© DKHW/Lueders
Kinder wollen mehr mitbestimmen
Einer der wichtigsten Vorkämpfer für Kinderrechte in Deutschland ist das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW). Wir sprachen mit Geschäftsführer Holger Hofmann über die Umsetzung von Kinderrechten in der Politik und in der Familie. Hofmann, selbst Vater, erklärt, warum die Interessen der Kinder bei einem Straßenbau ebenso berücksichtigt werden sollten, wie in der Schule oder zu Hause.
Im Vergleich zu Ländern in Afrika oder Südostasien, geht es Kindern in Deutschland vergleichsweise gut – warum setzt sich das Deutsche Kinderhilfswerk dennoch so vehement für die Rechte von Kindern in Deutschland ein?
Kinderrechte gelten weltweit, auch in Deutschland. Das DKHW wurde ursprünglich von Unternehmern gegründet, die zum Ziel hatten die Spielplatzsituation zu verbessern. Noch heute gilt: Das Recht auf Spiel ist ein Kinderrecht, dass uns vor Herausforderungen stellt. Es gibt nur wenige Länder, wo die Kinder unter so einer starken Pädagogisierung und Verhäuslichung aufwachsen wie hier. Dadurch rückt das freie, selbst organisierte Spiel immer mehr in den Hintergrund. Aber Kinder brauchen Freiräume zum Spielen, um sich zu entwickeln. Laut unserer Umfrage zum Weltkindertag sind Kinder heute im Schnitt weit mehr als 40 Stunden pro Woche fremdbestimmt eingetaktet – durch Kita, Schule, Hobbys. Wir Erwachsenen würden uns diese Fremdbestimmung nicht so gefallen lassen, wie wir es von unseren Kindern erwarten. Die Eltern meinen es gut. Dabei ist einfach nur rumsitzen gar nicht so negativ, wie Erwachsene oft glauben. Im Gegenteil: Kinder brauchen diese freie Zeit zur Erholung, um kreativ zu werden, um ihren Träumen nachzugehen. Das ist Entwicklungszeit für Kinder. In dieser Zeit entstehen eigene Ideen, eigene Neigungen.
Was hat das DKHW in den letzten 25 Jahren – seit Unterzeichnung der UN-Kinderrechtskonvention – für Kinder in Deutschland erreicht?
Ein wichtiger Punkt ist sicher die Spielplatzgestaltung: In den 1970er Jahren galt ja noch die heilige Dreifaltigkeit aus Schaukel, Wippe und Rutsche. Heute gibt es eine große Vielfalt an Spielplätzen, Themenspielplätze genauso wie Bewegungsspielplätze. Ein weiterer Baustein unserer Arbeit ist die Förderung von Projekten: Jährlich unterstützen wir damit etwa 400 Vereine und Initiativen, dazu gehören selbstorganisierte Jugendclubs ebenso wie Ferienfahrten für bedürftige Kinder. Auf politischer Ebene haben wir erreicht, dass Kinderlärm im Immissionsschutzgesetz neu bewertet wurde. Kinder werden nun nicht länger als Maschinen betrachtet, sondern Kinderlärm gilt heute als natürlicher Lärm. Schlussendlich wir sind mit unserer Forderung „Kinderrechte ins Grundgesetz“ ein ganzes Stück voran gekommen.
Inwiefern? Sie fordern bereits seit 2007 gemeinsam mit weiteren Verbänden die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz. Haben Sie berechtigte Hoffnung, dass Sie die Umsetzung in der nächsten Legislaturperiode erleben werden?
Die Gesellschaft hat sich entwickelt, das Kind wird heute als eigenständiges Wesen mit eigenen Rechten angesehen und das sollte sich auch im Grundgesetz wiederfinden. Tatsächlich gibt es einen einstimmigen Beschluss der Justizministerkonferenz dazu und diese Forderung taucht mittlerweile in den Parteiprogrammen fast aller großen Parteien auf. Wenn nach der anstehenden Bundestagswahl der Gesetzentwurf kommt, sollte die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit kein Problem sein. Skeptisch bin ich allerdings noch, was den Inhalt des Gesetzes angeht. Es reicht nicht, dass da steht: Der Staat kümmert sich um die Kinder. Es muss deutlich werden, dass Kinder eigenständige Ansprüche haben.
Gegner dieser Initiative argumentieren, dass die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz nicht nötig sei, da die Grund- und Menschenrechte auch für Kinder gelten. Sie befürchten, dass der Staat sich so mehr Eingriffsrechte in das elterliche Erziehungsrecht verschaffen möchte. Was entgegnen Sie diesen Kritikern?
Es geht nicht darum, dem Staat mehr Rechte zu verschaffen, sondern den Kindern. Ich glaube, jedes Elternteil, welches das Beste für sein Kind will, ist froh, wenn dieses Kind auch eigenständige Rechte hat. Tatsächlich hat der Staat bereits ausreichend Rechte, die u.a. im Kinderschutzgesetz geregelt sind, einzig bei Pflegekindern bestehen noch gewisse Unklarheiten. Derzeit gilt hier noch: Elternrecht bricht Kindesrecht. Im Zweifelsfall wird zugunsten der leiblichen Eltern entschieden und nicht für das Kindeswohl. Dort wo die Schutzrechte von Kindern bedroht sind, muss der Staat die Möglichkeit haben, zum Wohl des Kindes einzugreifen. Aber es geht ebenso um die Förderrechte wie Chancengerechtigkeit an der Schule. Es ist ja kein Geheimnis, dass in Deutschland die Bildungschancen sehr unterschiedlich sind.
Mit der Grundgesetz-Erweiterung wäre auch eine weitere Forderung der UN-Kinderrechtskonvention umgesetzt. Wo sehen Sie sonst noch Nachholbedarf?
Es gibt etwa 60 Kinderrechte in der UN-Konvention. Fast jedes davon berührt uns. Ich sehe in Deutschland beispielsweise noch Nachholbedarf beim Umweltschutz, bei der eben genannten Bildungsgerechtigkeit. Auch sonst werden die Interessen der Kinder noch nicht ausreichend berücksichtigt. Wenn irgend ein Beschluss gefasst wird, berücksichtigen wir den Umweltschutz, die Gleichstellung von Mann und Frau, die Rechte von Menschen mit Handicap. Aber bei einem geplanten Straßenbau wird nicht gefragt: Kommen die Kinder noch sicher zur Schule? Hier sind andere Länder schon weiter. Meist stehen die Interessen der jetzigen Wähler und der Wirtschaft im Vordergrund. Ein Beispiel: Die zunehmende Bebauung der Städte ist natürlich im Interesse der Wirtschaft bzw. der Not klammer Kommunen geschuldet. Aber ist sie auch im Interesse der Kinder? Ist es nachhaltig, wenn dadurch weitere Freiräume verloren gehen?
Wie hat die Flüchtlingskrise, mit der auch viele Kinder nach Deutschland gekommen sind, Ihre Arbeit in den vergangenen Jahren verändert?
Wir haben uns relativ schnell auf die neue Situation eingestellt und u.a. einen Förderfonds für Flüchtlingskinder eingerichtet. Unser Fokus liegt darauf, den Kindern ausreichend Spielmöglichkeiten zu bieten, sie für die Schule auszustatten und ihnen den Kontakt zu Gleichaltrigen zu ermöglichen. Wichtig ist, sie sozial zu integrieren. Darüber hinaus sind Abschiebungen und Familiennachzug schwierige Themen, die von der politischen Ebene natürlich anders gesehen werden als von uns. Ich kann die Skepsis gegen- über dem Familiennachzug auf politischer Ebene durchaus nachvollziehen. Aber wir nehmen die Sicht des Kindes ein: Es hat ein Recht darauf, mit seiner Familie zusammen zu leben. Bei allen Herausforderungen dürfen die Rechte der zu uns geflüchteten Kinder und Jugendlichen nicht unter die Räder kommen.
Was halten Sie von der jüngst wieder laut gewordenen Forderung nach einem Wahlrecht ab Geburt?
Ich persönlich habe eine hohe Sympathie dafür. Aber als Verband haben wir eine pragmatischere Sichtweise darauf. Ein Wahlrecht ab Geburt, bei dem die Eltern das Stimmrecht ihrer Kinder bis zu einem gewissen Alter ausüben, halten wir für nicht vereinbar mit dem Wahlrecht: Dieses ist weder veräu- ßerlich noch abtretbar. Wir halten daher eine Absenkung des Wahlalters auf 14 Jahre für realistisch und durchsetzbar. Ich bin optimistisch, dass eine Absenkung des Wahlalters auf Landesebene bald kommen wird, auf Bundesebene wird es sicher noch eine Zeit brauchen. Die Interessen der nachwachsenden Generation würden so mehr Gehör finden. Die Frage ist doch auch: Wie kann sich die Jugend am besten entwickeln, dass sie Verantwortung übernimmt, dass aus ihnen aufrechte Demokraten werden? Wenn wir die Stimme der Kinder hören und wenn sie früh lernen sich zu beteiligen, dann schafft das am Ende mündige Bürger, was ja im Interesse aller sein sollte.
Wollen die Kinder sich überhaupt beteiligen?
Das Bild vom politisch uninteressierten Jugendlichen stimmt so nicht. Studien zeigen, dass sich Kinder und Jugendliche für Politik interessieren, dass sie eigene Positionen entwickeln. Viele von ihnen engagieren sich. Kinder sollten überall dort wo es möglich ist, ihre Meinung selbst vertreten, beispielsweise über Jugendparlamente. Wir haben in Deutschland bereits eine breite Kultur an Kinder- und Jugendbeteiligung auf kommunaler Ebene. Auch die Schule könnte stärker als bisher ein Lebensort sein, der von den Kindern mitgestaltet wird. Kinder haben klare Vorstellungen davon, was sie interessiert. Aber ihre Stimme dringt leider nicht immer weit genug bis zu den politischen Entscheidungsträgern.
Was könnte ein Kinderbeauftragter auf Bundesebene, wie von Ihnen gefordert, dazu beitragen? Derzeit werden die Interessen von Kindern auf Bundesebene vor allem durch die Kinderkommission des Bundestages wahrgenommen – reicht das nicht aus?
Am Ende des Tages ist es wichtig, dass es starke Stimmen für Kinder gibt. Das sind erster Linie die Eltern, aber auch die Zivilgesellschaft und Verbände wie das DKHW. So eine starke Stimme braucht es auch auf Ebene der Regierung. Die Kinderkommission ist parteigebunden, wir meinen: Es braucht einen unabhängigen Kinderbeauftragten, der frei von Parteiräson im Interesse der Kinder handeln kann. Das Beispiel Schweden zeigt, dass das gut funktionieren kann.
Wie sprachen sie Eltern an – was können, was sollten sie für die Umsetzung von Kinderrechten tun?
Familie ist in der Tat ein wichtiger Ort für die Vermittlung von Kinderrechten. Wenn man Kinder fragt, wo sie gern mehr mitbestimmen würden, sagen sie: zu Hause. Das Elternhaus ist zugleich der Ort, wo sie bereits viel mitentscheiden dürfen. Vielleicht ist Eltern auch gar nicht immer bewusst, was für eine wichtige Rolle sie haben.
Wie können sie dieser Rolle gerecht werden?
Ich glaube, die meisten Eltern haben eine sehr hohe Sensibilität dafür, was den respektvollen Umgang miteinander angeht und was eine eigenständige Persönlichkeit benötigt. Allerdings sollten Eltern auch den öffentlichen Raum nicht aus dem Blick verlieren. Vor allem jüngere Kinder brauchen dort Begleitung. Das fängt schon mit Kleinigkeiten an: Also die Kinder zu Fuß von der Kita oder Schule abholen und nicht mit dem Auto. Kinder lernen nicht durch die Windschutzscheibe sich zu orientieren. Gleichwohl braucht es im Alltag vor allem Gelassenheit. Auch ich muss mich zu Hause immer wieder ermahnen, nicht zu früh mit meiner Weisheit zu kommen, sondern meinem Kind sein Recht auf eine eigene Meinung und Meinungsbildung zuzugestehen.
Manchmal mangelt es den Eltern nicht nur an Gelassenheit, sondern auch ein Zeit...
Ja, auch das ist eine große Herausforderung unserer heutigen Gesellschaft: Ich weiß wohl, dass viele Eltern zeitlich stark eingespannt sind. Dennoch brauchen Kinder für ihre Entwicklung ausreichend Zeit mit ihren Eltern. Dabei ist gar nicht so sehr die Quantität wichtig, sondern vor allem die Qualität. Kinder lieben etwa Rituale. Das kann die Gute-Nacht-Geschichte für die Dreijährige sein oder das Abendgespräch mit dem Zehnjährigen. Wir sollten uns täglich daran erinnern, wie wichtig solche kleinen Zeitinseln mit den Eltern für die Kinder sind.