Medikamente sind nicht alles
Nach einer sorgfältigen und umfassenden Diagnostik benötigt ein kleiner ADHS-Patient ein gezieltes, maßgeschneidertes und individuelles Behandlungsprogramm unter Einbezug der gesamten Umwelt. Nur so kann die Voraussetzung für eine Besserung der Lebenssituation von Kind und Familie geschaffen werden – zudem ist die Behandlung aufgrund der Komplexität ein dynamischer Prozess, der eine beständige Beobachtung und Optimierung erfordert. Die neurobiologischen Ursachen können ohnehin nicht kuriert werden, daher gilt die Behandlung immer den Symptomen mit dem Ziel, die unaufmerksamen, hyperaktiven oder impulsiven Verhaltensauffälligkeiten zu normalisieren.
In der gesamten Fachliteratur wird eine multimodale Therapie empfohlen, die der Komplexität der Störungen gerecht wird. Die wichtigsten Behandlungen sind die Verhaltenstherapie, die Psychotherapie, die medikamentöse Therapie und das Eltern- und Lehrertraining. Eine umfassende Therapie beginnt in der Regel auch nicht mit dem Medikament, sondern umfasst folgende Schritte:
-1. Aufklärung und Beratung von Patienten, Eltern und Angehörigen sowie Lehrern: Im ersten Schritt wird das gesamt soziale Umfeld auf die Therapie vorbereitet. Dies betrifft klare Strukturen und Regeln sowohl im Elternhaushalt als auch in der Schule. So helfen Eltern klare Orientierungen in der Erziehung, von positiver Zuwendung über das Aufstellen notwendiger Regeln bis zur verlässlichen Strukturierung des Alltags. Erst wenn die Eltern die Krankheit verstehen und anerkennen sowie das weitere erzieherische Umfeld wie die Lehrerschaft kompetent mit ADHS umgeht, ist eine zielführende Therapie möglich.
-2. Elterntraining mit Familientherapie: Eltern „normaler“ Kinder können die Belastungen in der Familie eines ADHS-Kindes nicht nachvollziehen. Die Erziehung von ADHS-Kindern stellt Eltern oft vor immense Herausforderungen und die Beziehung auf eine extrem hohe Belastungsprobe. Hohe Scheidungsraten oder eine soziale Flucht (Vater in Arbeit, Mutter in Hausarbeit) sind die Folge. Hier setzen Elterntraining und Familientherapie an und helfen Eltern, den Alltag mit dem ADHS-Kind zu organisieren und auch für Stabilität und Ruhephasen bei den Eltern zu sorgen.
-3. Verhaltenstherapie des Kindes bzw. Jugendlichen: In der Verhaltenstherapie sollen Kinder unerwünschte Verhaltensweisen abbauen und gezielt neue erlernen. Unter Anleitung eines Psychologen oder Ergotherapeuten erarbeitet das Kind neue Einstellungen und Verhaltensweisen, die seine Lebensqualität verbessern.
-4. Medikamentöse Therapie: Erst an dieser Stelle – wenn die Maßnahmen bis dahin wenig erfolgversprechend waren – setzt die medikamentöse Therapie ein. Eltern sollten sich detailliert über die verschiedenen Möglichkeiten und Medikamente informieren. Am häufigsten werden Medikamente mit dem Wirkstoff Methylphenidat (wie Ritalin), Amphetamin oder Atomoxetin verwendet. Diese Medikamente bringen – einfach formuliert – die Reize im Gehirn in die richtigen Bahnen und lindern dadurch die Symptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität deutlich. Die Medikamente tragen zu einer Normalisierung des Hirnstoffwechsels bei. Es kann daher nicht die Rede von einem „ruhig stellen“ des Kindes sein, vielmehr werden die Fehler in den Hirnfunktionen weitestgehend kompensiert und bahnen dem Kind so den Weg zu einer besseren, eigenen Verhaltenssteuerung mit nachfolgendem günstigerem Lernverhalten sowie Zusammenspiel mit dem sozialen Umfeld. Bei manchen Kindern mit stark ausgeprägten Symptomen müssen Medikamente auch von Anbeginn eingesetzt werden, um anderen Maßnahmen z.B. der Verhaltenstherapie überhaupt erst zum Erfolg verhelfen zu können. Die Medikamentengabe ist nach aktuellem Stand der Wissenschaft bei entsprechender fachlicher Betreuung ungefährlich und zentraler Bestandteil einer ADHS-Therapie, sie bewirkt u.a.: deutlich bessere Aufmerksamkeit, Selbststeuerung, Ausdauer und Konzentration, besseres Zuhören, sinnvolles Umsetzen des Gehörten, Verständnis für Logik, Zusammenhänge und Ermahnungen, Einsicht, bessere Schrift und Rechtschreibung, weniger Fehler. Kurzum: Ein Medikament verhilft ADHS-Kindern durch Kompensation der Fehlsteuerungen im Gehirn zu einem halbwegs normalen Alltag. Wer sich für eine medikamentöse Therapie entscheidet, muss diese gewissenhaft und regelmäßig durchführen. Negative Nebenwirkungen wie vor allem Appetitmangel und Schlafstörungen stehen nicht im Vergleich zum erlangten Gewinn an Lebensqualität. Die medikamentöse Therapie kann nach wenigen Wochen oder Monaten beendet werden, aber auch bis ins Erwachsenenalter andauern. Mindestens einmal pro Jahr sollte zwischen Arzt und Familie überprüft werden, ob noch eine weitere medikamentöse Unterstützung notwendig ist. Wichtig: Die medikamentöse Therapie entbindet nicht von den ersten Stufen! Ohne Berücksichtigung der gesamten Umwelt ist ein nachhaltiger Erfolg deutlich schwerer zu erreichen. Hierzu zählt auch die Aufklärung des sozialen Umfelds der Kinder, um Außenseiterrollen und soziale Ausgrenzung zu vermeiden. Zu Risiken und Nebenwirkungen der Medikamente gibt es im Internet hinreichend Hinweise.
-5. Konzentrationstraining: Zu den Therapiezielen des Konzentrationstrainings zählen die Aneignung eines weniger impulsiven Arbeitsstils, genaueres Arbeiten, eine erhöhte Selbstständigkeit, eine verbesserte Leistungsbereitschaft und die Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion.
Es gibt zudem weitere Therapieverfahren, die diese multimodale Therapie ergänzen können. In Deutschland noch nicht sehr verbreitet ist das Neurofeedback-Verfahren. Hierbei lernen ADHS-Patienten durch Verfahren, bei denen Gehirnströme gemessen werden, die Reizflut durch gezielte Reaktion auf richtige Reize selbst zu kontrollieren. Erste Studien bescheinigen unter Umständen große Erfolgsmöglichkeiten. Aber auch z.B. die Ergotherapie leistet sinnvolle Hilfen.
Spiele für ADS Kinder
Viele Spiele fördern das Sozial- und Regelverhalten und lassen sich sehr gut als positive Verstärkung in der Einzel- oder Gruppensituation einsetzen.
Im Vorschulalter:
Memory Visuelles (Speichertraining, Geschwindigkeit)
Nanu Ich denk da liegt der Schuh (Visuelles Speichertraining, Koordination)
Dallifant (Visuelles Speichertraining)
Koffer packen (Steigerung der Merkfähigkeitsspanne)
Puzzles (Konzentration, Raum Lagetraining)
Blinde Kuh (Taktile Wahrnehmungsübung)
Kartenklatschen (Visuelles Speichertraining, Raum Lage, Schnelligkeit)
Brain Breakers (Konzentration, Impulssteuerung)
Grundschulalter:
Halli Galli (Visuelles Mengenerfassen, Kraftdosierung, Konzentration)
Bingo (Visuelle Merkfähigkeit, 1x1 Training)
Twister (Koordination, Raum Lage, Rechts Links, Sozialverhalten, Bewegung)
Triominos (Visuelles Training, Raum Lage, Zahlenkombinationen)
Mauseschlau und Bärenstark (Bewegung, Lesetraining)
Scheibenmikado (Feinmotorik, Auge Handkoordination, Kopfrechnen)
Speed (Koordination von Mengen, Farben, und Formen, Konzentration, Geschwindigkeit)
Mastermind / Superhirn (Strategie, Konzentration)
Wackelturm / Jenga (Feinmotorik, Kraftdosierung, Augen, Handkoordination, Konzentration)
Erziehung mit ADS und ADHS
Kinder mit ADS oder ADHS brauchen eine auf ihre Bedürfnisse angepasste Erziehung. Eltern müssen lernen, langfristig mit dem Verhalten ihres Kindes umzugehen, es nicht als böse Absicht zu sehen und nicht persönlich zu nehmen – und zu verstehen, dass Kinder für ihr oft verletzendes Verhalten nichts können. Grundregeln sind dann die Einführung von Regeln und Strukturen, das Vermeiden von Bestrafungen. Eltern sollten ihr Kind annehmen, „so wie es ist“, Positives verstärken, sich viel Zeit für ihr Kind nehmen und ihm oft ihre Zuneigung zeigen. Folgende Grundregeln helfen Eltern bei der Erziehung:
Nehmen Sie die guten Seiten Ihres Kindes wahr. Bestärken Sie es darin. Das hilft Ihnen auch schwierige Phasen zu überbrücken und dem Kind zu zeigen, dass sie es mögen.
Loben Sie Ihr Kind. Ihrem Kind fällt es schwerer als anderen Kindern, Regeln einzuhalten und Aufgaben zu Ende zu bringen. Loben Sie es deshalb immer, wenn ihm das gelingt. Positive Verstärkung fördert erwünschtes Verhalten. Bereits die Anstrengungsgsbereitschaft sollte anerkannt werden und auch Teilerfolge.
Stellen Sie klare Regeln auf. Regeln geben Ihrem Kind Halt, Orientierung und Sicherheit. Stellen Sie gemeinsam erfüllbare Familienregeln auf. Setzen Sie klare Grenzen.
Eindeutige Ich-Botschaften. Sprechen Sie klar, eindeutig und dem Kind zugewandt, zum Beispiel: "Ich möchte, dass Du alle Legos in die rote Kiste räumst!" Anschließend kontrollieren! Teilen Sie dabei Aufgaben in kleinere möglichst erfüllbare Abschnitte ein. Also nicht: "Räum dein Zimmer auf!"
Bemühen Sie sich um eine verlässliche Tagesstrukturierung und pflegen Sie Rituale. Dadurch kann sich das Kind im Tagesverlauf besser orientieren und weiß eher, wann welches Verhalten erwünscht ist.
Wenn Ihr Kind eine Regel übertritt, reagieren Sie immer konsequent und unmittelbar. Angemessene negative Sanktionen bei unerwünschtem Verhalten sind z. B. eine Auszeit oder Punkte-Entzug.
Versuchen Sie, Probleme vorherzusehen. Manche Situationen sind bei Kindern mit ADHS besonders problematisch (z. B. Besuch, Hausaufgaben). Vereinbaren Sie vorher rechtzeitig Regeln für diese Situationen und Belohnungen bei Erfolg (s. Punktepläne).
Behalten Sie die Geduld und Übersicht. Haben Sie Verständnis für die Besonderheiten im Verhalten des Kindes. Versuchen Sie ruhig zu bleiben, den inneren Abstand und Geduld zu bewahren.
Nichts erzwingen. Vermeiden sie Diskussionen, wenn die Emotionen überkochen. Geben Sie sich und Ihrem Kind eine Auszeit, verlassen Sie nötigenfalls das Zimmer, um das Problem später mit mehr Gelassenheit zu lösen.
Tun Sie etwas für sich selbst. Kinder mit ADHS kosten viel Kraft. Achten Sie auf Ihre eigenen Bedürfnisse und ausreichend Zeit zur Entspannung. Davon profitiert auch Ihr Kind.
Das sogenannte ADS-Träumerchen braucht wie das ADHS-Kind klare Strukturen und Regeln. Eltern sollten sich nicht über Vergesslichkeit oder das Trödeln ärgern und nicht ständig Ermahnungen aussprechen, das macht das Kind nur angespannter und unsicherer. Bei Schulaufgaben versteht es oft die Aufgabenstellung nicht und sollte diese daher mit eigenen Worten wiederholen. Anders als das ADHS-Kind neigt das ADS-Kind zur Überbewertung seiner Missgeschicke, kommt sich früh schlecht vor, schämt sich und benötigt deshalb deutlich mehr Fürsprache. Es mogelt sich in der Schule irgendwie durch, erleidet aber häufig in der 3. oder 7. Klasse „Schiffbruch“. ADS-Kinder werden oft übersehen, vergessen und auch fehldiagnostiziert, sie können an Rechenschwäche und emotionalen Störungen leiden. Also: Augen auf!
Folgen falscher Behandlung
Wenn ADHS oder ADS nicht oder zu spät diagnostiziert bzw. behandelt werden, können vielfältige psychische und physische Beeinträchtigungen resultieren. Das Krankheitsbild kann sich im weiteren Leben eines ADHS-Betroffenen in folgenden Problemen äußern:
- bei Jugendlichen: Unaufmerksamkeit, Null-Bock-Mentalität, Leistungsverweigerung, oppositionell-aggressives Verhalten, stark vermindertes Selbstwertgefühl, Ängste, Depressionen. Es äußert sich zudem in vermehrten Kontakten zu sozialen Randgruppen, der Neigung zu Verkehrsunfällen, kriminellen Handlungen, Alkohol und Drogen.
- bei Erwachsenen: ADHS kann bei Erwachsenen sehr unterschiedlich und auch schubweise auftreten, es kann – muss aber nicht bei jedem Betroffenen – zu Problemen in Alltag und Beruf führen. Einige haben nach wie vor Probleme mit Aufmerksamkeit und Konzentration, während Hyperaktivität meist in Inaktivität übergeht, gepaart mit innerer Unruhe und Nervosität. Die Folgen können recht weit reichen: Von Schusseligkeit, Vergesslichkeit, Unvermögen zu planen und Dinge zu Ende zu bringen über unbeständige berufliche und soziale Bindungen bis zu Ängsten, Depressionen, Jähzorn, Neigungen zu kriminellen Handlungen, Alkohol, Drogen und einer erhöhten Suizid-Rate.
Demgegenüber stehen auch bei älteren ADHS-Betroffenen häufig zu beobachtende positive Eigenschaften wie Ideenreichtum, künstlerische Kreativität, Begeisterungsfähigkeit, Hilfsbereitschaft und Gerechtigkeitssinn – die bei starker Ausprägung der negativen Merkmale diese aber bei weitem nicht aufwiegen können. Somit ist klar, dass eine rechtzeitige Diagnose, Hilfe und Behandlung für ADHS-Betroffene ein ganzes Leben verändern kann.
Fazit
Von ADHS-Betroffene Kinder leiden an einer Krankheit, zählen häufig zu den „Schlusslichtern“ einer Klasse, werden von ihren Schulkameraden seltener eingeladen und haben häufiger ein schwieriges Verhältnis zu Mitschülern und Geschwistern. Teenager mit ADHS konsumieren zudem öfter exzessiv Alkohol und geraten häufiger in handgreifliche Streitigkeiten als nicht-betroffene Gleichaltrige. Kinder mit ADHS sind im Vergleich zu Kindern ohne ADHS in allen Lebensbereichen deutlich benachteiligt. Nicht alle Eltern haben die Kraft, sich der Diagnose zu stellen und den schwierigen Weg einer umfassenden Therapie fürsorglich mit ihren Kindern zu beschreiten. Eltern gesunder Kinder können die Entbehrungen von Eltern mit einem ADHS-Kind nicht nachvollziehen. Das führt oft zur Ausgrenzung dieser vermeintlich „fehl erzogenen“ Kinder in Kita oder Schule, die von anderen Eltern und schlecht informierten Erziehern oder Lehrern auch noch begünstigt werden kann. ADHS-Kinder können dabei heute ein normales Leben führen – moderne Therapien und Medikamente machen das möglich. Sie können nachhaltig ganz normale Mitschüler und Freunde sein, wenn man das Umfeld über die Krankheit und ihre Ausdrucksformen aufklärt und so dazu beiträgt, dass Mitschüler, Lehrer und Eltern ein ADHS-Kind so annehmen lernen, wie es ist. Deshalb sollten Eltern ihren Beitrag dazu leisten, diesen Kindern zu helfen – anstatt deren Situation durch Abwertung, Beschwerden oder Ausgrenzung zu verschärfen. Nicht selten sind andere Eltern und Kinder daran schuld, dass sich ADHS-Kinder in einem Teufelskreis aus versuchter Integration, Scheitern und verschärfter sozialer Isolation befinden. Es wäre schön (und wichtig), wenn diese Betrachtung dazu beiträgt, dass sich betroffene Familien eher dem Problem stellen – und dabei mehr Unterstützung von nicht betroffenen Familien erfahren.
Weitere Informationen unter:
www.adhs-deutschland.de
www.zentrales-adhs-netz.de
www.adhs.info
www.adhs.info