Spangen für alle?!

Datum: Freitag, 27. Oktober 2017 14:51

Ursachen für Zahnfehlstellungen

Mutter Natur hat leider den wenigsten von uns ein perfektes Gebiss mitgegeben. Etwa jedes dritte Kind hat Zahnfehlstellungen, die so stark ausgeprägt sind, dass sie behandelt werden sollten, wenn auch nicht immer aus medizinischen Gründen. Ein weiteres Drittel hat weniger starke Fehlstellungen, deren Behandlung wäre aus kosmetischer Sicht wünschenswert, aber aus medizinischer Sicht nicht notwendig. Beim letzten Drittel würde der Kieferorthopäde sagen: Kann man behandeln, muss man aber nicht. Übrig bleiben etwa fünf Prozent mit Hollywood-Lächeln.

Die Ursachen für Zahnfehlstellungen sind ganz unterschiedlich. Langes Daumenlutschen oder der Einsatz des Nuckels noch nach dem 3. Geburtstag können zu Fehlstellungen führen. Eltern können in den ersten Lebensjahren des Nachwuchses daher folgendes für ein gleichmäßiges Gebiss tun: Das Kind stillen, denn das Saugen unterstützt das Kieferwachstum. Den Nuckel möglichst früh abgewöhnen, sonst droht ein offener Biss, bei dem obere und untere Schneidezähne nicht mehr richtig aufeinander beißen. Auch Angewohnheiten wie Nägelkauen oder auf die Unterlippe beißen können zu Zahnfehlstellungen führen. Viele Fehlstellungen sind vererbt. Sehr häufig haben die Zähne auch einfach zu wenig Platz, weil der Kiefer zu klein ist. Die Wissenschaft geht davon aus, dass unser Kiefer evolutionär immer kleiner wird, da er heute kein Mammut mehr kauen muss, sondern Zerkleinertes und Gegartes. Er wird also weniger beansprucht, die Zahl der Zähne aber bleibt gleich. Die Folgen sind ganz unterschiedlich:


Die häufigsten Zahnfehlstellungen

Überbiss – Die oberen Schneidezähne stehen vor, der Oberkiefer ragt über den Unterkiefer. Beim Zusammenbeißen treffen die Schneidezähne nicht aufeinander. Etwa 30 Prozent der Bevölkerung haben Überbiss. Problematisch wird es, wenn der Überbiss sehr ausgeprägt ist. Bei einem starken Überbiss ist beispielsweise die Verletzungsgefahr an den Zähnen bei einem Sturz erhöht. Überdecken die oberen Schneidezähne die unteren beim Zusammenbeißen so stark, dass man diese nicht mehr sieht, spricht man von einem Tiefbiss. Dies kann zu Verletzungen des Zahnfleischs oder des Gaumens führen. Um einen Überbiss zu behandeln, wird das Wachstum des Oberkiefers gebremst und das Wachstum des Unterkiefers angeregt.

Vorbiss – Beim Vorbiss ist es genau andersherum, die unteren Schneidezähne stehen vor den oberen. Die kieferorthopädische Behandlung erfolgt also ebenfalls umgekehrt, ist aber schwieriger: Der Unterkiefer muss im Wachstum gebremst, der Oberkiefer angeregt werden.

Kreuzbiss – Beim Kreuzbiss beißen die Seitenzähne nicht richtig aufeinander. Entweder stehen die oberen seitlichen Zähne zu weit nach innen, oder die unteren zu weit nach außen. Das Risiko beim Kreuzbiss ist, dass der Oberkiefer im Wachstum gehemmt wird. Schmerzen am Kiefergelenk und vorzeitige Abnutzung der Zähne sind weitere Risiken.

Offener Biss – Dabei treffen nur obere und untere Backenzähne beim Zusammenbeißen aufeinander, nicht jedoch die Schneidezähne – dort bleibt eine Lücke. Diese Fehlstellung erschwert das Abbeißen und Kauen. Der offene Biss kann auch zu Lispeln führen. Bei einem ausgeprägten offenen Biss kann es sein, dass das Kind vermehrt durch den Mund statt die Nase atmet, was u.a. zu mehr Erkältungen führt. Das Austrocknen des Mundes erhöht außerdem das Kariesrisiko.

Engstand – Der Kiefer ist zu klein, die Zähne haben nicht genügend Platz, um gerade nebeneinander zu wachsen, sie wachsen schief oder in der zweiten Reihe. Mögliche Behandlungsmethoden: Kieferwachstum anregen. Milchzähne schleifen, um mehr Platz für die durchbrechenden Zähne zu schaffen. Ziehen eines gesunden Zahns, vorzugsweise eines kleinen Backenzahns.

Zahnlücken – Ursachen für Lücken zwischen den Zähnen können zu schmale Zähne und/oder ein zu breiter Kiefer sein, aber auch fehlende zweite Zähne. Grund für eine Lücke zwischen den zwei oberen Schneidezähnen kann das obere Lippenbändchen sein. Große Lücken zwischen den Zähnen können zu Problemen bei der Aussprache führen, zudem stehen die Zähne isoliert und können sich nicht gegenseitig stützen, was aber beim Kauen wichtig ist. Der Kieferorthopäde kann versuchen die Zähne zusammenzuschieben, auch ein Implantat kann sinnvoll sein.


Diagnose und Behandlung

Wann sollte eine kieferorthopädische Behandlung beginnen? Auch hier haben wir wieder ganz unterschiedliche Antworten gefunden. Der Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden regte in einem Leitfaden von 2011 an, schon Kleinkinder flächendeckend durch den Kinderarzt auf mögliche Fehlstellungen zu screenen und dann bei Bedarf dem Kieferorthopäden vorzustellen. So wolle man auch jene Kinder erreichen, die nicht regelmäßig zum Zahnarzt gehen. Zu diesem Zeitpunkt haben die meisten noch ihr Milchgebiss. Zahnfehlstellungen bereits in dieser Phase zu behandeln, stößt auch bei Fachleuten auf Skepsis. Die Richtlinien für kieferorthopädische Behandlungen sagen klar: Sehr frühe Behandlungen sollten nur in Ausnahmefällen bei eindeutiger medizinischer Indikation, also starken Fehlstellungen oder gesundheitlichen Problemen beginnen. Diese sind in der Regel so auffällig, dass die Eltern von sich aus einen Kieferorthopäden aufsuchen oder aber vom Kinderarzt bzw. Zahnarzt dorthin überwiesen werden. Sinnvoll ist ansonsten eine Behandlung, wenn der Zahnwechsel fast oder ganz abgeschlossen ist, also in der Regel im Alter ab etwa 11 Jahren. Vorher ist im Mund noch zu viel in Bewegung. Im Alter von 7 bis 9 Jahren wächst der Oberkiefer etwa 1 mm pro Jahr, der Unterkiefer 3 mm pro Jahr, dann verlangsamt sich das Wachstum für etwa zwei Jahre, um im Alter von 12 bis 14 Jahren seinen Höhepunkt zu erreichen: Der Oberkiefer wächst nochmals etwa 1,4 mm pro Jahr, der Unterkiefer 4,5 mm pro Jahr. Gerade ein diagnostizierter Überbiss kann sich also noch stark verändern. Ob eine Spange sehr früh tatsächlich schon sinnvoll ist, lässt sich also kaum seriös vorhersagen. Gleichwohl drängen Kieferorthopäden auf einen nicht zu späten Beginn. Ein Grund dürfte darin liegen, dass eine Behandlung im Schnitt 3 bis 4 Jahre dauert und bis zum 18. Geburtstag begonnen sein sollte, da die Kassen nur dann die Kosten übernehmen.

Um über eine rein ästhetische Behandlung, also eine rein äußerliche Veränderung zu entscheiden, sollten Kinder schon etwas älter sein. Die Behandlung ist mit gewissen Belastungen für Kinder und Eltern verbunden, nicht nur mit finanziellen. Die anfangs vielleicht noch coole Spange könnte bald schon verhasst sein. Eine Elfjährige lässt sich eher in eine Entscheidung mit solcher Tragweite einbeziehen als eine Fünfjährige. Bei der Entscheidung sollten Eltern auch bedenken, dass Zahnspangen in manchen Kreisen mittlerweile als hip gelten. Aber braucht mein Kind bunte Brackets, nur weil fast alle Freunde welche haben?


Gesetzliche Grundlagen

Die Behandlung einer Zahnfehlstellung erfolgt nicht nach Gutdünken des Kieferorthopäden. Für den Ablauf der Behandlung gibt es rechtliche Grundlagen: Für gesetzlich Versicherte gilt § 29 des fünften Sozialgesetzbuches. Demnach haben Versicherte bis zum 18. Lebensjahr Anspruch auf eine kieferorthopädische Behandlung, wenn eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht. Weitere Informationen finden sich im Bundesmantelvertrag für Zahnärzte und in den kieferorthopädischen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen. In den Richtlinien ist u.a. festgelegt:

  • Ausschließlich kosmetische Behandlungen sind keine Kassenleistung.
  • Kieferorthopädische Behandlungen sollen in der Regel erst im späten Zahnwechsel begonnen werden, Ausnahmen sind nur in bestimmten Fällen möglich.
  • Der Kieferorthopäde soll die wirtschaftlichste Behandlungsmethode auswählen.
  • Die Patienten und die Eltern sollen ausreichend aufgeklärt und motiviert werden.


Das KIG-Schema: Wann zahlt die Kasse?

Anlage zu dieser Richtlinie ist das oben bereits erwähnte KIG-Schema. Dieses wurde im Jahr 2002 eingeführt, um auszuschließen, dass kosmetische Behandlungen über die Krankenkasse abgerechnet werden. Es gibt fünf kieferorthopädische Indikationsgruppen (KIG). Je nach Befund, wird der Patient in eine der Gruppen eingestuft, die Kasse übernimmt die Behandlungskosten nur, wenn Stufe 3, 4 oder 5 vorliegt. Richtwert für die Einstufung sind fast immer Millimeter-Angaben. So fällt ein offener Biss erst ab einem Abstand von 2 mm in KIG 3 und wird damit von den Kassen getragen. Beim weit verbreiteten Überbiss zahlt die Kasse erst, wenn die oberen Schneidezähne mehr als 6 Millimeter überstehen. Hier kann ein Millimeter über die Behandlungskosten von mehreren tausend Euro entscheiden. Ist der Befund sehr nah an diesem Grenzwert, sollten Eltern eine Zweitmeinung einholen. Kommt der zweite Kieferorthopäde zu einem anderen Befund, wird die Krankenkasse einen Gutachter beauftragen.

Kritiker des KIG-Schemas sagen, dass die dort festgelegten Werte willkürlich festgelegt, aber nicht medizinisch indiziert seien. Der GKV-Spitzenverband sagt: „Die Grade drei bis fünf der kieferorthopädischen Indikationsgruppen enthalten ausgeprägte Zahnfehlstellungen und Kieferanomalien, deren Korrektur aus medizinischen Gründen notwendig bzw. dringend erforderlich erscheint.“