Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen
Mit: Bettina Jahn, Kommunikation & Bildung UN Women Deutschland e.V.
Was wurde bisher aus Ihrer Sicht bei diesem Ziel erreicht und was muss noch passieren?
In den letzten Jahren gab es einige wichtige Erfolge, etwa bei der Schulbildung oder im Kampf gegen Armut. Viele Fortschritte sind aber zu langsam und erweisen sich als wenig nachhaltig, wie sich unter anderem in der aktuellen Corona Krise zeigt. Zudem profitieren gar nicht alle von den Fortschritten: Marginalisierte Gruppen, etwa Frauen mit Behinderungen oder Schwarze und indigene Frauen, sind besonders häufig von Diskriminierung, Gewalt und Armut betroffen. Die Maßnahmen zur Erreichung von SDG 5 müssen Mehrfachdiskriminierungen viel stärker einbeziehen und eine sog. intersektionale Perspektive einnehmen. Und alle politischen Maßnahmen – ob bei der Bekämpfung der Pandemie oder des Klimawandels – müssen die Gleichstellung voranbringen.
Wie haben aktuelle Krisen, wie die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg, dieses Ziel bzw. die Diskussion darüber verändert?
Frauen und Mädchen sind in Krisen und Konflikten besonders gefährdet. Zum Beispiel steigt die geschlechtsspezifische Gewalt, im Privaten und im öffentlichen Raum. Erschreckenderweise nahm in Ländern wie Schweden oder den USA während der Pandemie auch die Akzeptanz für häusliche Gewalt zu. Aktuell wird deutlicher denn je, wie weit wir noch von wirklicher Gleichstellung entfernt sind und wie wichtig es ist, alle Geschlechter in Maßnahmen und Lösungen einzubeziehen, um wirklich nachhaltige Erfolge zu erzielen.
Wie steht Deutschland bei diesem Ziel aus Ihrer Sicht da?
Ob beim Einkommen, bei der Rente oder in Entscheidungs- und Machtpositionen – die Gleichstellung in Deutschland geht sehr langsam voran. Die Lohnlücke ist mit 18 Prozent eine der höchsten in Europa, die Rentenlücke mit fast 50 Prozent ebenso. Jede dritte Frau macht Gewalterfahrungen. Bei all dem spielt die ungleich verteilte Sorgearbeit (etwa Kinderbetreuung oder Hausarbeit) zwischen den Geschlechtern eine Schlüsselrolle. Der „Gender Care Gap“, der diese Ungleichverteilung beschreibt, ist durch die Corona-Pandemie und ihre Folgen weiter gewachsen – mit negativen Auswirkungen auf das Einkommen, die Alterssicherung, die Bildung und die gesellschaftliche Teilhabe von Frauen. All das hat verheerende Folgen für die Gleichstellung.
Was können wir in Deutschland konkret dafür tun, damit dieses UN-Ziel erreicht wird?
Die vielbesprochene Vereinbarkeit von Beruf und Familie muss endlich Wirklichkeit werden, etwa durch bedarfsgerechte und kostenlose Kinderbetreuung, Teilzeit- und Elternzeitmodelle für alle Geschlechter. Das Ehegattensplitting muss abgeschafft, bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit muss wertgeschätzt und (finanziell) aufgewertet werden. Wir brauchen Geschlechtervielfalt auf allen Ebenen und in allen gesellschaftlichen Bereichen. Wir brauchen umfassende Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt und den Schutz betroffener Frauen.
Wir begrüßen die feministische Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit der neuen Bundesregierung, die die Bedeutung von Gleichstellung für eine nachhaltige, gerechte und friedliche Welt verdeutlichen.
Wie können Familien mit ihren Kindern über dieses Ziel sprechen und ihre Kinder dafür sensibilisieren?
Sprecht mit euren Kindern darüber, dass auch in Deutschland noch keine Gleichstellung der Geschlechter erreicht ist und was das bedeutet. Teilt zu Hause die Sorgearbeit gleichmäßig zwischen den Eltern und bezieht alle Kinder gleichermaßen in Haushaltstätigkeiten ein. Lasst eure Kinder ohne Geschlechterstereotype aufwachsen – Farben, Spielsachen, Kleider, Gefühle und Berufe haben kein Geschlecht und sind für alle da.