Alles nach meiner Pfeife!

Datum: Dienstag, 29. September 2015 08:50

titelthemaFoto KrügerÜber Musik entdecken Kinder sich selbst und die Welt

Interview mit Prof. Martin Maria Krüger, seit 2003 Präsident des Deutschen Musikrates. Er lernte als Kind mehrere Instrumente und machte die Musik später zum Beruf. Er hat weltweit konzertiert und ist Institutsleiter und Dozent an der Münchner Hochschule für Musik und Theater. 2013 hat ihm Bundespräsident Joachim Gauck für sein vielfältiges Engagement das Bundesverdienstkreuz erster Klasse verliehen.

Beim Begriff Musik denke ich zuerst ans Singen und Instrumente spielen. Wie würden Sie Musik definieren?
Was gehört noch dazu? Victor Hugo hat gesagt: „Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.“ Sie ist eine wichtige Brücke zum anderen Menschen, sei es im gemeinsamen Singen, Musizieren oder Tanzen, sei es, indem wir aufeinander hören.

Warum ist Musik für Kinder so wichtig?
Kinder erleben die Welt akustisch nicht nur durch Sprache, sondern ganz wesentlich durch Klänge. Das gilt auch für die Sprache selbst: „Der Ton macht die Musik“. Wir entnehmen Sprache viel mehr als nur Information – und dieses „mehr“ ist im weitesten Sinne die Musik in der Sprache. Darüber hinaus lieben Kinder, ihre Umwelt zu entdecken, indem sie ihr Klänge entlocken und ihnen nachlauschen. Und Kinder entdecken Gemeinsamkeit mit anderen im Singen, Musizieren und Tanzen. Gleichzeitig entwickeln und erfahren sie sich selbst als „Person“ bzw. Persönlichkeit – das kommt ja vom lateinischen personare, durchklingen.

Welchen Einfluss hat Musik auf die körperliche Entwicklung, welchen auf die geistige und soziale?
Aktives Musizieren fördert intensiv die Vernetzung des Gehirns, die Verbindung von Hören, Denken und Motorik. In den Vordergrund möchte ich dennoch den wichtigen Beitrag der Musik zur emotionalen und sozialen Entwicklung der Persönlichkeit stellen.

Müssen Eltern selbst musikalisch sein, um bei ihren Kindern die Liebe zur Musik zu wecken?
Die meisten Menschen unterschätzen ihre Musikalität. Wenn Eltern mit ihren kleinen Kindern singen, leisten sie einen wichtigen Beitrag – ganz jenseits jeglichen Leistungsanspruchs. Auf jeden Fall aber sollten sie ihr Kind mit Musik in Berührung bringen und ihm signalisieren, dass sie selbst Freude daran haben.

Wenn ich selbst nicht singen kann, ist dann eine CD mit Kinderliedern eine gute Alternative?
CD’s können zum Mitsingen geeignet sein, wenn die Musik dementsprechend ist. Wenn die Mama oder der Papa es auch versucht, wird es unabhängig von deren musikalischer Kompetenz allen viel Freude machen. Meine Kinder haben bestimmte CD’s geliebt, die wir vor allem auf längeren Autofahrten gemeinsam mitsangen.

Wann sollte die musikalische Begleitung/Erziehung der Kinder beginnen? Schon vor der Geburt, im Bauch der Mutter?
Es ist ganz sicher vorteilhaft, wenn Kinder bereits vor der Geburt Musik erleben. Sollten die Menschen der eigenen Umwelt, also der Familie, in dieser Zeit singen, kann das nur förderlich sein. Das Gehör ist ja der erste Kontakt des Kindes zur Außenwelt. Von Erziehung würde ich in diesem Stadium nicht sprechen wollen. Postnatal ist noch genug Zeit zum Lernen… Ich sage dies im Bewusstsein dessen, dass manche Fachleute das anders sehen.

Ab welchem Alter können Kinder ein Instrument lernen?
Grundsätzlich kann man schon sehr früh beginnen. Im Allgemeinen ist der Weg über die Elementare Musikerziehung ab ca. 4 Jahren sehr gut geeignet, über einen vielfältigen aktiven Umgang mit Musik in der Gruppe zum eigenen Weg auf einem Instrument zu finden. Dennoch: Es gibt Kinder, die sehr früh, mit zwei, drei Jahren eine große Sehnsucht nach einem bestimmten Instrument entwickeln. Wenn es dann gelingt, den richtigen Pädagogen zu finden, kann das zu einem ganz wunderbaren Weg werden. Viele der großen Künstlerkarrieren haben genau so begonnen. Dabei muss ich betonen: Nicht der Elternwunsch nach Karriere des Kindes sollte die treibende Kraft sein, sondern die Lust des Kindes am Instrument.

Wie finden Kinder das richtige Instrument für sich?
Bei manchen Kindern entsteht der Wunsch nach einem ganz bestimmten Instrument durch ein Schlüsselerlebnis. Es gibt aber auch an vielen Musikschulen ein sogenanntes „Instrumentenkarussell“, das die Möglichkeit bietet, verschiedene Instrumente gezielt unter Anleitung auszuprobieren.

Wenn mein Kind partout nicht Gesangs- oder Instrumentalunterricht nehmen will, sollte ich es dennoch dazu drängen?
Die Liebe zur Musik wird sicher nicht aus Zwang geboren. Der richtige Weg ist da sicher der wiederholte sanfte Versuch, das Kind zum Ausprobieren zu bewegen. Wenn es bei seinem Nein bleibt, sollte der Wille des Kindes entscheiden. Man kann nach einer Pause ja einen neuen Anlauf unternehmen. Dann wird es hilfreich sein, wenn das Kind bereits gelernt hat, darauf zu vertrauen, dass es frei in seiner Entscheidung ist.

Der Deutsche Musikrat fordert in einem Grundsatzpapier musikalische Bildung für alle. Warum ist Musik aus Ihrer Sicht so elementar für eine Gesellschaft?
Die Gründe wurden bereits genannt. Sie betreffen den einzelnen Menschen als Persönlichkeit ebenso wie das soziale Miteinander. Eine Gesellschaft aus eigenständigen, gleichzeitig sozial sensibilisierten und zum gegenseitigen Zuhören bereiten Menschen wird im Grundsatz immer eine friedliche und zufriedene Gesellschaft sein.

Sie wünschen in diesem Papier auch eine regelmäßige musikalische Erfahrung im Lebensalltag von Kindern und Jugendlichen? Wie kann das konkret umgesetzt werden?
Wir haben in Deutschland über 900 öffentliche und ca. 300 private Musikschulen, über 50.000 Chöre, darunter auch viele Kinder- und Jugendchöre, ein weltweit in seiner Vielfalt ziemlich einmaliges musikalisches Vereinsleben, nicht zu vergessen vielerorts hervorragende Privatmusiklehrer. Grundlage aber muss sein eine durchgängige, qualifizierte Beschäftigung mit Musik vom Eintritt in die Kindertagesstätte oder den Kindergarten bis zum Abschluss der allgemeinbildenden oder beruflichen Schule. Entscheidende Bedeutung kommt dabei der Grundschule zu, weil sie alle Kinder erreicht, noch dazu in der Altersstufe, die weitgehend über den emotionalen Zugang zu Musik entscheidet. Gerade hier aber ist die Situation in Deutschland im Durchschnitt deprimierend, da sicher weniger als die Hälfte aller Kinder ein solches Angebot erhält.

Was können Eltern leisten für die musikalische Bildung ihrer Kinder, was Kitas und Schulen?
Eltern müssen darauf achten und deutlich fordern, dass ihre Kinder an Kindertagesstätten und Schulen durchgängig singen und musizieren bzw. qualifizierten Musikunterricht erhalten. Darüber hinaus entscheiden Eltern darüber, ob ihre Kinder außerschulische Angebote, wie ich sie gerade genannt habe, wahrnehmen. Im Übrigen: Auch im kirchlichen Rahmen beider großen Konfessionen gibt es vielfältige Möglichkeiten, sich musikalisch zu betätigen.

An welchen Orten können Kinder darüber hinaus musikalische Erfahrung sammeln? Welche Rolle spielen diese Orte?
Auch wenn viel vom aktiven Singen und Musizieren die Rede war: Die bewusst hörende Begegnung mit Musik ist von großer Bedeutung. Der Besuch von Konzerten ist eine wichtige Möglichkeit, Kinder an Musik heranzuführen. Dies gilt im Übrigen auch für Oper und Ballett. Als Musikratspräsident darf ich noch einen Extra-Tipp geben: Mit zu den stimulierendsten Erlebnissen für Kinder gehört es zweifellos, einmal beim Wettbewerb Jugend musiziert oder dessen abschließenden Preisträgerkonzerten zuzuhören. Nirgendwo ist mehr Begeisterung durch Musik zu erleben.

Können Sie beurteilen, ob die Musik, das gemeinsame Singen und Musizieren, sei es in der Familie oder im Chor, in den vergangenen Jahrzehnten eher an Bedeutung verloren oder gewonnen hat?
In den Familien wird weniger gesungen als früher, wo die Musik zum Alltag gehörte. Dafür gibt es eine immer noch wachsende Vielfalt an Angeboten und auch manches hoffnungsfroh stimmende Zeichen: So steigt seit Jahren kontinuierlich der Anteil an Jugendlichen, die in Blaskapellen spielen.

Der Deutsche Musikrat beklagt den oft unzureichenden Musikunterricht an Regelschulen, lange Wartelisten und schlecht bezahlte Lehrer an Musikschulen. Fehlt in Deutschland das Geld oder der Wille für eine flächendeckende musikalische Bildung?
Wo der politische Wille fehlt, fehlt auch das Geld. Das gilt vor allen Dingen für den Stellenwert von Musik an allgemeinbildenden Schulen. Es wird immer auf fehlende Lehrer verwiesen; aber es gäbe und gibt Wege, Musikunterricht zu sichern – auch an der Grundschule. Denn es gilt auch: Wo ein politischer Wille ist, da ist auch ein Weg.

Hat Musik in unserer Gesellschaft den Stellenwert, der ihr zusteht?
Hier zitiere ich kommentarlos unseren Bundestagspräsidenten Norbert Lammert, der ein engagierter Verfechter musikalischer Bildung ist, aus einer Rede in sinngemäßer Wiedergabe: „Um die Blüten am Baum des Musiklebens, unsere Opernhäuser und Orchester, ist mir noch nicht bange. Aber das Wurzelwerk der musikalischen Bildung ist in einem verheerenden Zustand.“ – Daran müssen wir alle arbeiten.