"Pink Vader"

Datum: Montag, 03. Dezember 2012 08:10


Die Geschichte von Vater, Mutter, Kind
Gene und Gehirn haben erwiesener Maßen einen Einfluss darauf, was als typisch männlich oder typisch weiblich empfunden wird. Jedoch reichen diese zwei Faktoren nicht aus, um zu erklären, warum es diese Stereotypen gibt. Das macht vor allem ein kurzer Ausflug in die Kulturanthropologie deutlich. So gibt es zum Beispiel in Afrika Stämme, in denen es üblich ist, dass die Frauen zur Jagd gehen und die Oberhäupter des Stammes sind, während die Männer das Essen zubereiten und Körbe flechten. Geschlechterrollen werden also auch stark durch unterschiedliche historische Bedingungen im jeweiligen Kulturkreis beeinflusst.
Eng verflochten mit der Thematik der Geschlechterrollen ist das Familienbild. Beide Felder befinden sich im Wandel und bedingen sich gegenseitig. Dabei handelt es sich um relativ langwierige Prozesse. So löst sich in Deutschland und somit in unserem Kulturkreis in den vergangenen Jahren das Konzept der Kernfamilie immer mehr auf. Heute gewinnen Alternativen zur Kernfamilie wie Patchworkfamilien, Single-Eltern und Familien mit einem gleichgeschlechtlichen Elternpaar an Bedeutung. Hinzu kommen Schlagworte wie Elternzeit für Väter oder aktuelle Debatten darüber, Vätern den Zugang zum Sorgerecht zu vereinfachen. Die Liste derartiger Beispiele lässt sich beliebig weiterführen. Im traditionellen Bild der Kernfamilie wird Kindern von klein auf das „Vater-Mutter-Kind“-Prinzip vorgelebt. An der Grundlage hat sich noch nicht viel geändert. In den Kindergärten wird dieses Vorbild nachgespielt. Dabei ist es relativ gleichgültig, aus welcher Familienkonstellation die spielenden Kinder kommen. Den einzelnen Rollen „Vater“, „Mutter“ und „Kind“ werden gewisse Eigenschaften zugeschrieben. Kinder richten sich (meist) bis hin zur Pubertät vor allem an ihren Eltern aus. Hinzu kommen Erzieher und Lehrer, sowie andere erwachsene Bezugspersonen. Im frühen Jugendalter spielen auch Freunde und andere Gleichaltrige eine entscheidende Rolle für die (Geschlechts-) Identitätsbildung.
Diese Rollenzuschreibungen funktionieren ähnlich wie Klischees. Im Ausland sind die Deutschen alle lederhosentragende, biertrinkende Menschen mit Tennissocken in den Sandalen und Amerikaner sind übergewichtig. So sind eben Männer das starke und Frauen das schwache Geschlecht. Auch wenn man weiß, dass wir nicht alle Bayern sind und mehr als genügend Models aus Amerika kommen, halten sich Klischees nur zu gerne sehr hartnäckig. In Schubladen zu denken ist einfach und Gewohnheitssache. Kindern geht es da nicht anders. Sie orientieren sich ebenso an Stereotypen, das heißt was sie vorgelebt bekommen, ahmen sie mehr oder weniger nach. Erst mit der Fähigkeit komplexer Denkvorgänge und reflektiertem Handeln können Kinder sich ein eigenes Urteil darüber bilden, wie ein Männer- und ein Frauenbild sein könnte. Die Voreinstellung ist dann aber bereits im Gehirn in den erwähnten Netzwerken eingebaut.

Cover2Nicht zuletzt wegen der genannten gesellschaftlichen Veränderungen möchten viele (werdende) Eltern ihre Kinder „geschlechtsneutral“ aufziehen. Dieser Vorsatz ist aber zum Scheitern verurteilt. Der Grundsatz, seinen Kindern Entscheidungsfreiheiten und alle Entwicklungsmöglichkeiten geben zu wollen, ist an sich keine schlechte Entscheidung. Redet man aber von „typisch Junge“ und „typisch Mädchen“, handelt es sich dabei nicht um eine Entscheidung, die man zu Hause am Küchentisch trifft. Durch gesellschaftliche Einflüsse sind auch Eltern vorgeprägt. Auch Eltern haben als Kinder „Vater, Mutter, Kind“ gespielt. Auch Eltern fanden als Kinder das andere Geschlecht erst lange doof, bevor es wieder interessant wurde. Eltern stecken ebenfalls in ihren Rollenmustern fest. Wenn man diesen Kreis durchbrechen möchte, spielen ältere Bezugspersonen wie die Großeltern und auch Lehrer und Erzieher und andere eine wesentliche Rolle im Leben eines Kindes. In älteren Generationen sind naturgemäß ältere Muster stärker verankert. Soll heißen, das Familienbild und das Bild von Geschlechterrollen sind in diesen Generationen noch präsenter. Themen wie Scheidung, gleichgeschlechtliche oder offene Beziehungen und ähnliches sind für diese Generationen nahezu Tabuthemen.
Im Ergebnis haben wir heute zwar eine andere Vorstellung von „typisch Junge, typisch Mädchen“ als noch vor 50 Jahren, aber viele Einflüsse unserer Gesellschaft transportieren noch alte, traditionelle Muster. Heutzutage gibt es viele Bemühungen, überkommene Traditionen in „hausgemachten“ Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen aufzuheben. So gibt es in Politik und Wirtschaft viele Anstöße in Richtung einer Gleichbehandlung beider Geschlechter, immer mehr Mädchen schnuppern in vermeintlich typische Männerberufe hinein. Das solche Initiativen Erfolg haben, zeigt zum Beispiel das Randberliner Autohaus „Señorita Maria“, das in einer Männerdomäne mit ausschließlich weiblicher Belegschaft sehr erfolgreich arbeitet. Nicht nur Rennfahrerin Christina Surer weiß, wie man mit Autos umgeht.
Spätestens mit der Frage beim Frauenarzt „Was wird es denn?“ sind die ersten Grundlagen für die Typisierung von Geschlechtern gelegt. Ob man das möchte oder nicht, man selbst ist vorgeprägt und hat oder entwickelt bestimmte Vorstellungen davon, wie das eigene Kind werden soll. Diese Erwartungshaltung zeigt sich auch deutlich in der Namenswahl. Egal ob Junge oder Mädchen, der Name des Kindes ist in den meisten Fällen wohlüberlegt ausgesucht. Da hilft auch keine grüne oder gelbe Erstausstattung fürs Baby.
Britische Wissenschaftler haben in einem Experiment herausgefunden, wie tief verwurzelt die Geschlechterbilder sind und wie leicht Eltern sich austricksen lassen: Die Forscher steckten weibliche Babys in vermeintlich typische Jungssachen und männliche Babys in Mädchensachen. Ohne auf diesen Umstand hinzuweisen, wurden die Kinder zu Erwachsenen gebracht, die mit den Kleinen spielen sollten. Die Erwachsenen erkannten vermeintlich typische männliche Züge bei den blau gekleideten und typisch weibliche bei den rosa gekleideten Babys. Dementsprechend wählten sie das Spielzeug aus. Auch wenn die Erwachsenen sich täuschen ließen, hatten wahrscheinlich alle Spaß an der Spielstunde.

Es ist erwiesen, dass Eltern länger mit weiblichen Säuglingen sprechen und das von Ihnen das Schreien bei männlichen Säuglingen eher als ein Zeichen von Stärke interpretiert wird. Ab einem Alter von zwei bis drei Jahren nehmen Kinder die vorgelebten Unterschiede der Geschlechter wahr. Selbst in Familien mit gleichgeschlechtlichen Partnern hat es sich durchgesetzt, dass es einen „starken“ (männlichen) und einen „schwachen“ (weiblichen) Part in der Beziehung gibt. Wir sind durch Stereotypen geprägt und so auch unsere Kinder. Da es sich aber um Individuen handelt, variieren diese Vorbilder. Auch Jungs weinen, wenn sie beim Fußball kein Tor schießen und es gibt durchaus Mädchen, die Pferde doof finden, dafür aber Mathe-Asse sind. Wirft man einen Blick auf die Restaurantführer dieser Welt, fällt auf, dass nicht nur Frauen hinter den Herd gehören.
Eltern sind vor allem in den ersten Lebensjahren für Kinder die absoluten Vorbilder. Je nachdem, was Eltern vorleben oder projizieren, übernehmen Kinder oder ahmen es nach. Später kommen andere Bezugspersonen hinzu. Dann haben heutzutage anscheinend vor allem Jungen Probleme mit der Identitätsfindung. Zum einen fehlen ihnen oft männliche Bezugspersonen, sei es in der unmittelbaren Familienkonstellation oder in Kindergarten und Schule. Viele Väter sind auch schlichtweg zu wenig an der Erziehung beteiligt oder nehmen nicht die traditionelle Vaterrolle, sondern eher die des Spielkameraden ein. Die meisten Grundschullehrer und Erzieher sind weiblich. Jungen fehlt es also, im Gegensatz zu Mädchen, an Bezugspersonen. Darüber hinaus gibt es häufig Vorurteile bei den Bezugspersonen und Vorbildfiguren. Das fängt bereits bei der Ausstattung mit Spielzeug im Kindergarten an. Es gibt Bauklötzer in der einen Ecke, die sich bis zum Tisch mit den kreativen Bastelsachen in der anderen Ecke erstrecken. Der Unterricht ist oftmals recht einseitig ausgeprägt: Mathe ist für Jungs und Deutsch für Mädchen. Das beweist auch die PISA-Studie: Mädchen schneiden im Lesen durchschnittlich besser ab als ihre gleichaltrigen Mitschüler.Nicht nur Eltern, Lehrer und Erzieher sorgen für eine frühzeitige, bewusste oder unbewusste Typisierung der Geschlechter. Auch die Medien und Spielzeughersteller treiben diesen Vorgang voran. Früher gab es Bibi Blocksberg und Benjamin Blümchen. Heute gibt es Lego Star Wars und Lego Friends. Es ist zwar zu begrüßen, dass Spielzeughersteller beide Geschlechter im Visier haben. Dennoch wirkt die Einführung eines Baukastens speziell für Mädchen wie ein erzwungenes Klischee. Ähnlich war es wahrscheinlich bei der Einführung von Ken – die Puppe zu Barbie, die Puppe für Jungs. Beide Spielzeugvarianten führen nicht nur zu getrennten Spielzeugen, sie stellen gleichzeitig auch Vorbilder. Ken ist durchtrainiert und hat eine ruhige, hübsche, blonde Freundin. Die Figuren bei der Mädchenkollektion „Lego Friends“ haben hübsche Röckchen an, versuchen sich jedoch auch in Sachen Wissenschaft oder Musik. Diese Produkte spiegeln reale Entwicklungen, die auch für wissenschaftliche Auseinandersetzungen interessant sind: Mädchen und Frauen soll ein Zugang zu männlichen Domänen gewährt werden. Das Männerbild in der Spielzeugindustrie und anderen Bereichen des täglichen Lebens ist ungebrochen hart. Ja, Jungen sollen sich raufen und ihre Kräfte messen. Sie sollen männliche Vorbilder finden können. Die Situation ist paradox: In Sachen Spielzeug und Debatte haben Mädchen und Frauen viel Unterstützung. In der Realität wie dem Berufsleben oder weitestgehend voreingestellten Meinungen, sind Männer noch immer in der Vormachtstellung. Dennoch gibt es einige Bereiche, in denen sich auch das Männerbild gewandelt hat: Tokio Hotel oder David Beckham haben einen Schritt weg vom „harten Bauarbeitertyp“ hin zu mehr Selbstbestimmung, sei es auch nur äußerlich, gewagt. Für Kinder ist es dadurch aber schwerer denn je, Vorbilder außerhalb der engeren Bezugsgruppe zu finden. Einerseits existiert vielerorts und in vielen Köpfen die klassische Einteilung in das „starke“ und das „schwache“ Geschlecht. Auf der anderen Seite verläuft eine parallele Entwicklung hin zu einem Ruf nach Gleichstellung. Folgendes Beispiel verdeutlicht das Problem: in den 50er Jahren waren Frauen Hausfrauen und Männer waren die Familienernährer. Heutzutage herrscht wesentlich mehr Toleranz. Das ist eine positive Entwicklung. Mit dieser Toleranz geht Freiheit einher – ein ebenso positiver Aspekt. Mit Freiheit geht aber auch immer Unsicherheit einher. Die Unsicherheit, die richtige Entscheidung zu treffen, sich richtig zu orientieren, etc. Das betrifft sowohl Eltern als auch Kinder. In solchen Situationen ist die erste Lösung meist der Weg ins Gewohnte – in die Typisierung. Wer sich sicher durch diese Unsicherheiten hindurchschiffen kann, trifft auf andere Probleme. Denn selbst wenn man sich von Rollenklischees losgelöst hat und das für seine Kinder auch möchte, stößt man auf die Sozialisation anderer. Auch wenn man auf die Meinung anderer nichts geben möchte, will man seine Kinder auch nicht der Häme anderer aussetzen. Der Sohn will zum Ballett? Das ist weit schwerer als die Tochter zum Fußball zu schicken. Frauenfußball wird von Männern zwar nach wie vor belächelt, dennoch ist ein Belächeln weniger hämisch als der Hohn, der Ballett tanzenden Jungen oft noch entgegenschlägt.