprachig. Dass aber eine eigene Volksgruppe mit eigener Tradition, Sprache und Kultur mitten unter uns lebt, ist deutschland- und sogar europaweit die Ausnahme. Mit ihrer gelebten Zweisprachigkeit verfügt die Lausitz also über einen echten Schatz, der zunehmend auch als solcher wahrgenommen wird. Im jüngst verabschiedeten Strukturstärkungsgesetz bekennt sich der Bund dazu, „Maßnahmen zur Förderung der Bewahrung und Fortentwicklung der Sprache, Kultur und Traditionen des sorbischen Volkes als nationaler Minderheit“ einzurichten bzw. aufzustocken. Das weckt Hoffnungen, dass Angebote zum Erlernen der sorbischen Sprache künftig noch weiter zunehmen.
Zweisprachige Kinder sind im Vorteil
Neben der Annäherung an die eigene Identität bringt das Erlernen der sorbischen Sprache aber auch ganz praktische Vorteile mit sich. Zahlreiche Studien belegen: Eltern sollten unbedingt in Betracht ziehen, ihre Kinder frühzeitig mit einer zweiten Sprache in Berührung zu bringen. Die Vorzüge der Zweisprachigkeit im Kindesalter fächern sich von Entwicklungsvorsprüngen im Denken und Handeln bis hin zu mehr Einfühlungsvermögen gegenüber anderen. Ganz konkret steigert sich die Gedächtnisleistung, die Aufmerksamkeit kann besser gelenkt und Informationen schneller verarbeitet werden. Nicht zuletzt fällt es grundsätzlich leichter, die nächste Fremdsprache zu lernen, wenn es zuvor schon einmal gelungen ist. All diese Vorteile treffen auch auf Erwachsene zu, wenn sie sich intensiv mit anderen Sprachen auseinandersetzen. Umso eher damit begonnen wird, desto spielerischer und natürlicher kann der Lernprozess jedoch vonstattengehen.
Warum ausgerechnet Sorbisch?
Und warum dann ausgerechnet Sorbisch lernen – und nicht Englisch oder Spanisch? Ganz einfach: Es ist nicht nur die Frage der Identität und der Verbundenheit mit unserer Region, die Sorbisch als frühzeitige, erste Fremdsprache prädestiniert. So besitzt sowohl das Ober- als auch das Niedersorbische grammatikalische Phänomene und Raritäten, die in wenig anderen Sprachen vorkommen oder konserviert wurden, wie den Dual oder das Supinum. Allein mit seinen sechs Fällen, Aspektverben, Diminutiven, Augmentativen und vielem mehr ist Sorbisch linguistisch betrachtet eine äußerst reiche Sprache. Aus dem Deutschunterricht erinnert sich wohl jeder an das wehleidige Lernen der vier Fälle – das wäre ein leichtes gewesen, wenn zuvor schon spielerisch die grammatikalischen Besonderheiten des Sorbischen erlernt worden wären. Auch für das Erlernen aller folgenden Fremdsprachen stellt ein frühzeitiges, natürliches Erwerben dieses komplexen Sprachsystems eine perfekte Basis dar.
Ähnlichkeiten zu Nachbarländern
Besonders leicht dürfte der Erwerb von Polnisch oder Tschechisch fallen, wenn vorher Nieder- bzw. Obersorbisch erlernt wurde. Die Ähnlichkeiten gehen auf die historische Nachbarschaft des heutigen Südbrandenburgs mit Polen und des heutigen Ostsachsens mit Tschechien zurück. Bis ins 17. Jahrhundert gab es m Bereich zwischen Cottbus und Zielona Góra sogar Übergangsdialekte, die Grenzen zwischen Niedersorbisch und Polnisch waren fließend.