„Das halte ich für einen Skandal“
Interview mit Dr. Johanna Barbara Sattler
Dr. Johanna Barbara Sattler, approbierte Psychotherapeutin, Psychologin; Gründerin und Leiterin „Erste deutsche Beratungs- und Informationsstelle für Linkshänder und umgeschulte Linkshänder e.V.“
Sie haben 1985 die erste Beratungsstelle für Linkshänder gegründet – auf welche Erfolge können Sie inzwischen verweisen?
Bei der Umschulung der Händigkeit hat sich viel getan. Die Umschulung der Händigkeit hat glücklicherweise drastisch abgenommen. Heute steht in den Lehrplänen nicht mehr, dass bei leichter Linkshändigkeit auf rechts umgeschult werden sollte. Auch für die Schreibmotorik linkshändiger Kinder wird viel mehr getan, es wird auch versucht, mehr auf die Schreibhaltung zu achten. Hier gibt es eine weit größere Akzeptanz in den Lehrplänen für die Grundschule. Auch bei Gebrauchsgegenständen für Linkshänder ist es inzwischen normaler, diese auch im Handel und nicht nur im Spezialhandel zu erhalten. Inzwischen ist auch ein Bewusstsein für die Bedeutung dieses Themas im beruflichen Alltag entstanden – aber hier ist noch viel zu tun.
Welche Hilfe erhalten Interessierte oder Betroffene bei Ihnen?
Wir verfügen inzwischen über ein Netzwerk von über 350 zertifizierten Linkshänder-Beratern im deutschsprachigen Gebiet. Auf die können wir verweisen. Zudem betreuen wir Kindergruppen zum Erlernen der richtigen Schreibhaltung, machen auch Tests und Beratungen zum Thema. Wir bieten für Erwachsene, umgeschulte Linkshänder Rückschulungen auf ihre dominante Hand an. Da haben wir ein Programm entwickelt, dass Betroffenen auch ein gewisses Sicherheitsnetz bietet. Wir versuchen auch Hilfestellung bei Problemen mit der Händigkeit im beruflichen Umfeld zu geben. Vor allem auf unserer Internetseite unter www.linkshaender-beratung.de sammeln und veröffentlichen wir alle Erkenntnisse – dort gibt es auch Literaturhinweise, Verweise zu Spezialhändlern, z.B. zum Thema Musik und vor allem zu Musikinstrumenten für Linkshänder, und bald auch zum Thema Sport.
Kommt dem Thema Händigkeit in Deutschland eine geringere Bedeutung zu als z.B. in Nordeuropa oder den USA?
Inzwischen ist die Versorgung und Beratung für Linkshänder in Deutschland einzigartig. In anderen Ländern wurde Linkshändigkeit in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts allerdings viel liberaler behandelt und nicht wie in Deutschland intensiv umgeschult. Bis in die 1980 er Jahre waren wir in Deutschland sehr konservativ. Jetzt sind wir aber international Vorreiter, insbesondere bieten wir eine breite Vielfalt an Produkten für Linkshänder an, die zum großen Teil auch in Deutschland produziert werden. Auch spezielle Linkshänder-Berater gibt es in anderen Ländern überhaupt nicht.
Wo gibt es beim Thema Händigkeit die größten Defizite: bei Eltern, im Kindergarten oder im Schulsystem?
Ich würde lieber antworten, wo in Deutschland noch der größte Handlungsbedarf besteht. In den meisten Bildungs- und Erziehungsplänen, die Kindergärten, Kinderkrippen und Horte betreffen, ist Händigkeit in den meisten Bundesländern kein Thema. Das halte ich für einen Skandal. Dort gehört unbedingt hinein, dass man Kindern rechtzeitig Hilfestellung gibt. Wenn z.B. die Schreibhaltung im Kindergarten nicht ordentlich vorbereitet wird, hat der Linkshänder in der Schule später einen schweren Stand, wenn der Füller eingeführt wird.
Ist Händigkeit Bestandteil der Ausbildung für Erzieher bzw. Erzieherinnen?
In den Lehrplänen für das pädagogische Personal in Kindergärten findet man viele andere Themen. Da spielt je nach Bundesland z.B. das Wecken von Interesse an Technik und Natur oder die Entwicklung verschiedener Kompetenzen eine große Rolle. Das Thema Händigkeit steht bei den meisten erst gar nicht drin. Dadurch werden Erzieherinnen kaum mit diesem wichtigen Thema konfrontiert. Oft wird Erzieherinnen z.B. noch heute vom Fachhandel erzählt, dass es Beidhänderscheren gäbe. Die gibt es aber nicht! Dadurch geben Erzieherinnen Linkshändern eine Rechtshänderschere, die automatisieren ihr Schneiden falsch und kommen dann nicht mehr mit der eigentlich erforderlichen Linkshänderschere klar. Am Ende heißt es dann, dass sie gar keine speziellen Gegenstände für ihre Linkshändigkeit benötigen. Es wird also erst falsch gelehrt und damit dann begründet, dass man die richtigen Gebrauchsgegenstände erst gar nicht benötigt. Das finde ich schlimm.
Gibt es ganz typische Probleme bei Eltern im Umgang mit der Händigkeit?
Es gibt viele Eltern, die sehr vorsichtig und bewusst mit diesem Thema umgehen. Es kann auch dazu kommen, dass sie dadurch zu vorsichtig agieren, was für ein Kind auch von Nachteil sein kann. Es soll seine Händigkeit ja nicht als etwas Besonderes, sondern als etwas Selbstverständliches erfahren. Es gibt aber auch noch Erwachsene, die Kinder beim Grüßen zum Geben der „richtigen“ oder der „schönen“ Hand auffordern. Das ist leider immer noch ein Thema und gibt dem Kind Irritation. Ein ganz aktuelles Problem begegnet mir in letzter Zeit immer häufiger. Es scheint ein Trend zu sein, dass in vielen Einrichtungen, aber auch im privaten oder therapeutischen Bereich Kletterwände zum Einsatz kommen. Hier muss man beim Anbringen der Griff- und Trittstücke unbedingt auf den Weg achten, den sich Kinder bahnen sollen. Wenn gerade der Anfang nur für Kinder mit Dominanz in rechter Hand und rechtem Fuß ausgelegt ist, können durchaus auch sportliche Linkshänder Probleme bekommen. So gibt es immer wieder Dinge, die Kinder irritieren können.
Gibt es eigentlich auch typische Probleme im Umgang mit Rechtshändern?
Ich habe jetzt auch eine Schreibtischauflage für Rechtshänder entwickelt. Es schadet auch dem kleinen Rechtshänder nicht, wenn er weiß, dass die linke Hand aufs Papier und nicht unter den Tisch kommt, dass er das Blatt ein bisschen schräg legen kann und eine Vorstellung der richtigen Stifthaltung bekommt. Die Förderung der richtigen Schreibhaltung beginnt auch bei Rechtshändern weit vor der Einschulung. Oft kommen Kinder mit unmöglichen Stifthaltungen in die Schule. Hin und wieder kommt es auch vor, dass eigentlich rechtshändig dominierte Kinder auf links umgeschult werden bzw. sich selbst umschulen. Deshalb muss dieses Thema allgemein an Bedeutung gewinnen, gerade im Kindergarten. Ansonsten sind aber die Rechtshänder die Norm, an der alles orientiert wird.
Verfügen Sie selbst über Dominanz im Gebrauch der linken Hand?
Ja. Deshalb habe ich mir auch eine gewisse Zähigkeit beim Umgang mit der Händigkeit erhalten. Ich wurde mit viel Unwissen und Ablehnung konfrontiert – und auch auf die rechte Hand umgeschult. Ich schreibe heute noch mit rechts, obwohl ich auch mit links schreiben kann. Ich habe früher an der Universität sehr viel schreiben müssen, damals gab es noch keinen Computer. Noch heute schreibe ich viel mit der Hand, das geht besser in den Kopf. Da bahnen sich die Wege anders – und eine Rückschulung erfordert wirklich viel Zeit, da sich auch im Gehirn einiges ändert. Es kann in einer Rückschulung durchaus passieren, dass man ein halbes Jahr beruflich ausfällt und manchmal tiefe Einschnitte hinnehmen muss. Das ist für das Gehirn eine erschöpfende Sache. Da darf man nicht tief in einem tagtäglichen Engagement stecken, wie das in meinem Leben der Fall ist.
Danke für das Interview
www.linkshaender-beratung.de