„Vielfalt ist unsere Chance“
Interview mit Jörg Dräger
Jörg Dräger ist Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung und für Bildung zuständig. Der zweifache Familienvater veröffentlichte im vergangenen Jahr zudem das Buch „Dichter, Denker, Schulversager“ über unser Bildungssystem.
Denken Sie, wir Deutschen meckern seit dem PISA-Schock schon aus Gewohnheit, oder ist unser Bildungssystem tatsächlich so schlecht?
Ich würde sagen: Hälfte, Hälfte. Denn was wir häufig übersehen: Seit etwa 12 Jahren macht Deutschland unter den entwickelten Ländern der Welt den größten Fortschritt im Bildungssystem. Wenn man also PISA 2000 und PISA 2010 vergleicht, dann geht es in Deutschland am steilsten nach oben – aber nur für die Schüler, deren Kompetenzwerte zuvor sehr gering waren. Die schwächsten Schüler sind in diesen zehn Jahren viel besser geworden. Die besten und stärksten Schüler hingegen stagnieren, in Teilen sind deren Leistungen sogar leicht zurück gegangen.
Sie sprechen in Ihrem Buch „Dichter, Denker, Schulversager“ in dem Zusammenhang sogar von einer Gefährdung der Gesellschaft. Ist das nicht ein bisschen übertrieben?
Nicht dort, wo wirklich Schüler die Schule ohne Abschluss abbrechen und an der Gesellschaft später nicht teilhaben können. Wir tolerieren seit fünfzig Jahren, dass in Deutschland zwischen einem Fünftel und einem Drittel der Schüler durch das Raster des Bildungssystems fallen. Das kostet das Sozialsystem unglaublich viel Geld, das steigert die Kriminalität, das treibt die Gesundheitskosten nach oben.
Kann man die negativen Effekte schlechter Bildung genauer benennen?
Was man berechnen kann, sind riesige, fast unvorstellbar große makroökonomische Effekte. Unser Wirtschaftswachstum leidet an den Nicht- und Geringqualifizierten. Über ein Menschenleben hinweg, also die Zeitspanne von 80 Jahren, geht uns durch den großen Anteil Geringqualifizierter die gewaltige Summe von 1.800 Milliarden Euro verloren. Auch die Belastung der Sozialsysteme kann man berechnen: In jedem Jahr bleiben ungefähr 150.000 Menschen ohne Ausbildung, das kostet uns für jeden Jahrgang 1,5 Milliarden an entgangenen Steuern bzw. an Arbeitslosenversicherung und Sozialleistungen. Auch eine starke Abhängigkeit zwischen geringer Bildung und höherer Kriminalität ist belegt. Wenn es nur die Hälfte der heutigen Schulabbrecher gäbe, dann hätten wir 300.000 Straftaten weniger pro Jahr.
Wenn wir an PISA denken, haben wir immer Finnland als Gewinner im Hinterkopf. Was wird dort besser gemacht?
Ich würde nicht nach Finnland schauen. Finnland hat eine sehr homogene Gesellschaft. Wir hingegen haben in Deutschland inzwischen eine sehr heterogene Gesellschaft, viele Kinder mit Migrationshintergrund oder aus sehr unterschiedlichen sozialen Schichten. Da ist Kanada ein viel besseres Beispiel. Kanada hat ähnliche gesellschaftliche Voraussetzungen und dennoch deutlich bessere Bildungserfolge. Dort gibt es eine ganz andere, individuelle Lernkultur in der Schule. Der Leitspruch ist häufig „Vielfalt ist unsere Stärke“. In Deutschland würde man gerne sagen „Vielfalt ist unser Problem“. Hierzulande würde ein Lehrer sagen, dass seine Schüler einfach zu ungleich sind, er könne sie nicht unterrichten. Die kanadische Philosophie lautet: Diese Ungleichheit ist der Ausgangspunkt jedes Lernens. Es ist die Aufgabe des Lehrers, ein Lernbegleiter zu sein und einen individuellen Lernplan mit den Schülern aufzustellen, nach dem jeder Einzelne nach seinem persönlichen Leistungsstand und seiner eigenen Lerngeschwindigkeit lernen kann. Das ist der große Unterschied. Wenn wir in einer Klasse, auch am Gymnasium, einen Leistungsabstand von mehreren Jahren habe, können wir den Unterricht nicht mehr am Durchschnitt orientieren und das Wissen nicht mehr im Gleichschritt vermitteln. Wir müssen den Kindern das „Lernen lernen“ beibringen. Das ist die Grundidee dieser anderen Art der Pädagogik.
Viele Bildungsexperten fordern das individualisierte Lernen. Können wir das mit unserer bestehenden Lehrerschaft überhaupt umsetzen?
Wir wissen, dass es im Endeffekt auf die Lehrer ankommt. Unsere Lehrer sind nicht schlechter als anderswo. Sie sind aber für eine andere Art des Unterrichtens ausgebildet worden. Die neue Pädagogik der Individualisierung hat auch viel mit den richtigen „Werkzeugen“ zu tun, die ich anwenden kann. Aus meiner Sicht ist die wichtigste Antwort auf die Misere unseres Bildungssystems eine Lehrerfortbildung für ganz Deutschland, jeweils für die gesamte Schule. Unsere Schulen müssen sich auf die Lernkultur der individuellen Förderung umstellen.
Der PISA-Schock ist ja eigentlich lang genug her. Wissen Sie, ob sich seitdem in der Lehreraus- und -fortbildung schon viel geändert hat?
Die Hochschulen sind durchaus dabei, ihre Ausbildungen zu reformieren. Aber noch hinken die Hochschulen etwas hinterher. Ein Beispiel: Bei weniger als 20 Prozent der Hochschulen ist Inklusion ein zertifizierter Schwerpunkt der regulären Lehrerausbildung. Das ist im Moment aber das Megathema in der Schulpraxis. Hier ist die Lehrerausbildung noch deutlich hinter dem her, was heute in der Schule schon gefordert ist. Zudem dauert es Jahrzehnte, bis neu ausgebildete Lehrer in das System hineingewachsen sind. Wir können aber nicht Jahrzehnte warten, das können wir uns gar nicht leisten. Deswegen müssen wir mit umfassender Lehrerfortbildung der bestehenden Lehrerschaft eine Chance zu geben, diese neuen Instrumente von Inklusion über individuelle Förderung bis zur neuen Ganztagspädagogik nochmal neu lernen zu können.
Wenn wir mal von den Lehrern weg und hin zu den Konzepten schauen – da liefern Kanada und Australien mit seinem ebenfalls föderalen System gute Beispiele für erfolgreiche Bildungssysteme. Warum kopieren wir diese nicht einfach?
Kopieren fällt schwer. Eine gute Idee verbreitet sich nicht automatisch von allein. Notwendig ist vielmehr der systematische Kompetenzaufbau bei den Lehrern, um mit diesen Ideen umgehen zu können.
9 von 10 Eltern fordern heute eine Vereinheitlichung unserer Schulbildung und eine Bundeszuständigkeit. Warum sehen Sie das anders?
Viel wichtiger als eine Vereinheitlichung ist die Erkenntnis, dass die Schüler viel unterschiedlicher sind als die Bildungssysteme der 16 Bundesländer. Natürlich haben wir heute die schwierige Situation, dass zwischen sächsischen Schülern und Bremer fünfzehnjährigen Schülern im Durchschnitt ein bis zwei Jahre Lernunterschied liegen, weil die Sachsen soweit voraus und die Bremer soweit hinterher sind. Aber schon in einer einzigen Klasse, egal ob in Sachsen oder Bremen, liegen viele Jahre zwischen dem stärksten und dem schwächsten Schüler. Wir brauchen deshalb verlässliche und bundeseinheitliche Standards, aber sehr viel Freiheit für die einzelnen Schulen, diese Standards und Ziele auf individuellem Weg zu erreichen. Was der Bund leisten muss, ist Transparenz über die Ergebnisse der Bildung. Das ist eigentlich das Kernproblem: Die Bundesländer verbergen systematisch die Schwächen ihrer Bildungssysteme, sie wollen keine Transparenz.
Gibt es für Sie einen Grund, warum die Länder den Vergleich scheuen?
Es ist unbequem. Landesminister sind für die Qualität der Bildung verantwortlich. Wenn das Ergebnis eines Vergleichstests zeigt, dass das Bildungssystem schlechter ist als das vom Nachbarland, droht Ärger. Leider lässt sich das System aber nur mit einem offenen Umgang verändern, in dem wir Stärken und Schwächen erkennen. Transparenz ist der günstigste, einfachste und effektivste Verbesserungsmechanismus. Wir zahlen heute Milliarden an Steuergeldern zur Verbesserung des Bildungssystems und wissen dennoch nicht, was hinten rauskommt. Da sehe ich Bund und Länder in der Verantwortung. Der Ländervergleich PISA-E, der einen solchen Vergleich zugelassen hat, wurde in allen Ländern, auch in Brandenburg, grundlos abgeschafft.
Viele Dinge, die Sie in Ihrem Buch fordern, sind in Brandenburg schon Realität: Zweigliedrigkeit, Grundschule bis zur 6. Klasse, Versuche mit einer jahrgangsübergreifenden Schuleingangsstufe, ausreichend Kitaplätze – warum produzieren wir im Bundesvergleich dennoch mit die meisten Bildungsverlierer ohne Schulabschluss?
Es zählt auch Qualität. Der Osten hat viel mehr Kitaplätze als der Westen. Die Betreuungsrelation und damit die Qualität sind im Osten aber schlechter. Brandenburg ist da übrigens in einem deutlichen Aufholprozess. In Brandenburg und insgesamt in den östlichen Bundesländern ist aber auch das Thema der Integrationskraft der Schulsysteme gerade für die Förderschüler sehr schlecht. Viele Kinder gehen auf die alten Sonderschulen und erreichen in der Regel keinen Abschluss. Wenn wie in Brandenburg und im Osten üblich ein System mit vielen Förderschülern existiert, dann haben wir fast automatisch viele Bildungsverlierer.
Dafür haben wir doch die Migranten nicht ...
.. stimmt, aber Bildungserfolg hat auch viel mit dem Sozialstatus zu tun. Ärmere Bundesländer haben mehr Probleme in ihrem Bildungswesen.
Ein großes Projekt im Land Brandenburg ist „Inklusion – Schule für alle“, ein Vorhaben, das in der Realität an den Lehrern zu scheitern scheint. Warum?
Das liegt auf der Hand. Die Politik neigt dazu, zuerst die Strukturveränderung zu machen, also Inklusion oder längeres gemeinsames Lernen oder Gemeinschaftsschulen per Gesetz zu beschließen. Erst im Nachhinein wird versucht, die Lehrkräfte auf die wachsende Heterogenität vorzubereiten. Das ist falsch und eine der zentralen Schwachstellen der Bildungspolitik in Deutschland. Erst die Kompetenz, dann die Struktur – das muss die Politik erkennen. Erst muss ich die Lehrer ausbilden, damit sie mit der neuen Struktur umgehen können, und dann kann ich die Veränderung machen.
Wie wird unser Bildungssystem nun besser, was muss zuerst verändert werden?
Wir hatten viele Jahrzehnte Schwierigkeiten mit unserem Bildungssystem. In den 60ern die deutsche Bildungskatastrophe, dann kam eine Aufbruchsstimmung. Es ist viel versucht worden, aber wir hatten jahrzehntelang einen Ideologiekampf. In der Politik wurde von Landtagswahl zu Landtagswahl und von Gesetzesnovelle zu Gesetzesnovelle aus dem Bauch heraus argumentiert und verändert. Diese Zeit des ständigen Hin und Her hat deutscher Bildungspolitik sehr geschadet. In den vergangenen zehn Jahren haben wir dank PISA plötzlich Fakten und in der Bildungspolitik auch große Fortschritte gemacht. Bildungspolitiker konnten sich daran orientieren und nach diesen Fakten handeln, also das Richtige tun. Die CDU löst sich von der Hauptschule, die SPD akzeptiert, dass das Gymnasium eine Zukunft hat, alle machen individuelle Förderung, und durch diesen Pragmatismus ist viel geschehen. Ich befürchte allerdings, dass wir mit der aktuellen Politik der Bundesländer jetzt wieder in ein Zeitalter der Intransparenz zurück fallen.
Wir brauchen also hauptsächlich mehr Transparenz. Aber wer muss da den ersten Schritt machen?
Nach der Bundestagswahl werden wir folgende Situation haben: Die Länder brauchen deutlich mehr Geld für ihre Bildungssysteme. Die Krippenplätze müssen ausgebaut werden, auch das kostet Geld. Im Osten ist es sicher die Betreuung und Qualität, im Westen ist es die Zahl der Plätze. Die Ganztagsschulen müssen ausgebaut werden, Inklusion muss verwirklicht werden. Zudem haben wir einen Ansturm auf Studienplätze, das kostet auch sehr viel Geld. Die Länder sind nicht in der Lage, diese neuen Projekte finanziell zu stemmen. Der Bund wird aber den Ländern zusätzliches Geld nicht bedingungslos geben. Ich erhoffe mir, dass es zu der Vereinbarung kommt: „Geld gegen Transparenz“.
Danke für das Interview