„Schmerz gehört ab und an dazu.“
Interview mit Dr. Torsten Spranger
Dr. med. Torsten Spranger ist Facharzt für Kinder und Jugendmedizin und 1. Pressesprecher des BVKJ Bremen. Er hat schon vielen kleinen Indianern die Kriegsverletzungen behandelt.
Beginnen wir mit dem Unangenehmsten: Was waren die größten Schmerzen, die Sie selbst jemals hatten?
(Lacht) Zahnschmerzen, nach einer geplatzten Zahnwurzel.
Woran liegt es, dass Menschen die gleichen Schmerzen unterschiedlich wahrnehmen?
Es gibt Faktoren, die bei der Schmerzverarbeitung wichtig sind. Dazu gehört, dass man begreift dass und warum man Schmerzen hat und das Verständnis, dass es sich dabei um nichts schlimmes handelt. Schmerzen sind immer dann schwer zu ertragen, wenn man die Reichweite nicht abschätzen kann. Wenn man Angst haben muss, dass die Schmerzen morgen noch schlimmer sind, als heute oder eine gefährliche Krankheit dahinter steckt, ist das Empfinden schlimmer. Je kleiner Kinder sind, umso weniger verstehen sie, dass Schmerz etwas ist, das ab und an dazu gehört. Ein kleines Kind mit Mittelohrentzündung kann gar nicht verstehen, was gerade los ist und dass es vielleicht in zwei, drei Tagen wieder vorbei ist. Ein älteres Kind mit der selben Ohrenentzündung kann den Schmerz eher ertragen, da es die Aussicht auf Genesung hat und versteht, dass die Medikamente gegen das unangenehme Gefühl helfen.
Es gibt gefühlt mehr Kinder, die unter chronischen Schmerzen leiden – Ist das tatsächlich so?
Ich denke, dass es sich auch hierbei um die Schmerzverarbeitung handelt. Vor circa zwei Jahren wurde die Kindergesundheit in Deutschland im Rahmen einer Studie untersucht. Diese gibt an, dass immer mehr Schulkinder Kopfschmerzen haben. Das muss man aber isoliert von anderen Erkrankungen betrachten. Kopfschmerzen als Ausdruck von Überforderung, von Belastung in der Schule nehmen sicher zu. Eltern erleben auch Druck in ihrem Beruf und Alltag, genauso wie Zeitmangel. Alleine die Termine, die Familien in der heutigen Zeit in der Schule und außerschulisch wahrnehmen (müssen), können dazu führen, dass Schulkinder sich nur dadurch eine Auszeit nehmen können, dass ihr Körper mit Schmerzen reagiert und sie diese angeben. Für diese Schmerzen gibt es keine organischen Ursachen, sie kommen durch (Leistungs-)Druck.
Und wie verhält es sich mit anderen Schmerzen?
Andere Schmerzen haben wahrscheinlich nur gefühlt zugenommen. Viele Eltern haben nur noch ein Kind, sind deswegen unsicher und suchen häufiger einen Arzt auf. Es fehlt zunehmend ein allgemeines Krankheitsverständnis: Es gehört auch mal ein Tag Bauchschmerzen zu einer Magen-Darm-Grippe oder ein Tag Ohrenschmerzen zur Erkältung. Eltern wissen schon, dass das dazu gehört, haben aber gleichzeitig zunehmend die Sorge, dass es sich dabei um Schlimmeres handeln könnte. Die Bereitschaft selbst Hausmittel, Ruhe, Kompressen, Schmerzmittel, etc. zu verabreichen ist gesunken. Viele junge Familien haben den Anspruch direkt einen Arzt aufzusuchen und sich Hilfe von außen zu holen.
Ist es nicht besser erst mit seinem Kind einen Arzt aufzusuchen, als selbst das komplette Angebot von Schmerzmitteln durchzuprobieren?
Ganz bestimmt. Aber es schadet in keiner Weise dem Gefühl zu vertrauen: Ist mein Kind sehr krank oder ist das eine Erkältungssymptomatik, die ich mir selbst erklären kann, die ich bereits kenne und bei der ich eine gewisse Handlungssicherheit habe. Dann darf man ruhig ein paar Tage mit Hausmitteln laborieren.
Schmerzmittel sollten nicht ohne Sinn und Verstand verabreicht werden. Aber man muss sich keine Gedanken machen, dass man damit schwere Schmerzen vollständig überdeckt. Ein durchbrechender Blinddarm wird trotzdem wehtun.
Was können Eltern machen, um ihren Kindern Schmerzen etwas abzunehmen?
Eltern sollten ihren Kindern das Gefühl vermitteln, dass es sich um nichts Bedrohliches handelt. Das Kind sollte sich sicher fühlen. Außerdem sollte man sein Kind nicht alleine vor dem Fernseher parken. Die schnelle Bildfolge sorgt zwar währenddessen dafür, dass das Kind ruhig ist. Danach ist die Anspannung meist stärker. Es ist für ein Kind sicher angenehmer, wenn die Mama sich Zeit nimmt und etwas vorliest. Außerdem ist Trinken ganz wichtig. Flüssigkeit versorgt den Körper mit Durchblutung und die Schleimhäute mit Feuchtigkeit. Wenn Kinder wegen Schmerzen nicht trinken, ist das der Beginn eines Teufelskreises.
Es gibt andere Schmerzensquellen, als Krankheiten. Wie verhält man sich zum Beispiel, wenn das Kind auf dem Spielplatz auf den Kopf fällt?
Jedes Schädeltrauma bzw. jede Kopfprellung kann natürlich Auslöser für eine Gehirnerschütterung sein. Das muss man nicht immer gleich erkennen können. Deswegen hängt damit viel Unsicherheit zusammen, leider auch zurecht. Je größer die Sturzhöher und je härter der Fußboden, umso ernster muss man das nehmen. Kann man keine Prellmarke oder Beule erkennen, sinkt die Wahrscheinlichkeit einer schweren Verletzung. Schließt sie aber nicht aus. Am besten nach Hause gehen und das Kind beobachten. Wenn besorgniserregende Zeichen hinzu kommen, wie z.B. starke Kopfschmerzen oder das Kind reagiert nicht mehr richtig auf Ansprache, ist apathisch oder sollte sich sogar erbrechen, dann sollte sofort, in der Regel im Krankenhaus abgeklärt werden, ob die Gehirnerschütterung Anlass zu weiterer Sorge ist.
Außerdem können sich seelische und psychische Schmerzen auf den Körper auswirken. Ist das bei jedem so oder abhängig von der Empfindlichkeit?
Nein, das ist sicher nicht bei allen so. Die Charaktereigenschaft „empfindlich“ lässt sich nur schwer definieren. Man kann besser sagen, dass Menschen, die entweder nicht gelernt haben Ihre Gefühle auszuleben auszudrücken oder dafür zu jung sind, negative Gefühle als Schmerzen empfinden können. Klassisches Beispiel sind Bauchschmerzen von Kleinkindern, die Ausdruck von Unzufriedenheit sein können. Kinder zeigen über die Schmerzen, dass etwas nicht stimmt. Eltern sollten dabei sensibel sein. Auch wenn das Kind zunächst nicht reden möchte oder kann, wird irgendwann der Moment der Redebereitschaft kommen. Egal, wie unpassend der für Eltern kommen mag, sie sollten in genau diesem Moment zuhören und auf gar keinen Fall vertrösten.