Für Kinder ist Alzheimer so verrückt wie eine Pippi-Langstrumpf-Geschichte
ARD-Fernsehmoderatorin Okka Gundel engagiert sich seit 2012 als Botschafterin für die Alzheimer Forschung Initiative, sie hält Vorträge und schreibt einen Blog. Ihre Oma starb im Alter von 88 Jahren an Alzheimer. Im Gespräch erinnert sie sich an besondere Momente mit ihr und erzählt, wie die Krankheit für ihre Kinder ein Stück weit Normalität geworden ist.
Sie sind seit 2012 AFI-Botschafterin. Wie kamen Sie zu diesem Ehrenamt?
Ich habe drei Kinder, einen tollen Job und führe ein schönes Leben. Daher wollte ich gern auch anderen etwas Gutes tun. Von meinen Kollegen engagieren sich viele Menschen für Kinder. Das finde ich sehr wichtig, dennoch dachte ich mir: Mensch, wer macht eigentlich etwas für die Alten, die in ihrem langen Leben so viel geleistet haben und im Alter auf Unterstützung angewiesen sind? Und so bin ich mit meiner damaligen Agentin wirklich auf die Suche gegangenen nach einem passenden Ehrenamt. Da meine Oma an Alzheimer gestorben ist und mich diese Krankheit ab diesem Zeitpunkt sehr beschäftigt hat, habe ich mich an die Alzheimer Forschung Initiative gewendet und meine Unterstützung angeboten. Die waren total überrascht. Es hat sofort ‚gefunkt’ und so kamen wir zusammen. Ich weiß natürlich, dass Fotos mit alten Menschen nicht die gleichen Reaktionen hervorrufen wie Bilder mit Kindern. Umso wichtiger fand ich es, hier ganz bewusst einen Kontrapunkt zu setzen und den Fokus ein wenig zu justieren.
Warum? Was gibt Ihnen diese Tätigkeit?
Mich berührt dieses Thema, es trifft mich sprichwörtlich ins Herz. Das Gefühl, die betroffenen Menschen und vor allem auch ihre betroffenen Angehörigen in einem gewissen Rahmen zu unterstützen und für diese Menschen ein Lautsprecher zu sein, tut gut. Und es ist auch ein krasser Gegensatz zu meiner Tätigkeit als Moderatorin im Sport, wo ich mit gesunden, sehr fitten Menschen zu tun habe. Insofern war es für mich durchaus bedrückend, als ich bei meiner ersten Veranstaltung für die AFI vor einem „ergrauten Publikum“ sprach, denen die Angst vor der Krankheit teilweise ins Gesicht geschrieben stand. Zugleich hat mich ihr Humor begeistert, mit dem sie der Krankheit begegnet sind.
Wie alt waren Sie, als Ihre Oma an Alzheimer erkrankte und woran haben Sie das zuerst gemerkt?
Das lässt sich nicht genau datieren, weil es schleichend passierte. Eine gewisse Vergesslichkeit im Alter ist ja normal. Ich wohnte zu dem Zeitpunkt, als meine Oma erkrankte, schon nicht mehr zu Hause. Dadurch habe ich es zunächst von meiner Mutter erfahren. Bei einem meiner Besuche ist mir dann selbst die Schwere der Erkrankung deutlich geworden. Ich war mit meiner Oma in einem Restaurant essen. Zwischendurch musste ich zur Toilette. Als ich zurückkam, sagte meine Oma zu mir: „Tut mir leid, da ist besetzt, ich bin mit meiner Enkelin hier.“ Das war schon erschreckend. Ein anderes Mal hat sie, die Musiklehrerin war und für die Musik so viel bedeutete, ihre selbst aufgenommene CD nicht mehr erkannt.
Gab es auch schöne Momente, die Ihnen in Erinnerung geblieben sind?
Meiner Oma tat wie vielen älteren Menschen, die lange alleine leben, körperliche Nähe gut und davon gibt es im Pflegeheim aus bekannten Gründen natürlich nicht besonders viel. Daher habe ich ihr bei meinen Besuchen gerne die Hand gehalten, sie gestreichelt oder umarmt. Ich konnte spüren wie gut ihr diese kleinen Berührungen taten. In Erinnerung geblieben ist mir auch unsere letzte Begegnung. Das war kurz vor Ostern, ich hatte ihr einen Schokohasen mitgebracht. Leider hatte ich an dem Tag wenig Zeit und habe zu ihr gesagt: „Wenn ich das nächste Mal komme, nehme ich mir mehr Zeit und dann fahre ich dich im Rollstuhl spazieren.“ Sie erwiderte: „Ja, das machen wir.“ Darauf nahm sie den Hasen, streichelte ihn und sagte zu ihm: „Und du kommst auch mit.“ So war meine Oma, sie hat immer an alle gedacht.
Für viele Menschen ist es sehr schwer, wenn Angehörige an Alzheimer erkranken. Wie ging es Ihnen und Ihrer Familie damit?
Ich hatte ja als Studentin mein eigenes Leben weg von zu Hause. Das war eine Zeit des Aufbruchs. Trotz der engen Beziehung zu meiner Oma, ging mir das ganze nicht so nah, wie meiner Mutter. Sie hat sich lange gegen die Krankheit gewehrt, wollte das nicht wahrhaben. Immer wieder hat sie zu meiner Oma gesagt: „Mensch Mama, das musst du doch noch wissen.“ Erst als meine Mutter die Krankheit akzeptieren konnte und sich klar gemacht hat, dass Oma nichts dafür kann, und sie nicht immer wieder korrigiert hat, wurde es für sie und auch für meine Oma leichter. Das Schwere ist, dass der Mensch trotz Alzheimer noch lange aussieht wie immer. Die Wesensveränderung geht nicht einher mit einer Veränderung des Äußeren und das ist schwer zu begreifen und zu akzeptieren.
Als Ihre Oma erkrankte, studierten Sie bereits. Inwiefern blieb da dennoch Raum für gemeinsame Zeit mit Ihrer Oma?
Ich habe sie immer im Heim besucht, wenn ich meine Eltern zu Hause in Ostfriesland besucht habe. Ich habe auf dem Hinweg und dann noch mal auf Rückweg einen Halt bei ihr gemacht. Ein einziges Mal habe ich es nicht geschafft, auf dem Rückweg bei ihr zu halten – das war das oben beschriebene Osterfest. Kurz danach ist sie gestorben, das bereue ich bis heute.
Die Entscheidung, Ihre Oma ins Pflegeheim zu geben, war für Ihre Familie sicher nicht einfach.
Nein, diese Entscheidung war nicht nur nicht einfach, sondern sehr belastend. Niemand wünscht sich ein Leben im Heim. Das ist eine trostlose Perspektive, denn es ist ja sozusagen die Endstation. Als meine Oma nicht länger allein zu Hause leben konnte, war meine Mutter berufstätig, insofern war die Pflege zu Hause ohnehin keine Option. Meine Mutter hat alles für meine Oma getan, aber sie hat auch immer gesagt: Pflegen kann ich sie nicht. Dafür habe ich größtes Verständnis. Dennoch hatten wir ein schlechtes Gewissen, die Entscheidung für ein Pflegeheim war eine große Belastung für die ganze Familie. Trotzdem war sie richtig, denn auch das eigene Leben soll und muss ja weitergehen. Wir haben am Ende ein gutes Heim gefunden und hatten durchaus den Eindruck, dass meine Oma dort zufrieden war.
Viele Angehörige hadern ebenfalls mit der Entscheidung: Muss Opa ins Pflegeheim oder schaffen wir es noch zu Hause? Was raten Sie in solchen Fällen?
Wer es sich zutraut und gerne möchte, der sollte seine Angehörigen unbedingt so lange wie möglich zu Hause pflegen, dann kann das sicher eine schöne Erfahrung sein. Sobald man aber Zweifel hat oder an seine Grenzen stößt, ist es legitim und wichtig, sich externe Hilfe zu holen. Da ist ein gewisser Egoismus legitim, schließlich muss das eigene Leben auch weiter gehen. Vielleicht zum Vergleich eine wenn auch weniger schwere und bedeutsame Situation aus meiner eigenen Erfahrung als Mutter: Nachdem es zwischen mir und meiner ältesten Tochter immer wieder Konflikte um das Üben für Mathe gab und es regelmäßig in einem riesigen Streit endete, der natürlich auch nicht spurlos an den anderen Familienmitgliedern vorbeiging, haben wir eine Nachhilfe organisiert. Das läuft jetzt durch die Hilfe von außen viel entspannter.
Für Kinder ist es oft schwer zu verstehen, wenn Oma oder Opa aufgrund einer Demenzerkrankung plötzlich anders wird. Wie können Eltern ihre Kinder im Umgang mit erkrankten Großeltern unterstützen?
Wichtig ist ein offener, ehrlicher Umgang mit der Krankheit. Man sollte den Kindern erklären, was mit Oma oder Opa los ist und nichts verheimlichen. Ich finde es hilfreich, einen Vergleich zu nutzen: So wie ein Kind täglich neue Sachen lernt, also z.B. laufen, sprechen, später rechnen und lesen, so verlernen Demenzkranke mit der Zeit immer mehr Fähigkeiten. Sie werden sozusagen wieder zum Kleinkind. Man sollte die Kinder auch für die Krankheit sensibilisieren. Ihnen so weit möglich klar machen, dass Opa krank ist und nichts für sein Verhalten kann. Dass sie ihn nicht belehren oder korrigieren sollten. Dass sie Bilder für ihn malen oder ihm Geschichten erzählen können. Sie müssen aber auch wissen, dass an Reaktionen u.U. nicht mehr viel zurückkommt.
Wie reagieren Ihre Kinder eigentlich auf Ihr Ehrenamt?
Alzheimer ist in meiner Familie durch die Botschafter-Tätigkeit natürlich sehr präsent. Meine Kinder zeigen großes Interesse daran. Für sie ist das ein bisschen wie eine spannende Geschichte aus dem Buch. Wenn jemand sein Portemonnaie in den Toaster legt, dann ist das für sie ähnlich verrückt wie eine Episode aus Pippi Langstrumpf, die eine Nagelsuppe isst oder ihr Pferd in die Höhe stemmt. Durch die ständige Präsenz ist Alzheimer für meine Kinder auch ein Stück weit Normalität geworden. Und das ist bei allem Schrecken auch wichtig. Ich versuche meinen Kindern trotzdem eine positive Sicht zu vermitteln: Ja, der Mensch hat jetzt Alzheimer, eine ganz doofe Krankheit, aber er ist immerhin ganz schön alt geworden und hatte bis jetzt ein langes und hoffentlich glückliches Leben.
Haben Sie Angst davor, dass Ihre Eltern oder Sie selbst später mal an dieser Krankheit erkranken?
Ja durchaus. Für mich ist Alzheimer bis heute ein Schreckgespenst, das ich oft im Hinterkopf habe. Ich beobachte meine Eltern sehr genau, reagiere sensibel auf jede Vergesslichkeit und bin immer wieder froh wenn ich als Laie mit ein bisschen Fachwissen ausschließen kann, dass es Alzheimer ist!
Die AFI engagiert sich für die Erforschung der Krankheit, für bessere Therapien. Den großen Durchbruch gab es bisher nicht.
Da liegt in der Tat noch viel Arbeit vor der Wissenschaft. Die Forschung macht sehr viel, genau das unterstützen wir auch. Nichtsdestotrotz ist Alzheimer noch immer eine unheilbare Krankheit, die zum Tod führt. Immerhin gibt es kleine Fortschritte. Bei einer frühen Diagnose können Medikamente den Krankheitsverlauf verzögern. Zur Zeit wird ein Bluttest entwickelt, der eine möglichst frühe Diagnose ermöglichen soll. Auch bildgebende Verfahren wie das MRT können Alzheimer feststellen bevor die Erkrankung ihre Auswirkungen zeigt. Doch dadurch stellen sich neue Fragen: Wollen wir wirklich wissen, dass wir vielleicht einmal an Alzheimer erkranken werden? Wie gehen wir mit dieser Angst um?
Mit Filmen wie „Honig im Kopf“ oder dem „Outing“ prominenter Alzheimer-Patienten hat die Krankheit in den vergangenen Jahren mehr öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Nehmen Sie das auch so wahr?
Ja. Als ich meinen Freunden vor sechs Jahren von meinem Engagement erzählt habe, da habe ich oft noch ungläubiges Kopfschütteln geerntet. Mittlerweile hat sich das geändert. Immer öfter kommen Menschen auf mich zu und bitten mich um Rat. Das hat natürlich auch mit den prominenten Outings zu tun. Vor allem aber gewinnt Alzheimer an Relevanz, weil unsere Gesellschaft immer älter wird. Dieses Thema wird uns regelrecht überrollen. Schon heute kennt fast jeder jemanden mit dieser Erkrankung. Das Thema wird nicht mehr belächelt, sondern sehr ernst genommen.
Vielen Dank für das Gespräch.