"Hase oder Möhre?"

Datum: Freitag, 26. April 2013 13:24

"Vielfalt ist das A und O"

Interview mit Harald Seitz
Harald Seitz (44), Ernährungswissenschaftler und Pressesprecher beim aid.infodienst in Bonn. Er hat selbst drei Kinder satt bekommen.


Hallo Herr Seitz, sind Sie Selbst Vegetarier?
Nein. Ich achte aber generell auf das, was ich einkaufe und esse. Das hat für mich vor allem mit Genuss zu tun und genießen kann ich nur, wenn auch der Kopf mitspielt. Erdbeeren zu Weihnachten sind mir zum Beispiel ein Gräuel. Dasselbe gilt auch für 500 Gramm Hackfleisch für einen knappen Euro - das kann nicht sein.


Um gleich zu Beginn Streitigkeiten auszuräumen: Wie gesund ist Vegetarismus wirklich?
Die Vorteile einer vegetarischen Ernährung auf die Gesundheit sind groß. Denn wer eine abwechslungsreiche, pflanzliche Ernährung mit Milchprodukten und Eiern kombiniert, kann von einer relativ geringen Energieaufnahme und einer hohen Nährstoffdichte profitieren. Im Vergleich zum "Durchschnitts-Alles-Esser", essen die meisten Vegetarier mehr gesundheitsfördernde Lebensmittel wie Obst, Gemüse, Vollkorngetreide, Hülsenfrüchte und Nüsse. Vegetarier nehmen tendenziell weniger gesättigte Fettsäuren und Cholesterin auf, dafür aber mehr Ballaststoffe, Vitamine und Mineralstoffe.
Die Aufnahme einiger Vitamine und Mineralstoffe können bei Vegetariern allerdings unter der empfohlenen Menge liegen. Dazu gehören Vitamin D, Eisen, Jod und Zink. Diese werden aber werden auch von Mischköstlern nicht in ausreichender Menge aufgenommen. Auf die Zufuhr von Omega-3-Fettsäuren sollte zusätzlich geachtet werden. Durch eine bewusste Auswahl und Kombination pflanzlicher Lebensmittel tritt jedoch kein Mangel an diesen Nährstoffen auf. Außerdem scheint der Vegetarismus präventiv auf verschiedene Krankheiten zu wirken. Personen, die vegetarisch leben, sind seltener übergewichtig und haben ein geringeres Risiko an ernährungsbedingten Krankheiten. Dazu gehören Diabetes Mellitus, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und einige Krebsarten.
Natürlich ist das nicht allein auf den Verzicht von Fleisch und Fisch zurückzuführen. Dass viele Studien Vegetariern ein längeres und gesünderes Leben nachweisen, hat auch mit anderen Faktoren zu tun: Sie rauchen weniger und treiben mehr Sport als die meisten Mischköstler. Sie ernähren sich oft sehr bewusst und legen hohe Ansprüche an die Qualität ihrer Lebensmittel. Die Bezeichnung "vegetarisch leben" umschreibt daher einen Lebensstil, der insgesamt einen positiven Einfluss auf die Gesundheit hat.


Sollte man seine Kinder vegetarisch (oder vegan) ernähren?
Ernährungsphysiologisch ist die vegane Ernährung strittig. Theoretisch kann sie außer Vitamin B12, das nur in tierischen Lebensmitteln in nennenswerter Menge vorkommt, alle Nährstoffe bereitstellen, die ein gesunder Erwachsener braucht. Doch auch wenn Veganer die vielfältige Auswahl an pflanzlichen Lebensmitteln ausnutzen, können Nährstoffe fehlen, die hauptsächlich in tierischen Lebensmitteln vorkommen. Ein sehr genaues Wissen über die Inhaltsstoffe der Lebensmittel und den eigenen Bedarf ist dafür erforderlich. Eine Ernährungsberatung und regelmäßige ärztliche Untersuchungen helfen, einem Nährstoffmangel vorzubeugen. Supplemente sind im Bedarfsfall sinnvoll, dazu gehört definitiv Vitamin B12. Kritisch können außerdem Eisen, Jod, Vitamin D, Zink, Omega-3-Fettsäuren, Calcium, Vitamin B2 und Protein sein. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung sieht die vegane Ernährung für Schwangere, Stillende und Kinder als ungeeignet an. Das Risiko eines Nährstoffmangels und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes sind zu groß.
Bedingt durch den Verzicht auf Fleisch sollten Eltern, die auch ihr Kind vegetarisch ernähren wollen auf die Eisenversorgung achten, denn Eisen aus pflanzlichen Lebensmitteln wird weniger gut verwertet als tierisches Eisen. Vegetarier können aber viel dafür tun, dass die Aufnahme von pflanzlichem Eisen erleichtert wird: Der hohe Eisengehalt in Vollkorngetreide und Hülsenfrüchten zum Beispiel wird durch Einweichen, Keimung und Fermentierung besser ausgenutzt. Vitamin C, das gleichzeitig aufgenommen wird, hilft ebenfalls. Müsli mit Obst ist also eine gute Kombination. Zusätzliche Eisensupplemente sind nur dann notwendig, wenn vom Arzt ein Mangel festgestellt wurde. Die langkettigen Omega-3-Fettsäuren, die in der Mischkost vor allem durch Fisch aufgenommen werden, können Vegetarier durch pflanzliche Öle, wie Lein-, Walnuss- und Rapsöl bekommen. Für Vitamin D ist die Eigenproduktion in der Haut durch Sonnenlicht besonders wichtig. Vegetarier sollten daher besonders darauf achten, dass sie sich täglich mindestens 15 Minuten im Freien aufhalten. Auch für Babys ist es besonders wichtig, dass sie optimal mit allen Nährstoffen versorgt sind. Wer sich entscheidet, sein Kind von Anfang an - also nach dem Stillen - vegetarisch zu ernähren, sollte in den Anfangsbreien Vollkorngetreide verwenden. Auch bei Kleinkindern ist eine gleichzeitige Fütterung von Vitamin C-reichen Lebensmitteln sinnvoll, um das pflanzliche Eisen besser auszunutzen. Dafür wird den Breien Saft oder Obstpüree beigemischt. Ansonsten gilt für die vegetarische Kinderernährung das Gleiche wie für die nicht vegetarische. Einen guten Anhaltspunkt bildet die aid-Ernährungspyramide.


Gibt es, neben dem Vegetarismus Möglichkeiten sich umweltfreundlich und „tierlieb“ zu ernähren?
Gesamtgesellschaftlich gesehen essen wir zu viel Fleisch und Wurst. Wenn man an seiner individuellen Menge etwas schraubt, ist das schon „umweltfreundlicher“. Um nur einen guten Grund zu nennen: Treibhausgase. Die Aktivitäten, die zur Erzeugung tierischer Lebensmittel notwendig sind, verursachen 18 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen. Betrachtet man nur den Landwirtschaftssektor, ist die Viehhaltung für fast 80 Prozent der Emissionen verantwortlich. Bis ein Kilogramm Rindfleisch in der Fleischtheke angeboten werden kann, werden gut 13.000 Gramm CO2-Äquivalente emittiert, für Geflügel und Schwein etwas mehr als 3.000 Gramm. Dagegen entstehen zum Beispiel bei der Herstellung von einem Kilogramm Teigwaren nur 900 g CO2-Äquivalente und für unverarbeitetes Gemüse nur 150 Gramm. Ein guter Grund also, sich möglichst abwechslungsreich aus der Natur zu bedienen und nicht immer so viel Tierisches zu konsumieren.
Es gibt auch so genannte „Halbzeitvegetarier“, die ihren Konsum von Fleisch auf die Hälfte reduzieren. Wichtig ist, dass es dabei nicht um Verzicht geht sondern um einen bewussten Umgang mit dem, was man seinem Körper und der Umwelt zumutet. Ich muss also beim Grillabend nicht zwingend einen Paprikaspieß essen müssen, wenn mich nach einem Steak gelüstet. Es muss ja nicht fünf Mal die Woche sein.


Worauf sollte generell bei der kindlichen Ernährung geachtet werden?
Erst einmal geht es nicht um Ernährung sondern ums Essen. Das sind bereits völlig unterschiedliche Betrachtungsweisen. Während man ernährungsphysiologisch haarklein aufdröseln könnte, wie viel Nanogramm von welcher Substanz dem Körper zugeführt werden sollten, steht beim Essen viel mehr auf der Agenda. Essen ist Genuss und hat sehr viel mit sozialer Kompetenz zu tun. Da ist zum Beispiel der gemeinsame Einkauf zu nennen, die Zubereitung, das gemeinsame Essen am Tisch, die Freude zum Beispiel auf den Beginn einer bestimmten Saison (Hurra, jetzt ist bald Erdbeerzeit) und vieles mehr. Das Stichwort bei der Lebensmittelauswahl ist: Vielfalt. Fast nirgendwo auf der Welt gibt es so viel Auswahl wie bei uns. Wir nutzen jedoch nur einen Bruchteil. Ausprobieren neuer und unbekannter Gemüsesorten oder Rezeptideen macht nicht nur Spaß sondern bringt auch Abwechslung in die Küche.


Wie viel Fleisch und Gemüse ist sinnvoll? Wie viel ist zu viel?
Generell sagt man, dass im Durchschnitt täglich etwa fünf Portionen (das sind ein bis zwei Hände voll) Obst und Gemüse auf dem Speiseplan stehen sollten und etwa drei bis vier Mal Wurst und Fleisch in der Woche. Das sind nur Richtwerte, an denen man sich orientieren kann - keine rigorose Pflicht.


Ein Kind kommt in die Pubertät und entscheidet sich zu vegetarischer (oder veganer) Ernährung – wie sollten Eltern reagieren?
Ganz wichtig: Gelassen bleiben. Jugendliche und Kinder sind Menschen, die im Normalfall sehr gute Gründe für ihr Tun haben. Fragen Sie nach dem Grund oder dem Anlass. Vielleicht ist das auch ein Anstoß für die Familie, einmal neue fleischlose Rezepte auszuprobieren. Da kann man dann auch den Pubertierenden in die Pflicht nehmen, nach dem Motto: „Finde ich gut, dass Du jetzt sagst, was wir alternativ einkaufen oder kochen“. Oder man bestimmt zwei „Veganertage“ für alle Familienmitglieder in der Woche. Viele werden sich wundern, wie lecker man vegan kochen kann.


Eine Vegetarierin wird schwanger – kann sie ihren Ernährungs- und Lebensstil weiterführen oder schadet das dem Ungeborenen?
Sie können sich während der Schwangerschaft auch vegetarisch ernähren, wenn Sie bewusst auf eine abwechslungsreiche Lebensmittelauswahl achten. Auf jeden Fall sollten auch Lebensmittel tierischen Ursprungs wie Milchprodukte und Eier auf Ihrem Speiseplan stehen. Mit rund 450 Gramm Milchprodukten am Tag und zwei bis drei Eiern pro Woche ist eine ausreichende Versorgung mit Eiweiß und Vitamin B12 gewährleistet. Eine vegane Ernährung, also eine Kost ohne jegliche tierische Lebensmittel, ist in der Schwangerschaft ohne die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln (vor allem Vitamin B12) nicht zu empfehlen, da die Gefahr von gravierenden Mangelerscheinungen beim Kind besteht. Schwangere, die sich weiterhin vegan ernähren möchten, sollten auf jeden Fall eine qualifizierte Fachkraft für Ernährungsberatung hinzuziehen.


Haben Sie einen abschließenden, generellen Rat an (werdende) Eltern zum Thema?
Lassen Sie sich nicht verrückt machen. Werdende oder junge Eltern sind oft verunsichert, weil sich alle Lebensgewohnheiten zu ändern scheinen. Natürlich will man nur das Beste für den Nachwuchs. Es gibt genügend seriöse Informationen, wie zum Beispiel der Übergang von der Muttermilch zum ersten Brei gelingt. Eltern sollten sich auf ernährungswissenschaftliche Experten verlassen oder Fragen in einem seriösen Forum stellen.