Sprechzimmer statt Klassenzimmer

Datum: Donnerstag, 29. März 2018 15:33


Wie Eltern, Lehrer und Freunde chronisch kranken Kindern am besten helfen können

Chronische Erkrankungen bei Kindern sind nicht unbedingt ein Thema, mit dem sich „gesunde Familien“ gern beschäftigen. Dabei betrifft es auch jene Familien, deren Kinder mehr oder weniger gesund sind. Denn erstens sind chronische Erkrankungen heute so häufig, dass in jeder Kitagruppe oder Schulklasse rein rechnerisch mindestens ein Kind mit einer chronischen Erkrankung sitzt. Und zweitens sind die wenigsten chronischen Erkrankungen angeboren. Egal ob Diabetes Typ I, Rheuma oder Neurodermitis – die meisten Leiden treten erst im Laufe der ersten Lebensjahre auf bzw. werden dann erst diagnostiziert. Das heißt: Früher oder später hat jede Familie direkt oder indirekt Berührungspunkte mit chronischen Erkrankungen im Kindesalter.

Zahlen & Statistiken

Das belegen auch die Zahlen: Demnach haben etwa 16 Prozent der Kinder und Jugendlichen (KiGSS-Studie 1) nach Angaben der Eltern ein chronisches Gesundheitsproblem, wobei Kinder mit Asthma und Allergien die mit Abstand größte Krankheitsgruppe darstellen. Wichtigste Datenbasis für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist die Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) des Robert Koch-Instituts. Sie erhebt seit 2003 regelmäßig, wie es um die körperliche und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen steht.

Chronische Erkrankungen bei Kindern

Experten gehen davon aus, dass die Zahl der chronisch kranken Kinder und Jugendlichen in den vergangenen Jahren angestiegen ist. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Einerseits überleben dank moderner Medizin immer mehr Frühgeborene und Kinder, die früh an schweren Erkrankungen wie Krebs oder Mukoviszidose erkranken. Was früher lebensbedrohlich war, wird heute zu einem chronischen Leiden. Eine weitere Ursache für den Anstieg chronischer Erkrankungen sehen Ärzte in ungesunder Lebensweise: Starkes Übergewicht führe beispielsweise dazu, dass heute schon Kinder an Diabetes Typ II oder Bluthochdruck leiden, eigentlich typische Altersleiden. Und auch der Anstieg an Kindern mit AD(H)S-Symptomatik sei u.a. darauf zurückzuführen, dass Kinder immer häufiger und länger vor dem Bildschirm statt draußen ihre Zeit verbringen.

Was heißt chronisch krank?

Krank ist jedes Kind mal, je jünger desto häufiger die Zahl der Infekte. Was aber unterscheidet eine akute Erkrankung von einer chronischen Krankheit? Von einer chronischen Erkrankung spricht man normalerweise dann, wenn diese ein Leben lang oder zumindest über mehrere Jahre vorliegt, in der Regel nicht heilbar ist und wenn deswegen eine regelmäßige, ärztliche Betreuung erforderlich ist. Oft geht eine chronische Erkrankung einher mit regelmäßiger Medikamenten-Einnahme oder medizinischen Hilfsmitteln. Die meisten dieser Krankheiten sind heute so gut therapierbar, dass sie nicht zum Tode führen. Je nach Verlauf und Art der Erkrankung schränkt sie die Betroffenen im Alltag mehr oder weniger stark ein. Nur die wenigsten sind so stark eingeschränkt, dass sie Anspruch auf einen Behindertengrad oder eine Pflegestufe haben. Glücklicherweise fühlen sich die meisten chronisch kranken Kinder in ihrem Alltag relativ wenig eingeschränkt und können normal in die Kita gehen und eine Regelschule besuchen. Bei der KiGGS-Befragung gaben nur 20 Prozent der Eltern mit einem chronisch kranken Kind an, dass die Krankheit stark einschränkt und das Kind nicht die Dinge tun kann, die Gleichaltrige tun. Die meisten chronischen Krankheiten sind nicht ansteckend, das sollten sich vor allem Freunde und Mitschüler von Betroffenen immer wieder klar machen. Für die meisten chronischen Krankheiten sind die Ursachen unklar. Einige, wie Allergien, können von den Eltern vererbt werden. Falsches, vermeintlich ungesundes Verhalten löst diese „klassischen“ chronischen Krankheiten nicht aus, Eltern brauchen sich also keine Vorwürfe machen.

Welche chronischen Erkrankungen gibt es?

Es gibt sowohl körperliche bzw. somatische, chronische Erkrankungen als auch psychische, in der Tabelle (siehe unten) ist eine Übersicht der am weitesten verbreiteten Krankheiten samt Anteil betroffener Kinder (soweit in der KiGGS-Studie verfügbar) aufgeführt. Dazu kommen noch die sogenannten „seltenen Erkrankungen“. Diese kommen in der Bevölkerung so selten vor, dass sie oft erst sehr spät, manchmal sogar überhaupt nicht diagnostiziert werden. Therapien sind mangels Forschung nicht einfach. Eine Erkrankung gilt dann als selten, wenn von 10.000 Menschen höchstens 5 betroffen sind.

Somatische Erkrankungen Psychische Erkrankungen
Allergien (9% Heuschnupfen) Anorexia nervosa
Herzfehler (2%) AD(H)S (5%)
Aphasie Borderline-Persönlichkeitsstörung
Asthma bronchiale (4,1%) Bulimia nervosa
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen (0,3%) Depression
Diabetes (0,2%) Schizophrene Psychosen
Epilepsie (1,2%) Schulangst und Schulphobie
Leukämie Tourette-Syndrom
Migräne (5%) Zwangsstörungen
Mukoviszidose  
Neurodermitis (6%)  
Rheuma (0,1%)  
Zerebralparesen  


Was bedeutet eine chronische Erkrankung für die Familie?

Bis eine chronische Erkrankung diagnostiziert wird, kann einige Zeit vergehen: Nicht immer sind die Symptome eindeutig, Kleinkinder können ihre Beschwerden noch nicht in Worte fassen und die meisten Eltern gehen ja davon aus, ein gesundes Kind zu haben. Bei manch einem erfolgt die Diagnose bereits kurz nach der Geburt, bei anderen bricht die Krankheit erst im Teenageralter aus. Fast immer geht die Diagnose mit einem Schock einher, die Eltern fallen erst einmal in ein seelisches Loch. Andererseits kann die Diagnose auch Erleichterung bringen, denn jetzt wissen die Familien, woran sie sind, wie die Beschwerden der Kinder einzuordnen und zu behandeln sind.

Ist der erste Schock überwunden, gilt es, die Krankheit zu akzeptieren und mit ihr zu leben, denn heilbar ist sie nicht. Allerdings verlaufen einige Krankheiten schubweise oder weniger schwer, so dass man mit ein wenig Glück viele Jahre Ruhe hat und von der Krankheit nicht viel bemerkt.

Gleichwohl bedeutet die chronische Erkrankung eines Kindes eine große Umstellung. Daher ist es wichtig, die Erkrankung innerhalb der Familie zu besprechen. Das erkrankte Kind selbst sollte altersgerecht über seine Krankheit aufgeklärt werden. Hier kann der behandelnde Arzt mit Informationen weiterhelfen, für viele Krankheiten gibt es extra für Kinder aufbereitete Broschüren oder Internetseiten.

Auch die Geschwister sollten Bescheid wissen und die Erkrankung erklärt bekommen. Das kann das Verständnis erleichtern. Denn für sie ist es ebenfalls eine große Veränderung, wenn das kranke Geschwisterkind plötzlich ungewollt im Mittelpunkt steht und viel Zeit und Aufmerksamkeit der Eltern braucht. Kinder mit behinderten, schwer oder chronisch kranken Geschwistern werden auch als Schattenkinder bezeichnet. Die Zeit, die für Arztbesuche und Therapien verloren geht, fehlt der Familie für gemeinsame Ausflüge oder einfach für das gemeinsame Spielen mit dem Bruder bzw. der Schwester. Vielleicht muss das gesunde Geschwisterkind auch schneller selbständig werden, weil es mehr Aufgaben im Haushalt übernehmen muss, um die sich vor der Erkrankung die Eltern gekümmert haben. Je nach Schwere der Erkrankung und Charakter des Kindes, kann es Gefühle wie Angst, Neid, Eifersucht und Aggression zeigen. Eltern sollten diese Gefühle wahrnehmen, zulassen, dafür Verständnis zeigen und mit dem Kind darüber reden. Wo möglich, sollten sie dem gesunden Geschwisterkind exklusive Mama- und/oder Papa-Zeit ermöglichen. Alle Fragen zur Erkrankung sollten sie altersgerecht und ehrlich beantworten.

Diese Tipps trotz aller Schwierigkeiten im Familienalltag zu beherzigen, ist wichtig. Denn chronisch kranke Kinder und ihre Geschwister sind statistisch häufiger von psychischen Problemen wie Angststörungen und Depressionen betroffen. Das wird noch verstärkt durch Probleme in der Partnerschaft, die durch die neue Belastung entstehen können. Vielleicht muss ein Elternteil beruflich kürzertreten, weil die Erkrankung so viel Zeit Anspruch nimmt, vielleicht bleibt weniger Zeit für Freunde und Hobbys. Finanzielle Belastungen können ebenfalls hinzukommen, auch die oft ungewisse Perspektive kann belastend sein: Wie verläuft die Krankheit? Wie geht es unserem Kind in fünf oder zehn Jahren? Ein Stück weit geht mit einer chronischen Erkrankung Unbeschwertheit verloren. In einer Studie des brandenburgischen Gesundheitsministeriums zur Situation chronisch kranker Kinder und Jugendlicher im Land Brandenburg von 2013 heißt es:

„Die psychischen Belastungen durch die Erkrankung des Kindes und die Sorgen um die Entwicklungs- und Zukunftsperspektiven des Kindes führten bei vielen Ehepartnern zu einer Entfremdung und in der Folge zu einer instabilen Familiensituation. Weiterhin berichteten die Eltern, dass die Beziehungen zu den gesunden Geschwisterkindern mitunter stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. Betroffene Eltern wünschen sich daher eine professionelle, familienorientierte, psychosoziale Begleitung, um die entstehenden Herausforderungen besser bewältigen zu können. Familien mit einem chronisch kranken Kind leiden unter der Tatsache, dass sich Freunde, Bekannte und Verwandte oft zurückziehen.“

Umso hilfreicher kann es sein, das nahe Umfeld in die Erkrankung mit einzubeziehen, dann ist die Familie nicht so allein mit der Diagnose und hat auch mal jemanden zum Reden. Wen man darüber hinaus noch über die Erkrankung informieren sollte, hängt u.a. von der Erkrankung ab, vom Wunsch des Kindes und der Eltern. Prinzipiell empfehlen viele Experten, die mit chronisch kranken Kindern zu tun haben, möglichst offen mit der Erkrankung umzugehen. Die Vorteile einer solchen Offenheit: Freunde, Mitschüler, Lehrer und Erzieher wissen, woran sie sind, sie können im Notfall richtig reagieren, sie wissen, warum das Kind auch mal schlechte Tage oder häufige Fehlzeiten hat. Bei den Mitmenschen wächst das Verständnis für die besondere Situation. Nun gibt es natürlich auch Kinder, die partout nicht wollen, dass ihre Erkrankung bekannt wird, die weiter normal behandelt werden wollen. Dann sollten Eltern diesen Wunsch respektieren, soweit das medizinisch vertretbar ist. Eltern, deren Kind an einer psychischen Erkrankung leidet, gehen damit seltener an die Öffentlichkeit, zu groß die eigene Scham und zu groß das Unverständnis und die Vorurteile der anderen.

Auch die finanziellen Belastungen sind nicht zu unterschätzen: Kosten entstehen u.a. durch Fahrten zu den Ärzten/ Kliniken, durch Hilfsmittel, die nicht von den Krankenkassen erstattet werden und durch die Fremdbetreuung von Geschwisterkindern. Schränkt ein Elternteil seine Arbeitszeit ein, kommen noch Einkommenseinbußen hinzu.