Digitale Medien schaden der Bildung
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer studierte Medizin, Psychologie und Philosophie. Seine Tätigkeit als Oberarzt an der psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg und Forschungsaufenthalte in den USA prägten das weitere wissenschaftliche Werk an der Schnittstelle von Neurobiologie, Psychologie und Psychiatrie. Seit 1997 ist er Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. Er sagt: Smartphones machen Eltern und Kinder gleichermaßen süchtig und haben negative Auswirkungen auf Kindheit, Lernen und Familienleben.
Smartphones und Tablets werden erst seit einigen Jahren sehr intensiv genutzt. Lässt sich überhaupt schon beurteilen, ob und welche Langzeitfolgen das auf Heranwachsende hat?
Die gibt es durchaus bereits. Smartphones verursachen Kurzsichtigkeit, Angst, Depression, Demenz, Aufmerksamkeitsstörungen, Schlafstörungen, Bewegungsmangel, Übergewicht, Haltungsschäden, Diabetes, Bluthochdruck und ein erhöhtes Risikoverhalten beim Geschlechts- und Straßenverkehr: Die Nutzung von sogenannten Geo-social Networking Apps fördert täglich millionenfachen Gelegenheitssex und damit eben auch die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten. Was den Straßenverkehr anbelangt, so wissen die Wenigsten, dass Smartphones mittlerweile bei jüngeren Verkehrsteilnehmern den Alkohol als Unfallursache Nummer 1 abgelöst haben.
Gibt es belastbare Aussagen dazu, mit welchen körperlichen Veränderungen die intensive Nutzung digitaler Medien einhergeht?
Sämtliche gerade genannten Aussagen sind mit medizinisch-wissenschaftlichen Studien belegt.
Wie verändern digitale Medien das Sozialverhalten von Kindern?
Sie bewirken einen Verlust von Vertrauen und Empathie. Da sie auch Ängste und Depressionen verursachen, ist es ein Märchen, dass sie unser Sozialleben bereichern. Das Gegenteil ist der Fall.
Wie haben digitale Medien in den vergangenen zehn Jahren das Familienleben verändert?
Sehr zum Nachteil: Man redet weniger miteinander, es herrscht mehr Misstrauen, Angst und Depressivität. Alle stöhnen, dass sie keine Zeit mehr haben, und alle verbringen ihre Zeit vor dem kleinen Bildschirmchen des Smartphones, nach dem viele schon süchtig sind – Eltern wie Kinder.
Die Empfehlungen zur Mediennutzung von Kindern variieren stark. Wie finden Eltern verlässlich Orientierung, die zugleich der Realität in Schulen und Kinderzimmern gerecht wird?
Ich finde dieses Gerede von „der Realität“ sehr fragwürdig: Smartphones und Spielkonsolen fallen ja nicht wie der Regen vom Himmel! Wir kaufen sie, mit privatem und (im Rahmen des Digitalpakts) öffentlichem Geld. Und der Grund dafür ist, dass uns ständig Angst gemacht wird davor, unsere Kinder könnten „abgehängt“ werden. Fakt hingegen ist: wer digitale Medien zu viel nutzt, dessen Bildung und Gesundheit leidet und der wird daher auch langfristig „abgehängt“ sein. Das müssen Eltern wissen.
Je älter der Nachwuchs wird, desto mehr Zeit verbringt er vor dem Bildschirm. Eltern sorgen sich dann um fehlende analoge bzw. reale Erfahrungen. Ist diese Sorge berechtigt?
Ja! Der Aktionsradius von Kindern beträgt heute nur noch zehn Prozent dessen, was er vor 30 Jahren einmal war. Früher streunte man in der Umgebung herum und lernte sie kennen. Das gibt es heute nicht mehr. Die Folgen sind Bewegungsmangel, aber auch geringeres praktisches Wissen.
Mit dem kürzlich beschlossenen Digitalpakt werden digitale Medien zunehmend in die Schulen einziehen – ist das aus Ihrer Sicht der richtige Weg?
Definitiv nicht! Bereits 2012 wurden im Fachblatt Science wissenschaftliche Arbeiten publiziert, die zeigen, dass (1) mit E-Büchern weniger gelernt wird als mit Büchern und dass (2) digitale Suchmaschinen wie Google zu weniger Lernen führen als die bisher verwendeten Quellen, d.h. Zeitungen, Zeitschriften und vor allem Bücher. Eine Metaanalyse über Daten vieler Studien zum Vergleich des Lesens von Bildschirmen mit dem Lesen von Büchern kam zu dem klaren Ergebnis, dass von Büchern deutlich mehr gelernt wird. Mitschreiben führt zu mehr Lernen als das Mit-Tippen, und das Smartphone auf dem Schreibtisch reduziert den IQ – etwa um die Größenordnung der Differenz zwischen IQ-Durchschnitt am Gymnasium und an der Realschule. Beim Unterricht mit Laptop und Internet – so eine US-amerikanische Untersuchung – wird im Durchschnitt ein volles Drittel der Unterrichtszeit mit Social Media, Einkaufen, Chatten, Sportnachrichten, Videos und Computerspielen verbracht: je mehr, desto schlechter sind am Ende die Noten.
Was wäre wichtig, damit die digitale Technik, wenn sie einmal angeschafft ist, im Unterricht auch sinnvoll genutzt wird?
Es macht keinen Sinn, erst Technik anzuschaffen und dann zu überlegen, was man damit machen könnte. Ein solches Vorgehen ist verantwortungslos und Geldverschwendung zugleich!
Über die Auswirkungen digitaler Medien auf Heranwachsende diskutieren in der Fachwelt v.a. Medien- und Kommunikationswissenschaftler. Wären nicht auch Erkenntnisse von anderen Disziplinen wie Psychologie, Neurologie und Soziologie wichtig?
Ja. Medienwissenschaftler sind oft nicht unabhängig von Medien (ihr Job wird vielleicht von Medien bezahlt, oder sie erhalten Forschungsmittel von Medien). Nur so lässt sich beispielsweise verstehen, warum wir einen Digitalpakt Schule haben, der dem Lernen von Schülern nachweislich schadet.
Sie haben vor einigen Jahren den Begriff der digitalen Demenz geprägt. Lässt sich denn mittlerweile sagen, ob die digitalen Medien tatsächlich zu einem frühen geistigen Verfall führen?
Mein Argument ist ganz einfach: Digitale Medien schaden der Bildung. Das ist nachgewiesen. Der beste Schutzfaktor gegenüber der Entwicklung einer Demenz im Alter ist die in Kindheit und Jugend erreichte Bildung eines Menschen. Auch dies ist weithin bekannt. Aus beiden Erkenntnissen ergibt sich zwangsläufig das, was ich digitale Demenz genannt habe.