Eltern können Kinder nicht vor jeder Schramme schützen, aber vor schweren Verletzungen
Interview mit Inke Ruhe, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft „Mehr Sicherheit für Kinder e.V.“. Im Gespräch erklärt sie, welcher Sicherheitsartikel in keinem Kinderhaushalt fehlen sollte, warum man schon Einjährige allein die Treppe steigen lassen sollte und warum kurze Momente des Nichtaufpassens fatale Folgen haben können.
Was ist das klassische Unfallrisiko für Kinder zu Hause, an welches werdende bzw. junge Eltern nicht denken, wenn sie ihre Wohnung einrichten?
Stürze sind die klassische Unfallart in jedem Alter. Jeder zweite Unfall ist durch einen Sturz verursacht. Nun kann man sagen: Ist ja nicht so schlimm, Kinder müssen auch mal hinfallen. Ein Kind fällt natürlich tausend Mal hin. Aber vermeiden muss man die schweren Stürze, aus denen Kinder nichts lernen und die schwere Verletzungen oder Krankenhausaufenthalte nach sich ziehen. Ein Klassiker ist der Sturz vom Wickeltisch. Eltern lassen einen Säugling auf dem Wickeltisch oder sogar nur auf einem Tisch ohne seitliche Begrenzung liegen und gehen weg. Sie denken: Das Kind bewegt sich ja noch nicht. Aber das stimmt so nicht. Das Kind strampelt, zappelt und von einem Tag auf den anderen kann es sich auch drehen. Es passiert immer wieder, dass Kinder vom Wickeltisch fallen. Unsere Präsidentin ist Kinderchirurgin und das sind die Unfälle, die sie immer wieder frustrieren, weil sie so unnötig sind. Das gleiche passiert, wenn Eltern ihr Kind auf dem Sofa oder Elternbett ablegen und es dort liegen lassen, weil sie „mal eben“ etwas erledigen müssen. Das ist zwar nicht so hoch wie der Wickeltisch, aber es reicht für eine schwere Gehirnerschütterung. Daher empfehlen wir: Beim Wickeln immer eine Hand am Kind lassen und den Wickeltisch in der Zimmerecke platzieren, so dass zumindest zwei Seiten durch die Zimmerwand gegen Herunterfallen gesichert sind. Will man das Kind kurz ablegen, so liegt es auf dem Boden sicherer als auf Möbeln.
Welche Unfallrisiken sollten Eltern noch bedenken? Ich finde das Ertrinken so fatal. Man weiß nicht, wie schnell und heimtückisch Kinder ertrinken können. Kinder ertrinken „leise“. Anders als Erwachsene strampeln und schreien sie nicht, wenn sie unter Wasser geraten. Sie gehen unter wie ein Stein und bleiben am Boden liegen. Deswegen kann es tatsächlich passieren, dass ein Kind untergeht und niemand bekommt es mit, weil alle denken, das Kind taucht oder spielt unter-Wasser-bleiben. Gerät ein Kind unter Wasser, kann dies schon innerhalb kurzer Zeit mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen verbunden sein. Das zeigt, wie wichtig Aufklärung zu dem Thema ist. Es ist ja auch verlockend sein Kind in der Badewanne nur kurz allein zu lassen und dem älteren Kind zu sagen: Pass mal kurz auf. Diese Verantwortung kann ein Kind aber auf keinen Fall übernehmen. Das heißt: Kinder im und am Wasser dürfen nie aus den Augen gelassen werden! Aber auch das Thema Ersticken: Man glaubt nicht, woran Kinder alles ersticken können. Am Nestchen, welches man am Gitterbett befestigt. Am weichen gemütlichen Kissen, mit dem man es zudeckt. Für die sichere Schlafumgebung des Kindes muss auf diese Dinge verzichtet werden. Aber auch alle kleinen Teile, deren Durchmesser kleiner als 3 cm sind, also Spielzeug, Nüsse, Magnete oder Batterien gehören nicht in die Hände von Kleinkindern.
Wenn es zu einem Unfall bzw. Notfall gekommen ist – was sollten Eltern als erstes tun?
Das wichtigste ist zunächst: Ruhe bewahren. Wenn man hektisch wird, dann wird auch das Kind hektisch und kriegt Panik. Ganz wichtig ist, dass man überhaupt reagiert und nicht untätig rumsteht. Man muss wissen, wie man helfen kann und die wichtigen Telefonnummern parat haben. Dafür sind spezielle Erste-Hilfe-Kurse für Eltern sehr sinnvoll. Eltern haben wenig Zeit, deshalb ist es manchmal schwierig, sie zu motivieren. Aber wenn sie an einem Erste-Hilfe Kurs teilnehmen, sind sie sehr dankbar und nehmen viel mit.
Erste-Hilfe-Kurse für Eltern, Sicherheitsartikel, Informationen beim Kinderarzt. Viele Unfallrisiken sind bekannt. Dennoch verunglücken jährlich 1,7 Millionen Kinder – warum?
Wir als BAG kämpfen seit mehr als 15 Jahren für dieses Thema. Es hat sich schon Vieles verbessert. Aber es passieren immer noch zu viele Unfälle. Selbst wenn Eltern die Unfallrisiken kennen, heißt das ja noch nicht, dass sie dieses Wissen umsetzen. Warum setzen sie es nicht um? Weil sie die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert für gering halten. Ein paar klassische Beispiele: Beim Grillen im Garten spielen die Kinder in der Nähe des heißen Grills mit dem Fußball. In der Weihnachtszeit sind die Kinder für einen Moment allein in der Stube mit dem Adventskranz, auf dem Kerzen brennen. Oder man lässt die Kleinen mal kurz allein in der Küche, obwohl heiße Pfannen und Töpfe auf dem Herd stehen. Und immer denkt man: Es passiert schon nichts. Es ist ein trügerisches Gefühl der Sicherheit. Vielleicht ist es auch das billigende In-Kauf-Nehmen von Unfällen, die vermeintlich nicht so schlimm sind, z.B. wenn das Kind beim Fahrradfahren keinen Helm trägt. Die Frage ist, wie man Eltern emotional erreicht. Da sagt die Forschung: Am besten wirkt das one-to-one-Gespräch mit Demonstration, also mit vorführen: So macht man es richtig. Am besten durch eine glaubhafte Person, wie ein Arzt. Aber das ist natürlich ein erheblicher Aufwand, der kaum umsetzbar ist.
Können und müssen Eltern vor allen Risiken schützen?
Nein, wir alle lernen aus Erfahrungen. Ich kann Kompetenz nur entwickeln, wenn ich mich selbst mit ungewöhnlichen Situationen auseinander setzen kann. Insofern ist es ganz wichtig, dass das Kind die Möglichkeit bekommt, sich zu erproben, Dinge auszuprobieren, Situationen durchzuspielen. Aber als Eltern muss ich versuchen solche Rahmenbedingungen zu schaffen, die die vorhandenen Risiken kalkulierbar machen. Defekte oder schlecht gewartete oder ungünstig aufgestellte Spielgeräte, nicht verankerte Klettergerüste oder Fußballtore sind für Kinder nicht kalkulierbare Risiken. Davor muss ich als Erwachsener es schützen. Den Umgang mit rutschigem Boden, das Hüpfen von Stein zu Stein oder das Klettern in die Höhe sind Risiken, mit denen sich das Kind auseinander setzen muss. Es ist wichtig, dass Kinder Risikokompetenz erlernen, dass man ihnen viel Zeit zum Üben gibt.
Es gibt mittlerweile sehr viele Sicherheitsartikel für ein kindersicheres Zuhause – welche gehören in jeden Familienhaushalt und auf welche kann man verzichten?
Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Es kommt einerseits auf die Bedingungen vor Ort an – gibt es z.B. eine steile Treppe? – und auf das Sicherheitsbedürfnis der Eltern. Brauche ich ein Herdschutzgitter oder nicht? Habe ich das Gefühl, dass ich das im Blick habe oder nicht? Sicherheitsartikel sind wichtige Unterstützer, die den Alltag erleichtern können, aber sie sprechen einen nicht frei von der Aufsichtspflicht. Denn auch wenn das Kind durch die Sicherheitsartikel nicht so leicht an den Herd rankommt oder das Fenster nicht von allein öffnen kann, entbindet mich als Eltern das nicht davon, auf das Kind zu achten. Steckdosensicherungen finde ich aber für jeden Kinderhaushalt empfehlenswert, zumal diese wenig kosten. Dann sollten Eltern aber auch bedenken, wirklich alle Steckdosen in der Wohnung zu sichern einschließlich Mehrfachstecker und Verlängerungskabeln. Gut sind Mehrfachstecker mit eingebauter Kindersicherung. Wer eine Treppe im Wohnbereich hat, sollte auch über ein Treppenschutzgitter verfügen. Mindestens genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger finde ich, mit kleinen Kindern von Anfang an das Treppen steigen zu üben. Und zwar nicht an der Hand, sondern krabbelnd. Runter rücklings mit den Füßen zuerst. Dann kann das Kind höchstens ein Stück runtergleiten, aber die Fallhöhe ist gering, es kann nicht viel passieren. Das wäre mir noch wichtiger als ein Schutzgitter. Denn irgendwann steht das Gitter doch mal auf oder das Kind ist bei jemandem zu Besuch, wo eine ungesicherte Treppe ist und dann ist es gut, wenn es das Treppensteigen bereits beherrscht.