Werft die Hausschuhe weg!
Drei von vier Kinderfüßen sind durch zu kurze Schuhe verformt. Warum die Schuhindustrie das bewusst hinnimmt und was Eltern für gesunde Kinderfüße tun können, verrät Dr. Wieland Kinz im Interview. Er leitet das international tätige und wirtschaftlich unabhängige Forschungsteam „Kinderfüße – Kinderschuhe“ mit Sitz in Österreich.
Warum braucht es ein eigenes Forschungsprojekt für das Thema Kinderfüße?
Wir konnten durch unsere Untersuchungen 2003 erstmals nachweisen, dass zu kurze Kinderschuhe tatsächlich zu Fußschäden führen. Das hatte man bis dahin nur vermutet, nun ist es wissenschaftlich belegt. Erschreckend viele Kinder weisen eine Fehlstellung der großen Zehen von mindestens zehn Grad auf. Ursache dafür sind nachweislich zu kleine Schuhe. Im Grunde kann man sagen: Je kürzer die Schuhe, desto verbogener die Zehen.
Lässt sich denn eine solche Fehlstellung auch wieder rückgängig machen?
Wenn sich Eltern dieser Problematik bewusst sind und frühzeitig auf eine mögliche beginnende Fehlstellung der großen Zehe achten, dann lässt sich das noch korrigieren. Aber je länger die Zehen in zu kurzen Schuhen eingeengt werden, desto schwieriger wird es.
Und was können die langfristigen Folgen einer solchen Fehlstellung der großen Zehen sein?
Zum einen fängt das irgendwann an zu schmerzen. Und wenn ich Schmerzen habe, fange ich an anders zu laufen, so dass sich die Fehlstellung auf die Statik und den Bewegungsapparat auswirkt – mit Folgen für Knie, Hüfte und Wirbelsäule. Wir haben die langfristigen Folgen zu kurzer Schuhe bisher nicht untersucht. Aber wir gehen davon aus, dass man bei einer dauerhaften Fehlstellung der großen Zehe von mindestens zehn Grad früher oder später eine Operation des Großzehengrundgelenks braucht. Das zeigt auch ein Blick auf die Statistik: In den vergangenen Jahren ist die Zahl solcher Operationen kontinuierlich angestiegen.
Warum kaufen denn Eltern ihren Kindern überhaupt zu kurze Schuhe?
Die Schuld dafür liegt nicht bei den Eltern. Diese völlig unnötige Schädigung der Kinderfüße ist im Grunde einer Mogelpackung der Schuhindustrie geschuldet. Die Füße des Kindes werden im Schuhladen ausgemessen und die entsprechende Schuhgröße abgelesen. Dann probiert das Kind den Schuh an. Bei der Zehenprobe zieht es instinktiv die große Zehe zurück und fragen die Eltern, ob die Schuhe passen, antwortet das Kind gewohnheitsmäßig mit „Ja.“ Aber tatsächlich tragen sie die falsche Schuhgröße. Der Hauptgrund dafür ist die fehlende Norm für Schuhgrößen. Wir haben bei unseren Untersuchungen festgestellt, dass gut 90 Prozent aller Kinderschuhe kleiner sind als mit der Schuhgröße angegeben – im Schnitt um zwei Größen. Das ist so, als würden Sie 20 Liter Sprit tanken, aber nur 18 Liter landen wirklich im Tank. Eigentlich ist das ein Unding.
Warum wird eine solche Norm dann nicht eingeführt?
Das wäre die einfachste und die wünschenswerte Lösung. Aber ich habe Zweifel daran, dass sie auch kommt. Dafür ist die Schuhlobby zu mächtig. Für sie würde eine Norm eine zusätzliche Qualitätskontrolle, mehr Kosten und eventuell auch Verbraucherklagen verursachen.
Was können Eltern also stattdessen tun?
Wir empfehlen Eltern: Vergesst die Schuhgrößen und messt stattdessen die Innenlängen der Schuhe. Diese sollte mindestens 12 mm länger sein als der Kinderfuß. Wer Schuhe online kauft, sollte beim Anbieter unbedingt die Schuhinnenlänge erfragen. Das würde auch die Retourenquote von 80 Prozent bei Kinderschuhen deutlich reduzieren.
Sie sind mit Ihrem Forschungsteam in mehreren Ländern für Fuß- und Schuhmessungen unterwegs – ist das ein rein österreichisches Problem?
Nein, keineswegs. Wir waren in mehreren europäischen Ländern, in Japan und in den USA und wir sind überall auf die gleichen Probleme gestoßen: Die Kinder tragen überall zu kurze Schuhe und die tatsächliche Schuhgröße entspricht nur selten der angegebenen.
Sie haben sich mit Ihrem Forschungsteam auch Kindersocken angesehen – warum das?
Viele vergessen, dass auch Socken passen müssen. Durch ihren Schnitt vorn im Zehenbereich engen auch zu kurze Socken die große und die kleine Zehe ein. Wir konnten bei Messungen feststellen, dass Kinderfüße in Socken schmaler und kürzer sind als barfuß.
Also ist barfuß Laufen die einzige Garantie für gesunde Füße?
In der Tat haben wir in einer Studie gemeinsam mit der ETH Zürich festgestellt, dass Schuhe die Beweglichkeit der Füße um etwa 30 Prozent einschränken. Die Muskulatur wird weniger beansprucht und auch die Gelenke sind in der Bewegung eingeschränkt. Insofern sollten wir in Innenräumen am besten immer barfuß laufen. Den Eltern möchte ich am liebsten sagen: Werft die Hausschuhe weg!
Aber viele Kindergärten fordern festen Hausschuhe…
Das ist nicht nur sinnlos, sondern auch schädlich. Das Argument mit dem Verletzungsrisiko ist nicht nachvollziehbar und auch nicht nachweisbar. In Japan gibt es Kindergärten, in denen die Kinder drinnen den ganzen Tag barfuß laufen, also auch ohne Socken und diese Kinder haben nachweislich bessere Füße.
Und wenn die Kita trotzdem auf Hausschuhen besteht?
Dann gilt das, was für alle Schuhe gilt: Sie sollten extrem leicht, weich und flexibel sein und im Großzehenraum kerzengerade. Und da finden Eltern mittlerweile einige Anbieter, die solche fußgerechten Schuhe herstellen. Mit sogenannten Barfuß-Schuhen geht der Trend seit einigen Jahren immer mehr in die gewünschte Richtung.
Termine für Kinderfußmesstage in Brandenburg: