So entwickelt sich das kindliche Gehirn
Kinder wachsen und mit ihnen ihr Gehirn. Wiegt es bei der Geburt etwa 250 Gramm, sind es um den ersten Geburtstag herum bereits 750 Gramm. Damit wachsen auch die kognitiven Fertigkeiten. Einen besonders großen Sprung macht die Entwicklung des Gehirns um das sechste Lebensjahr. Etwa im Vorschulalter hat das Gehirn seine endgültige Größe erreicht. Im Gehirn sind dann jene Areale gereift, die für das Lernen in der Schule wichtig sind. Das Kind ist von seinen kognitiven Fähigkeiten her tatsächlich schulreif. Bis es die Leistungsfähigkeit eines Gehirns von Erwachsenen erreicht hat, dauert es allerdings noch ein paar Jahre. Bis dahin steigern sich u.a. die Verarbeitungsgeschwindigkeit von eintreffenden Reizen, die Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses und es finden „Umbauarbeiten“ im Gehirn statt.
Wer einmal mit einem Vorschulkind Memory gespielt hat, weiß, dass Teile des kindlichen Gedächtnisses dem erwachsenen haushoch überlegen sein können. Gleichwohl sind andere Teile des Gedächtnisses (Wissenschaftler unterscheiden u.a. zwischen Kurzzeit- und Langzeit- sowie implizitem und explizitem Gedächtnis) längst nicht ausgereift.
Das Kurzzeitgedächtnis bzw. Arbeitsgedächtnis ist entscheidend, wenn es darum geht, Neues zu lernen. Was hier verarbeitet und mit bekanntem Wissen verknüpft wird, hat eine Chance, auch ins Langzeitgedächtnis zu wandern. Die Herausforderung für Lehrer und Schüler gleichermaßen: Das Kurzzeitgedächtnis ist nicht besonders aufnahmefähig, es kann nur kleine Wissenshappen verdauen und braucht regelmäßig eine Pause. Das sollten Lehrer bedenken, wenn sie ihren Schützlingen Wissen vermitteln wollen. Im klassischen Frontalunterricht hilft es, alle fünf Minuten kleine Pause einzuplanen. Da reicht es schon, einen Witz einzuschieben, jemanden zu bitten das Fenster zu öffnen oder Arbeitsblätter auszuteilen. Nach etwa einer halben Stunde braucht das Gehirn dann aber eine längere Pause oder ein neues Thema, sonst ist es nicht mehr aufnahmefähig.
Auch Konzentration müssen Kinder erst lernen. Sie können sich ab dem Vorschulalter ganz gut konzentrieren (bis zu 15 min), wenn sie etwas gefunden haben, was sie sehr interessiert. Mit neun Jahren reicht die Konzentrationsspanne von Kindern bis zu 20 min, mit elf Jahren 30 min. Das heißt: Selbst Kinder im Übergang zur weiterführenden Schule sind noch weit entfernt von der Konzentrationsfähigkeit eines jungen Erwachsen. Hilfreich, um die Konzentration zu erleichtern und zu fördern: kurze und gelegentlich längere, Pausen die mit Bewegung einhergehen sowie gesunde, vollwertige Ernährung.
Wie sich das Lernen im Laufe der Kindheit verändert
Kinder lernen jeden Tag und das beginnt bereits als Embryo im Bauch der Mutter und steigert sich noch mal deutlich nach der Geburt, Kinder lernen nie wieder so viel wie im ersten Lebensjahr: sitzen, krabbeln, laufen, brabbeln und erste Wörter, einen Löffel halten, mit den Händen greifen, malen, essen. Kinder sind von Natur aus neugierig und wollen Neues (Kennen-)Lernen, Aufgabe von Eltern, Erziehern und Lehrern ist es, diese Neugierde zu nutzen und zu bewahren.
Kinder lernen anders als Erwachsene, die zielgerichtet und bewusst Neues lernen (z.B. eine Fremdsprache). Kinder dagegen brauchen zum Lernen Zeit und Raum zum Spielen, soziale Interaktion, feste Bindungen z.B. zu Eltern und Erziehern. Kinder müssen ihren Alltag dazu ganzheitlich erfahren können. Sie müssen ihre Umgebung sehen und hören, schmecken und riechen, und natürlich fühlen und be-greifen. Im Baby- und Kleinkinderalter lernen sie noch spielerisch und nebenbei, im Spiel und in Alltagssituationen. Lange vor der ersten Mathestunde haben sie sich so mathematische Fähigkeiten angeeignet: indem sie Becher in der Wanne mit Wasser füllen, Bauklötze stapeln, ihre Kuscheltiere nach Größe sortieren, Gummibärchen mit der besten Freundin aufteilen, Muster erkennen: z.B. auf der Tischdecke oder die Melodie des Gute-Nacht-Liedes. Sie haben Quatschreime gedichtet und auf Straßenschildern den Anfangsbuchstaben ihres Namens entdeckt. Das Schöne an all diesen frühen Lernerfahrungen: Sie kommen direkt aus der Lebenswirklichkeit der Kinder, die Kinder können das erworbene Wissen in ihrem Alltag anwenden, es hilft ihnen weiter. Das kann übrigens auch später bei ersten Motivationsschwierigkeiten in der Schule helfen. Kinder haben mehr Spaß am Lernen, wenn sie nicht für die Schule lernen, sondern für das Leben.
Kinder lernen also besser und v.a. nachhaltiger, wenn sie ganzheitlich lernen. Allerdings ist an vielen Schulen noch immer das Bulimie-Lernen verbreitet. Viel Wissen reinstopfen und zum Test wieder ausspucken.
Ganzheitliches Lernen – bewährte Tradition oder neumodische Reform?
Die Forderungen nach ganzheitlichem Lernen in Kita und Schule sind keineswegs neu. Schon vor gut 200 Jahren forderte der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) eine ganzheitliche Volksbildung. Von ihm stammt der oft zitierte Ruf nach dem Lernen mit Kopf, Herz und Hand. Nach seiner Überzeugung hat sich der Erzieher/ Lehrer den individuellen natürlichen Voraussetzungen des Kindes zu unterwerfen und nicht umgekehrt. Viele seiner Ansätze wurden später von der Reformpädagogik übernommen. Auch der Verzicht auf Noten und Zeugnisse findet sich schon bei Pestalozzi.
Einer von Pestalozzis Schülern war Friedrich Wilhelm August Fröbel (1782-1852). Er gilt als Begründer des Kindergartens. In Fröbels Pädagogik stehen das Kind und das Spielen im Mittelpunkt. Beim Spielen und im Kontakt mit anderen Kindern und mit Erwachsenen lernen sie ihre Umwelt kennen und begreifen. Wichtigstes Ziel der Erziehung nach Fröbel ist der freie, denkende, selbständige Mensch. Bis heute wird sein Konzept in vielen Kindergärten umgesetzt, auch einige Schulen tragen Fröbels Namen und Geist.
Auch bei Maria Montessori (1870-1952) steht das Kind mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt. Das pädagogische Konzept der Ärztin und Pädagogin wird heute an vielen Kindergärten und Schulen umgesetzt: Es achtet das Kind in seiner Persönlichkeit. Die Kinder dürfen selbst entscheiden, was sie lernen, wann und in welcher Form. Das mag zunächst unrealistisch klingen. Doch mit der Zeit entwickeln die Kinder so eine hohe Selbstdisziplin und Eigenverantwortung. In diesem Konzept der Freiarbeit begleiten die Pädagogen die Kinder und geben ihnen Anregungen, machen Angebote. Sie unterstützen nach dem Prinzip „Hilf mir, es selbst zu tun.“ Maria Montessori hat eigens für ihr Konzept Lern-Materialien entwickelt, die mehrere Sinne aktivieren.
Viele Schulen und Kitas mit ganzheitlichem Konzept arbeiten nach diesen historischen Vorbildern. Darüber hinaus gibt es weitere Ansätze der Reformpädagogik. Die Waldorf-Pädagogik ist eine durch Rudolf Steiner (1861–1925) begründete Pädagogik auf der Grundlage der ebenfalls von ihm entwickelten anthroposophischen Weltanschauung. Die Anthroposophie geht davon aus, dass der Mensch aus Körper, Geist und Seele besteht. In Waldorf-Einrichtungen wird die Umgebung ästhetisch und anregend gestaltet, um den Kindern eine Vielzahl an Sinneseindrücken zu vermitteln. Besondere Bedeutung hat die Förderung der künstlerischen Gestaltung und rhythmischen Körperbewegung. Ein weiterer Schwerpunkt der Waldorf-Pädagogik ist, dass die Kinder durch Nachahmung lernen. Daher nimmt der Erzieher bzw. Lehrer eine wichtige Vorbildfunktion ein.
Gerade an Kitas gibt es noch weitere Konzepte, wie Waldkindergärten, Kneipp-Kitas oder die Reggio-Pädagogik. Ihnen ist gemeinsam, dass sie auf ganzheitliche Erfahrungen setzen und die Eigenständigkeit der Kinder betonen: Die Kinder entscheiden entsprechend ihrer Neigungen und Interessen, womit sie sich beschäftigen.
Die Forderung nach ganzheitlichem Lernen mit allen Sinnen ist also keineswegs neu. Schon früh haben Pädagogen die Bedeutung vielfältiger Sinneserfahrungen für die Entwicklung von Kindern betont. Mittlerweile wurden die Forderungen nach dem Lernen mit allen Sinnen durch die Neurowissenschaften und die Bildungsforschung wissenschaftlich untermauert. Warum haben ganzheitliche Lernmethoden bisher trotzdem kaum Eingang in den Schulalltag gefunden?