Titelthema :: Seite 30
Gesten und der Körpersprache eines menschlichen
Gegenübers. Die reale Erfahrung und der Umgang
mit der Umwelt bringen die stärksten Lerneffekte
mit sich. Das bloße Zuschauen bewirkt vergleichs-
weise sehr wenig. Es hat nichts mit einer vertieften,
realen Erfahrung zu tun, sondern bleibt eher ein
oberflächliches Dahinplätschern. Deshalb ist Fern-
sehen für Kinder bis 3 Jahren auch eine sinnlose
Beschäftigung, wenn es um Lerneffekte geht. Ganz
im Gegenteil fehlt vor dem TV geparkten Kleinkin-
dern die Bindung zu Eltern und zu einem sozialen
Umfeld. Heute ist längst klar, dass die Teletubbies
und andere TV-Konzepte für Kleinstkinder bei je-
nen, die sie reichlich konsumierten, viel nachhal-
tigen Schaden angerichtet haben.
Auch in der späteren Entwicklung von Kindern
macht die Konzentration auf und die Vertiefung in
eine Erfahrung den entscheidenden Unterschied.
Das menschliche Gehirn verändert sich insbeson-
dere in den ersten Lebensjahren enorm, seine Ent-
wicklung ist am Ende der Pubertät mit etwa 17 Jah-
ren abgeschlossen. Den Rest des Lebens müssen
wir im Grunde mit dem auskommen, was sich bis
dahin an Leistungsfähigkeit und Strukturen entwi-
ckelt hat. Im kindlichen Gehirn bilden sich durch
Erfahrungen und Lernprozesse Milliarden von
Verbindungen zwischen Nervenzellen, die nicht
nur das Wissen, sondern die gesamte Persönlich-
keit eines Menschen formen. Diese Verbindungen
machen unsere Fähigkeit zur Verarbeitung von
Wissen aus und entscheiden, wie gut wir denken
können. Abgesehen vom geringeren Einfluss erb-
lich bedingter, genetischer Faktoren machen uns
die gesammelten Erfahrungen unserer Kindheit
also zu dem, was wir später als Erwachsene sein
können.
Auf den ersten Blick scheint da die Medienflut
eine dankbare Quelle für viele Informationen und
eine vielseitige Entwicklung unserer Kinder. Lei-
der verhält es sich anders. Vereinfacht dargestellt,
entwickeln sich durch bestimmte Erfahrungen im
Gehirn bestimmte Spuren. Dabei kommt es auf die
Erfahrungstiefe an, wie deutlich diese Spuren aus-
geprägt werden. Je tiefer die Erfahrung, desto tiefer
die Spuren und desto stärker die Kernkompeten-
zen in diesen Bereichen. Bestimmend ist im Klein-
kindalter die Sprachkompetenz, später die Lese-
und Schreibkompetenz. Verfügen Kinder in den
ersten Jahren in diesen Bereichen über viele Erfah-
rungen, entstehen in den zuständigen Bereichen
des Gehirns mehr Verknüpfungen, also „tiefere“
Spuren. Spätestens zur Pubertät, in der sich das
Gehirn vor dem Erwachsenwerden sozusagen neu
formatiert, werden diese tiefen Spuren zu Daten-
autobahnen ausgebaut, während weniger benö-
tigte Verknüpfungen entsprechend vernachlässigt
werden. Wer als Kind eine gute Sprach-, Lese- und
Schreibkompetenz erworben hat, profitiert durch
Strukturen des Gehirns dann also ein Leben lang,
er hat eine gewisse „geistige Höhe“ erreicht. Wer
mit Abschluss der Pubertät hingegen über weniger
vertiefte Erfahrungen, somit weniger Verknüp-
fungen zwischen Nervenzellen und weniger leis-
tungsfähige Nervenbahnen im Gehirn verfügt, der
wird es später im Leben mit dem Lernen und vielen
anderen anspruchsvollen Tätigkeiten schwerer ha-
ben. Der wird bei abnehmender Hirnaktivität und
dem zwangsläufigen Absterben der Nervenzellen
im Alter aber auch schneller an Auswirkungen wie
der Altersdemenz leiden. Er steigt dann einfach
von der geringeren geistigen Höhe schneller ab.
In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff
„Digitale Demenz“ geprägt.
Der Zusammenhang ist denkbar einfach. Digitale
Medien verhindern in der Kindheit oft die wichti-
gen vertieften Erfahrungen, sie führen zu weniger
tiefen Spuren und einer geringeren geistigen Höhe.
Wenn sich Kinder mit digitalen Medien beschäf-
tigen, können sie sich zwar stundenlang in Spiel-
welten verlieren, die Erfahrung ist und bleibt aber
oberflächlicher Natur. Kinder können dann zwar
hervorragend mit digitalen Bildschirmgeräten
und Spielekonsolen umgehen, eine ausgeprägte
Sprach, Lese- und Schreibkompetenz bleibt dabei
aber auf der Strecke. Die Folgen reichen bis zur
deutlichen Verkürzung eines selbstbestimmten
Lebens. Wer dieses Thema vertiefen möchte, dem
möchten wir auch unseren Beitrag zum Thema
„Lesen“ (siehe Kasten rechts) empfehlen.
Die veränderte Mediennutzung
Die Digitalisierung der Medienwelt ist ein beständi-
ger Prozess, der uns meist unterbewusst begleitet.
Wie stark sich das Nutzungsverhalten der Medien
und damit das gesamte Freizeitverhalten der Kin-
der im Vergleich zum analogen Zeitalter vor gerade
einmal 25 Jahren geändert hat, zeigen Studien über