Gibt es zu wenig Beratungsangebote oder werden sie zu wenig genutzt?
Es fehlt einerseits an Transparenz, andererseits an einheitlichen Standards. Wie schon angedeutet, ist die Erziehung von Pflegekindern eine öffentliche Aufgabe, die allerdings im privaten Rahmen wahrgenommen wird. Das heißt, die Fachkräfte der öffentlichen und privaten Träger müssen mit ausreichend Ressourcen ausgestattet sein, um die Kinder gut im Blick zu behalten und die Pflegefamilien beraten und unterstützen zu können. Ein weiteres Problem sind fehlende überregionale Standards. Die Kinder- und Jugendhilfe ist zwar bundesweit einheitlich im Sozialgesetzbuch geregelt, dann gibt es noch landesweite Richtlinien, aber die konkrete Umsetzung passiert auf Ebene der Landkreise und Kommunen und da gibt es dann starke Unterschiede. So ist z. B. in einer Stadt eine Fachkraft für 15 Pflegefamilien zuständig, in der nächsten für 100. Das hat natürliche Auswirkungen auf die Qualität der Betreuung und damit auf die Qualität des Pflegeverhältnisses.
Ein weiteres Thema, das potentielle und tatsächliche Pflegefamilien beschäftigt, ist die mögliche Rückführung des Kindes zu den Eltern und die damit verbundene Unsicherheit. Wie sollten Pflegefamilien damit umgehen? Im Mittelpunkt steht immer das Kind. Und in seinem Interesse sollte entschieden werden, ob eine Rückkehr zu den leiblichen Eltern sinnvoll ist. Pflegeeltern erfüllen einen öffentlichen Auftrag, auch wenn er im privaten Rahmen stattfindet. Das ist emotional nicht immer einfach zu vereinbaren. Die wichtigste Frage aber bleibt: Was ist das Beste für das Kind? Wir nehmen die Sorgen und Ängste der Pflegefamilien sehr ernst und bieten ihnen qualifizierte Ansprechpartner an. In der Theorie sollte es so sein, dass bereits im Vorfeld der Vermittlung eines Kindes die Rückführungsperspektive geklärt wird, damit alle Seiten wissen, woran sie sind. In der Praxis funktioniert das auch meistens, aber eben leider nicht immer.
Wie kann es gelingen, die Interessen des Kindes mehr in den Mittelpunkt zu rücken? Die derzeit geplante Reform des SGB VIII scheint diesen Gedanken aufzunehmen. Wir müssen die Kinder mehr einbeziehen. Das beginnt schon damit, die Kinder und Jugendlichen über ihre Rechte zu informieren, die sie ja durchaus haben. Es geht damit weiter, ihnen die Chance zu geben, andere Pflegekinder kennenzulernen und sich mit ihnen über deren Erfahrungen auszutauschen. Bei uns wird das so umgesetzt, dass wir regelmäßig Ausflüge, Workshops oder Feste zu bestimmten Themen für die Kinder anbieten. Kinderräte sind eine weitere Möglichkeit.
Im Zusammenhang mit Pflegefamilien taucht immer mal der Vorwurf auf, diese wollten sich in erster Linie finanziell bereichern. Was sagen Sie solchen Kritikern?
Das ist ein althergebrachtes Vorurteil, das leider immer noch verbreitet, rechnerisch aber nicht nachvollziehbar ist. Kinder und Jugendliche werden in Wohngruppen im Schichtdienst von mehreren Mitarbeitern betreut. Pflegeeltern machen das zu zweit – rund um die Uhr. Ihre Bezahlung ist vom Mindestlohn ziemlich weit entfernt. In einigen Pflegefamilien gibt ein Elternteil seinen Beruf auf, um voll und ganz für das Pflegekind da zu sein. Pflegekinder sind sehr wohl eine Bereicherung, aber sicher nicht in finanzieller Hinsicht.
Inwiefern sind Pflegekinder eine Bereicherung, wo liegt der Mehrwert für die Pflegefamilie? Wer ein Pflegekind aufnimmt, bekommt ein neues Familienmitglied, das ist wie bei den eigenen Kindern eine Bereicherung, denn das Kind bringt neue Impulse in die Familie, gibt Liebe zurück. Die Familie erlebt sich neu. Die Pflegeeltern erfahren, dass sie in der Lage sind, einem zunächst fremden Kind Liebe und Halt zu schenken und dass sie dafür etwas zurückbekommen. Die Familienmitglieder, auch die Geschwister, entwickeln im Umgang mit dem Pflegekind soziale Kompetenzen – sie lernen, dass es nicht allen Kindern so gut geht, dass es auch schwierige Familienverhältnisse gibt.
Nichtsdestotrotz gibt es zu wenig Pflegefamilien. Wie ließen sich mehr gewinnen?
Wir brauchen mehr Öffentlichkeit. Die Pflegefamilien und das was sie leisten, tauchen viel zu selten in den Medien auf. Und wenn doch, dann meist mit Negativschlagzeilen, in denen darüber berichtet wird, was alles nicht klappt. Dabei leisten Pflegefamilien jeden Tag einen fantastischen Job, eine großartige gesellschaftliche Arbeit. Es gibt tausende Pflegefamilien, wo es richtig gut funktioniert. Das wird aber zu selten wertgeschätzt. Das muss viel häufiger passieren, getreu dem Motto: Tue Gutes und rede darüber. Zudem wurde die Pflegekinderhilfe lange von der Forschung vernachlässigt, das wandelt sich jetzt. Die Forschungsgruppe Pflegekinder an der Universität Siegen leistet da hervorragende Arbeit.
Welche Rolle spielen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Ihrer Arbeit?
Wir haben bereits 2010, also vor der sogenannten Flüchtlingskrise, ein Projekt mit dem Titel „Kinder im Exil“ gestartet. Seitdem haben wir 90 Jugendliche in Pflegefamilien vermitteln können, in diesem Jahr noch mal 50. Das erscheint bei fast 2.700 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die im vergangenen Jahr nach Bremen kamen, nicht sonderlich viel. Aber für die vermittelten Jugendlichen und deren Pflegefamilien ist es ein Erfolgsmodell, von dem beide Seiten etwas haben. Dazu muss man sagen, dass nicht alle Jugendlichen – wie auch bei deutschen Pflegekindern – in eine Pflegefamilie wollen. Andere sind besser in einer Wohngruppe aufgehoben.