Hurra wir gehen raus!

Datum: Montag, 27. März 2023 14:34

Wer kennt das folgende Beispiel nicht selber zu gut aus dem eigenen schnelllebigen Familienalltag mit Kindern: Da bleibt das Kind stehen, um eine Ameise zu sehen, die eine große Last zum Ameisenhaufen schleppt. Ungeduldig wird das Kind zum Weitergehen aufgefordert: „Jetzt komm schon. Los, geh weiter, was siehst du denn da schon wieder? Als wenn du noch nie eine Ameise gesehen hättest!“ (Wir) Erwachsenen sind laut Ingeborg Becker die größten „Verhinderer“ solcher Wahrnehmungen. Dabei lieben Kinder die Natur und brauchen diese auch. Durch den Umgang in und mit der Natur öffnen sich die Sinne und schult sich der Verstand. Kein Fernsehfilm könnte das ersetzen, was ein Kind etwa beim Klettern erlebt: Augen, Hände und Füße müssen gut kooperieren, um sicheren Tritt zu fassen an der Rinde des Baumstamms, ein Ausrutschen verwandelt Übermut in Vorsicht, das Einschätzen der Tragfähigkeit eines Astes lehrt planendes Handeln. Seine körperlichen Grenzen erfährt das Kind hier ebenso wie das überwältigende Gefühl, ein Ziel erreichen zu können (vgl. Elke Leger). Die Defizite bei den Kindern entstehen durch eine künstlich geschaffene Welt und die oft durch zu viel Spielzeug vollgestopften Kinderzimmer. Experten beobachten seit Jahren die zunehmenden Defizite der Kinder: Sie sind ungelenkig und übergewichtig, und Erzieher*innen und Lehrer*innen klagen über den wachsenden Egoismus ihrer Schützlinge. In den Schuleingangsuntersuchungen zeigt sich, dass immer weniger Kinder noch balancieren, rückwärts laufen oder auf einem Bein hüpfen können. Wie aber soll ein Kind seinen Bewegungsdrang ausleben, wenn seine Umgebung fürs Stillsitzen gemacht ist, im Auto, vor dem Fernseher, in der Wohnung? Saskia Gerhard (DIE ZEIT Nr. 34/2015, 20. August 2015) schreibt: „In der Natur finden Kinder mehr als nur Freiheit. Sie ist Klassenzimmer und Entwicklungsraum.“ Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster sagt sogar: „Natur ist für Kinder so essenziell wie Nahrung.“ Weiterhin betont Renz Polster: „Wer über kindliche Entwicklung redet, muss auch über Natur reden: Wie die Kleinen groß werden. Wie sie widerstandsfähig werden. Wie sie ihre Kompetenzen für ein erfolgreiches Leben ausbilden.“

Naturerfahrung von Geburt an! Die Natur schenkt Kindern sehr viel: Bewegung, Entwicklung der Motorik, ein starkes Immunsystem, starke Nerven, Entspannung und die Erfüllung lebenswichtiger Bedürfnisse nach Bindung, Selbstwirksamkeit, Autonomie, Grenzerfahrung, Mitgefühl und Kreativität. Um diese Geschenke aber annehmen zu können, braucht es eine Vielfalt von Begegnungen mit NaturRäumen: Wälder, Flüsse, Spielplätze, Gärten, Parks, Berge, Seen, …und dies alles zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter. Bereits ab dem ersten Lebensjahr kann/könnte Natur ein fester Bestandteil im Alltag eines (Klein-)Kindes sein. Dazu braucht es eine engagierte Elternschaft oder andere Naturbegleiter*innen.

Das Konzept von z. B. Waldkindergärten bietet Kindern eine Möglichkeit, sehr früh einen engen Bezug zur Natur aufbauen zu können. Diese Begegnungen mit der Natur fördern nicht nur die Sinne, sondern auch das ökologische Denken unserer Kinder. Vielleicht haben Eltern bei der Auswahl von Kindergärten ja die Möglichkeit, sich einen Waldkindergarten in der näheren Umgebung anzusehen. Viele Kindergärten greifen den Naturgedanken der Waldkindergärten aber bereits auf und bieten alternativ regelmäßig einen Waldtag in der Woche oder Projekte im Wald an. Weiterhin ist das „Freie Spielen“ in vielen Kindergartenkonzepten ein fester Bestandteil. Hier geht es nicht darum, den Kindern immer nur Dinge vorzugeben, sondern sie spielen zu lassen, um sich selbst und ihre Grenzen auszuprobieren. Das Rumtollen und -toben, Naturerleben auf Wiesen, Feldern und Brauchland birgt viele neue und spannende Erlebnisse für Kinder. Das Spielen der Kinder sollte durch die Eltern begleitet, aber Kinder nicht in ihrer Phantasie eingeengt werden. In der „Wildnis“ spielen die Kinder anders. Weber weiß: „Zwischen Bäumen und Steinen regiert kein Erwachsener“. Hier bestimmen die Kinder selbst und treten als eigene Akteure auf – mit der Natur als faires Gegenüber. Bernd Neumeister schreibt: „Der Wald als Spielraum hält für die Kinder vielfältige Formen, Farben und Phänomene bereit, die zahlreiche Anreize für die Phantasie geben. Die Sinne des Kindes – Sehen, Fühlen, Hören, Riechen und Schmecken – sind im Wald ständig gefordert.“ Die Kinder können sich dort frei bewegen und vielfältige Raumerfahrungen machen. Sie lernen so ihre Möglichkeiten, aber auch die Grenzen ihrer Bewegungsfähigkeiten kennen. Auch bietet der größere Bewegungsraum im Wald gegenüber der Raumbegrenzung im Kindergarten den Vorteil, dass besser Aggressionen abgebaut werden können. Man kann sich besser aus dem Weg gehen und es entstehen weniger Reibungen. Auch die Lautstärke der Kinder wird für alle erträglicher.

Wir Erwachsene sollten Kindern die Möglichkeit geben, sie eigne (Natur-)Erfahrungen machen lassen zu dürfen und nicht jeden ihrer Schritte angstvoll beobachten oder gar stets unterbinden – ein Schritt zum Sehen in Kinderaugen. Bestärken SIE Kinder darin, u. a. auf Bäume zu klettern, vermitteln Sie ihnen das Gefühl, Sie sind als Beobachter dabei und greifen bei Gefahr ein. Lassen Sie sich doch von den Kindern zeigen, was diese sehen. Lassen SIE sich in Staunen versetzen, und berichten SIE über eigene Beobachtungen erst, nachdem die Kinder berichtet haben. Kinder sehen andere Dinge, sehen mit anderen Augen, stellen andere Zusammenhänge her, werten ihre Wahrnehmung nach anderen Gesichtspunkten, wenden sich mehr dem Kleinen, dem Detail zu und eröffnen gerade uns Erwachsenen (neue) längst vergessene Blickwinkel (vgl. Ingeborg Becker).

Für Eltern: Die Arbeit läuft nicht davon, während du dem Kind den Regenbogen zeigst, aber der Regenbogen wartet nicht, bis du mit deiner Arbeit fertig bist. (Unbekannt)

www.netzwerk-gesunde-kinder.de 

www.kindersicherheit.de