Händigkeit – eine umfassende Betrachtung
Das Thema Händigkeit wird in unserer Gesellschaft leider meist mit dem „Randproblem der Linkshänder“ gleich gesetzt. Nur wenige wissen über die tatsächliche, immense Bedeutung bescheid. Einige Experten gehen heute davon aus, dass fast 50 % der Bevölkerung von Geburt aus als Linkshänder programmiert sein könnten, es gilt inzwischen als gesichert, dass zumindest fast jeder Vierte diese Eigenschaft teilt. Noch heute geht ein Großteil der Eltern falsch mit dem Thema um – und viele wissen nicht, dass Kinder sich von selbst und durch Eltern oft unbemerkt auf die rechte Hand „umerziehen“ können. Ein Dilemma mit oft lebenslangen Folgen. So gesehen haben tatsächlich alle Eltern Berührungspunkte mit diesem Thema – wenn nicht in der eigenen Familie, dann im Bekannten- oder Freundeskreis und garantiert spätestens im Kindergarten oder der Schule. Zudem können auch Rechtshänder dazu lernen, welche Vorgänge sich eigentlich hinter ihrem Automatismus verbergen. Auf den folgenden Seiten werden ausgehend von den Grundlagen für die Händigkeit die immensen Auswirkungen einer falschen Erziehung und viele Tipps für den richtigen Umgang mit diesem Thema geschildert.
Irrglauben von der Minderheit
Schon bei den Griechen wurde – wie in vielen Völkern und Kulturen – die rechte Seite bevorzugt und mit guten Eigenschaften besetzt, während der linken Seite weniger Bedeutung zukam, sie galt sogar negativ als die unglückbringende Seite. Diese Entwicklung wurde kulturgeschichtlich manifestiert – eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Händigkeit fand allerdings erst mit der Industrialisierung, genormten Maschinen und der Einführung der Schulpflicht statt. Da die Mehrheit in der Bevölkerung die rechte Hand bevorzugte, wurden entsprechende Normen geschaffen, denen sich die vermeintliche Minderheit anzupassen hatte. Noch bis in die 1980er und gar 1990er Jahre war die Umerziehung von Linkshändern in deutschen Schulen pädagogisch durchaus üblich. In diesen Jahrzehnten sorgten erste Erkenntnisse der Hirnforschung und der Psychoanalyse hierzulande für ein öffentliches Interesse an Ursachen und Auswirkungen der Händigkeit – da hatten nordeuropäische Länder und die USA eine weitgehende Liberalisierung beim Handgebrauch längst hinter sich. Den Unterschied dokumentierten zwei Studien Anfang der 1970er Jahre: Der Anteil der aktiven Linkshänder an der Bevölkerung der USA wurde in einer Studie mit 25 % angenommen, während es zur gleichen Zeit in Deutschland gerade einmal 1,5 % waren. Die Tatsache, dass vier der letzten fünf amerikanischen Präsidenten Linkshänder waren und auch mit Barack Obama wieder ein Linkshänder an der Macht ist, unterstreicht die Normalität der Linkshändigkeit in der amerikanischen Bevölkerung. In Deutschland wirkt die massive Umerziehung und die traditionelle Normierung zur Rechtshändigkeit bis heute nach. Das pädagogische Personal und viele Einrichtungen sind häufig unzureichend informiert bzw. strukturiert – und in der breiten Gesellschaft wird Händigkeit wenn überhaupt, dann meist als Thema für die „Minderheit“ der Linkshänder wahrgenommen. Viele Eltern bemerken vor diesem Hintergrund oft gar nicht, dass sich Kinder in ihrer frühkindlichen Entwicklung durch Modell- und Nachahmungsverhalten von selbst auf die gesellschaftlich „normierte“ und von Kindern als „richtig“ empfundene Hand umschulen. Dies betrifft auch bewegungskompetente Kinder mit höherem Intellekt, die bewusster beobachten und abstrahieren – und sich so von den eigenen Eltern oder von Alters- bzw. Spielkameraden die unnatürliche Dominanz der eigentlich schwächeren Hand angewöhnen. Sie erziehen sich quasi selbst um – von den Eltern unbemerkt und ohne dass es deren Einwirkung bedarf. Das ist natürlich in beide Richtungen möglich. Dieses Modell- und Nachahmungsverhalten ist einer der stärksten Impulse der frühkindlichen Entwicklung und eng verwandt mit dem Bindungsverhalten an Bezugspersonen. Es liefert heute auch eine Erklärung, warum noch immer viele Kinder an nachhaltigen Problemen durch eine falsche Erziehung ihrer Händigkeit leiden. Eltern, die sich intensiv über Händigkeit informieren, können diese Fehlentwicklung rechtzeitig vermeiden und ihrem Kind helfen. In den vergangenen Jahren sorgte eine zunehmende Aufklärung zu einem beständigen Wachstum links schreibender Kinder an deutschen Grundschulen, er liegt inzwischen bei 15 bis 25 %. Dabei steigt tatsächlich nur der Anteil des aktiven und sichtbaren Handgebrauchs – der sogenannten Manifestation der Linkshändigkeit – und nicht der tatsächliche Anteil, der ja früher durch massive Umerziehung verborgen blieb.
Definition: Als Händigkeit bezeichnet man die Überlegenheit der linken oder rechten Hand. Sie äußert sich in einer größeren Geschicklichkeit, längeren Ausdauer und dem präferierten Handgebrauch. So werden feine Tätigkeiten, wie z.B. das Zeichnen und Schreiben, Schneiden mit dem Messer und das kleinteilige Bauen, vornehmlich mit der bevorzugten oder auch als dominant bezeichneten Hand ausgeführt.
Links ist Normal
Es ist von enormer Bedeutung für linkshändige Kinder, dass sie sich als ganz „normale“ Kinder fühlen. Befürchtungen der Eltern und in der Familie müssen vollständig ausgeräumt werden, damit sich ein Linkshänder nicht als Sorgenkind fühlt. Es darf auch nicht zu einer Überbetonung und Überfürsorglichkeit kommen, die fast immer eine Gegenreaktion bei den Mitschülern und Geschwistern hervorruft. Es sollte allerdings klar gegen überkommene Äußerungen von der „guten Hand“ und ähnliche Sprüche vorgegangen werden, auch wenn das z.B. bei Großeltern zu Auseinandersetzungen oder Problemen führt. Ein Kind sollte seine Linkshändigkeit als natürlichste Sache der Welt erfahren, als Selbstverständlichkeit. Mit einem Anteil von einem Viertel oder gar mehr Linkshändern an der Bevölkerung ist es das ja auch.